Ein theatraler Gang durch die jüdische Geschichte Tübingens
Schwäbisches Tagblatt, 9. Juli 2024
Wie Unsichtbares sichtbar wird
(von Moritz Siebert)
Mit Tablet und Kopfhörer führt das LTT durch die von Antisemitismus geprägte Geschichte jüdischen Lebens in Tübingen. Es geht um die Frage, was man hätte tun können. Aber auch: Was kann man tun?
Gustav Lion riss die Boykottplakate runter. Wie bei anderen jüdischen Geschäftsinhabern hatten SA-Männer im April 1933 auch an seinem Laden in der Neckargasse 4 Plakate mit der Aufschrift „Kauft nicht bei Juden!“ angebracht. Gustav Lion floh 1934, zunächst ins Elsass, später nach Palästina. Seinen Textilwarenladen hatte er nur wenige Jahre davor gegründet. Heute ist in dem Haus ein Handyshop.
In einem theatralen Rundgang führt das LTT in Kooperation mit dem Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen durch die Geschichte des jüdischen Lebens in der Stadt. Konzept und Idee für „Lebendige Stolpersteine“ stammen von der in Deutschland lebenden israelischen Regisseurin Sapir Heller. Start ist am Synagogenplatz: Der Rabbiner (Franziska Beyer) führt seine Gäste durch die 1882 eröffnete Synagoge, präsentiert stolz die Fassade, die Decke, den Blick ins Universum, den Blick nach Osten auf den Toraschrein. Es muss, das ist bekannt, bei der Vorstellung bleiben. Anstelle der Synagoge steht in der Gartenstraße heute ein Denkmal. Etwas erlebbar machen, das nicht mehr sichtbar ist, das nicht existiert, darum geht es beim Rundgang. In Tübingen gibt es nur rund 40 Menschen, die einer jüdischen Gemeinde angehören.
Der Rundgang gibt anhand einzelner Personen und Situationen Einblick in die Geschichte der Juden in Tübingen. Raum, einzelne Geschichten zu vertiefen, bleibt im Konzept allerdings nicht. Aufgearbeitet ist der Rundgang multimedial. Die Projektpartner haben dafür mit Studierenden der Medienwissenschaften sowie der Digital Humanities der Uni Tübingen zusammengearbeitet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden mit Tablet und Kopfhörer ausgestattet. Die Geräte liefern Infos auf den Strecken zwischen den Stationen, sind aber auch an den Stationen im Einsatz und bieten Hintergrund.
„Lebendige Stolpersteine“ führt zu den frühesten Zeugnissen jüdischen Lebens in Tübingen ins Jahr 1335 in die Judengasse. Die Gründung der Universität und deren Umstände werden beleuchtet: Als Bedingung ließ Graf Eberhard Jüdinnen und Juden aus der Stadt vertreiben. In der Neuen Straße trifft die Gruppe auf eine Witwe (Sabine Weithöner), die eine offene Rechnung mit sich trägt. Die Geschichte des Anwalts Simon Hayum, der bis 1933 im Tübinger Gemeinderat saß, wird erlebbar am Rathaus. In der Kronenstraße 6 bietet Herrenausstatter Leopold Hirsch (Dennis Junge) Waren feil: Im Jahr 1850 erlangte er nach mehreren Anträgen das Bürgerrecht – und wurde der erste jüdische Bürger der Stadt nach 400 Jahren. Hirschs Geschäft blieb in Familienhand – bis 1938.
Die letzte Station auf der Neckarinsel mit Blick auf das Verlagsgebäude des Schwäbischen Tagblatts erinnert an Albert Weil, Verleger der Tübinger Chronik, der Ende der 1920er Jahre in die Schweiz emigrierte. Dennis Junge und Jennifer Kornprobst stellen hier das berühmte Interview von 1964 mit Hannah Arendt nach, das hochaktuell ist, mit dem Ort aber nicht direkt zu tun hat.
Die Zuschauer werden selbst Teil des Konzepts. Sie können mit dem Tablet unterwegs fotografische Eindrücke sammeln, die am Ende an einer Wand im LTT präsentiert werden sollen. Sie nehmen an Umfragen teil und sind somit ständig mit der Frage konfrontiert, wie sie in welcher Situation selbst reagiert hätten. Boykottplakate abreißen oder ignorieren? Eine 30 Prozent-Quote für jüdische Mitglieder im Gemeinderat oder – die Kompromissvariante – eine etwas niedrigere Quote, dafür ein Denkmal?
Antrag angenommen: Die Bürgermeisterin (Jennifer Kornprobst) verkündet das Ergebnis vom Rathausbalkon. Außerdem soll es als „gelebte Wiedergutmachung“ koscheres Essen in Schulkantinen geben, ein christlicher wird durch einen jüdischen Feiertag ersetzt.
Die Frage, was hätte ich tun können, geht nicht ohne die Frage: Was kann ich tun? Das betrifft den Umgang mit Erinnerungskultur – auch angesichts zunehmender antisemitischer Anfeindungen gegen Juden im Land. Das Stück versucht, an die Gegenwart anzubinden, nicht bloß über die permanente Vergegenwärtigung der erschreckenden Tatsache, dass jüdisches Leben nur per digitaler Rekonstruktion sichtbar wird. Wie komplex und facettenreich die Frage aber ist, zeigen Szenen wie die erwähnte am Rathaus. Oder diese: Als die Teilnehmer des Rundgangs abstimmen sollen, ob nun Leopold Hirsch das Bürgerrecht erhalten soll, lässt die Inszenierung einen jungen Mann (Immanuel Krehl) dazwischenfunken, der sich lautstark über die Abstimmung beklagt und den Vergleich zur Gegenwart zieht: Angesichts der Wohnungsnot könne man doch heute auch nicht einfach jeden aufnehmen. Auch die Debatte um den Antisemiten Graf Eberhard, ob er als Namensgeber einer Universität würdig ist und ob mit einer Umbenennung Geschichte nicht getilgt worden wäre, streift das Stück. Wertvoll ist es auf jeden Fall, die Geschichten hinter den Stolpersteinen, die sonst, nur mit Namen und wenig Information über Biografien versehen, wenig Aufmerksamkeit haben, lebendig zu machen. Deutlich wird aber auch, dass es mit Stolpersteinen allein nicht getan ist.
Reutlinger General-Anzeiger, 9. Juli 2024
(von Thomas Morawitzky)
Sapir Heller hat für das LTT einen theatralen Spaziergang durch die jüdische Geschichte Tübingens inszeniert
Nachtkritik.de, 8. Juli 2024
(von Steffen Becker)
In Tübingen fühlt sich nur noch eine Handvoll Menschen der jüdischen Gemeinde zugehörig. Einst war das anders. Regisseurin Sapir Heller lässt mithilfe von Augmented Reality und Tablets auf einem theatralen Spaziergang die jüdische Geschichte der Stadt lebendig werden.
cul-tu-re.de, 8. Juli 2024
(von Martin Bernklau)
„Lebendige Stolpersteine“ – ein Theaterspaziergang durch die Tübinger Altstadt widmete sich der lokalen jüdischen Geschichte und Leidensgeschichte