Ein Familiengemälde in einem fürstlichen Hause von Friedrich Schiller · 14+
Schwäbisches Tagblatt, 30. September 2024
Der kluge Philanthrop im Wahn der Zeit
(von Peter Ertle)
Wenn Regisseurin Sophia Aurich und Bühnenbildnerin Martina Pinsker zusammenarbeiten, kann man sich auf ein spannendes, vielgestaltig verschachteltes und verschiebbares Bühnenbildhaus einstellen, dessen Innenleben teils in verwirrenden Brechungen per Kamera nach außen projiziert wird. So war es bei „Das große Heft“. So ist es nun wieder bei Schillers Don Karlos.
Reutlinger General-Anzeiger, 30. September 2024
Wie war das noch mit Sturm und Drang? Schillers »Don Karlos« am LTT
(von Thomas Morawitzky)
»Don Karlos« ist, im großen Saal des LTT und mit einer Spielzeit von gut drei Stunden, ein fordernder Einstieg in die neue Spielzeit, [...] dank der konzentrierten Regie und der wunderbaren Schauspieler aber sehenswert und spannend bis zuletzt.
Das Landestheater Tübingen spielt Friedrich Schillers »Don Karlos« in einer Inszenierung der Berliner Regisseurin Sophia Aurich. Diese bricht den historischen Rahmen des Stücks immer wieder komisch und trocken auf.
Das königliche Schloss Aranjuez ist auf der Bühne des Landestheaters Tübingen ein großer, dunkler Metall-Silo, noch geschlossen, über den Bildern hinweghuschen, Gesichter, Stimmen. Das Bühnenbild, das Martha Pinsker für Friedrich Schillers »Don Karlos« schuf, ist ambivalent, von Anbeginn: Das schwere Metallgehäuse wird sich drehen, öffnen, das Innere des Palastes preisgeben; es wird sich wieder schließen, und König Philipp II. sitzt dann obenauf, ein unnahbarer Herrscher. Zur Seite stehen Palmen, wie ausgeschnitten. Ein Licht lässt diesen Bau zu einem tiefblau schimmernden Märchenschloss werden, ein anderes zu einem Käfig, einem dunklen und bedrohlichen Monument.
Das Sounddesign tut das Seinige: Hier türmt sich elektronischer Klang mit dramatischer Wucht auf, gibt vielen Szenen einen latent bedrohlichen Charakter. Tritt der Herzog von Alba auf, scheinen dunkle, rhythmische Schläge Gefahr zu signalisieren. Friederike Bernhardt und Johannes Cotta kreierten den sinistren Soundtrack, der dem Spiel viel Kraft gibt, einige Zuschauer jedoch abschreckt: Vor der Bühne wird mitunter darüber geklagt, die Dialoge seien nicht zu verstehen.
Don Karlos erscheint als erster vor dem Schloss, mit ihm Domingo, Beichtvater des Königs, Vertreter der Inquisition. Don Karlos hat ein Problem, das man groß nennen könnte, wären die Probleme des Königreichs nicht tausendmal größer: Er ist verliebt. Und zwar in seine Mutter. Das ist weit weniger ödipal, als es klingt, handelt es sich doch um seine Stiefmutter. Als Karlos für Elisabeth von Valois entflammte, war sie noch unverheiratet, nun gehört sie seinem Vater, aber die Gefühle des Sohnes haben sich nicht geändert. Es entspinnt sich ein Versteckspiel, ein Hin und Her der kompromittierenden Briefe, der Intrigen.
Lucas Riedle spielt den Don Karlos vollkommen jugendlich, hitzig, ungestüm und unvorbereitet auf die Rolle, die ihn politisch erwartet; Rolf Kindermann, als sein Gegenpart, der König, Vater, wirkt oft unwirsch, getrieben, verbittert, Insa Jebens als Königin klar und bestimmt. Der Marquis von Posa, Don Karlos' idealistischer Jugendfreund, wird von Jürgen Herold gespielt; die Beziehung zwischen beiden scheint eng, fast erotisch aufgeladen. Gilbert Mieroph, ein Kruzifix auf seiner Wange, umkreist als Domingo das Geschehen. Robi Tissi Graf spielt die Prinzessin von Eboli als arglose Intrigantin, die zuletzt vor der Katastrophe, die sie heraufbeschwor, erschrickt. Und Solveig Eger als Alba ist immerzu höfisch und vielleicht gefährlich.
Friedrich Schillers Drama schildert zwischenmenschliche Konflikte vor historisch bedeutsamer Kulisse und fragt natürlich danach, wie das eine sich im anderen abbildet. Sophia Aurichs Tübinger Inszenierung fragt zudem, schon fast zurückhaltend, danach, wie Gegenwart und Geschichte sich zueinander verhalten, welche Schatten hier in die Zukunft geworfen werden. Erst zuletzt rücken die großen Zusammenhänge in den Mittelpunkt, und das Spiel endet, wiederum als Projektion, mit den Bildern von Truppen, Stahlhelmen, einem Weltkriegsszenario des 20. Jahrhunderts.
Don Karlos – die Geschichtsstunde ist im Programmheft enthalten – spielt im Jahr 1568; Philipp II., König von Spanien, ist der mächtigste Mann der Welt, über seinem Reich geht die Sonne nicht unter, aber es wird bald zerbrechen. Schiller schrieb das Stück rund 200 Jahre später, am Vorabend der Französischen Revolution; der Marquis von Posa ist ein Agent der Veränderung, spricht vom Ende der Monarchie, könnte Schillers Sprachrohr sein.
Schillers Text wird sehr dramatisch und genau gespielt, die Figuren in ihrer Leidenschaft und ihrem Ringen ganz ernst genommen – aber dennoch bricht Sophia Aurich den historischen Rahmen immer wieder komisch und trocken auf – da stimmt Prinzessin Eboli einen Popsong an, setzt sich dann auf die Bühne, um sich eine Zigarette zu drehen, da schimpft ein Darsteller plötzlich, vom Drama geplagt, los: »Dieser ganze Sturm-und-Drang-Scheiß!« Ein Brief, den Rolf Kindermann entrollt, weit oben, ist ein langes, weißes Laken, und Insa Jebens, die Königin, sucht nicht nur einmal verzweifelt nach ihrer Perlenperücke, sondern zitiert, sich fleißig schminkend, wiederum auf den geschlossenen Silo projiziert, einen Text der britischen feministischen Bloggerin Laurie Penny, die scharf kritisiert, wie die Liebe, als Begriff, instrumentalisiert, gefoltert und getötet werde.
Zuletzt ist das Innere des Schlosses eine verwüstete Partyzone, tragen die Spieler Hütchen, hängen Luftballons in der Luft. Aber die Party, natürlich, ist vorbei. »Don Karlos« ist, im großen Saal des LTT und mit einer Spielzeit von gut drei Stunden, ein fordernder Einstieg in die neue Spielzeit, schwer durchschaubar, finster und bedeutsam, dank der konzentrierten Regie und der wunderbaren Schauspieler aber sehenswert und spannend bis zuletzt.