Ein theatraler Gang durch die jüdische Geschichte Tübingens
Schwäbisches Tagblatt, 9. Juli 2024
Wie Unsichtbares sichtbar wird
(von Moritz Siebert)
Mit Tablet und Kopfhörer führt das LTT durch die von Antisemitismus geprägte Geschichte jüdischen Lebens in Tübingen. Es geht um die Frage, was man hätte tun können. Aber auch: Was kann man tun?
Reutlinger General-Anzeiger, 9. Juli 2024
(von Thomas Morawitzky)
Sapir Heller hat für das LTT einen theatralen Spaziergang durch die jüdische Geschichte Tübingens inszeniert
Nachtkritik.de, 8. Juli 2024
(von Steffen Becker)
In Tübingen fühlt sich nur noch eine Handvoll Menschen der jüdischen Gemeinde zugehörig. Einst war das anders. Regisseurin Sapir Heller lässt mithilfe von Augmented Reality und Tablets auf einem theatralen Spaziergang die jüdische Geschichte der Stadt lebendig werden.
cul-tu-re.de, 8. Juli 2024
(von Martin Bernklau)
„Lebendige Stolpersteine“ – ein Theaterspaziergang durch die Tübinger Altstadt widmete sich der lokalen jüdischen Geschichte und Leidensgeschichte
Nirgendwo anders hätte er beginnen können, der theatralische Stadtspaziergang „Lebendige Stolpersteine“ des LTT, der am Sonntagabend Premiere hatte: am Platz der Alten Synagoge, wo zum Gedenken ein rostiger Kubus steht und eine Rinnsal mit den eingravierten Namen der ermordeten oder emigrierten Tübinger Juden vom Brunnen herabläuft. Die multimediale Stadtführung mit professionellen szenischen Einlagen unter der Regie von Sapir Heller bot einen besonderen Service und hatte darin ihren Haken: die avancierte interaktive Technik.
Rund 50 Tablets und Kopfhörer mussten an die Premierenbesucher ausgegeben und erklärt werden, bevor Franziska Beyer als Rabbinerin und Vorsängerin im blutroten Kleid etwas von ihrer einstigen Gemeinde erzählen, ein liturgisches Lied anstimmen und dann eine imaginäre Besichtigung der Synagoge beginnen konnte, die 1882 in der Gartenstraße erbaut und in der „Kristallnacht“ des 9. November 1938 von einem SA-Mob geplündert und niedergebrannt worden war. Die Ruinen wurden bald darauf abgerissen, auf Kosten der Geschädigten.
Die kleine Filialgemeinde hatte (mit den Rottenburger Juden) nach der Machtergreifung der Nazis noch 77 Mitglieder, von denen 14 ermordet wurden und zwei den Freitod wählten. Es gibt zu ihrem Gedenken 108 Stolpersteine in Tübingen. Heute leben wieder rund 40 Juden in der Stadt, die sich religiös der Reutlinger Gemeinde zurechnen. Auf dem Weg in die Altstadt erfuhren die Spaziergänger auch davon, dass Tübingen und vor allem seine Universität – sie erklärte sich als erste deutsche Hochschule für „judenfrei“ – ein frühes und besonders fanatisiertes Zentrum des nationalsozialistischen Judenhasses und Rassenwahns war. Die Liste der Tübinger Kriegsverbrecher und Massenmörder – fast lauter Akademiker, oft Juristen – ist erschreckend lang.
Seit dem Jahr 1337 ist jüdisches Leben in Tübingen dokumentiert, erfuhr man. Um diese Zeit gab es hinter dem Rathaus die Judengasse, die bis heute so heißt, und deren mittelalterliche Geschichte Franziska Beyer dort später im eleganten engelhaften Kleid (Raumgestaltung und Kostüme: Sarah Elena Kratzl) beleuchtete: Nach mehreren Pogromen zur Pestzeit wurden fast alle Tübinger Juden 1456 aus der Stadt vertrieben, Graf Eberhard im Bart wies sie 1477 im Jahr seiner Universitätsgründung endgültig aus. Vor ein paar Jahren scheiterte die Initiative knapp, deswegen den Namen der Uni zu ändern. Solche Infos konnte die Spaziergänger auch durch Abscannen von Plakaten auf ihr Tablet holen.
Zunächst aber teilte sich die Gruppe in der Neckargasse, wo sich bald nach Hitlers Machtantritt vorn am Neckartor die Antisemiten im früh schon „judenfreien“ Tanzcafé „Pomona“ trafen und etwas oberhalb der Geschäftsmann Gustav Lion seinen Laden hatte und tapfer immer wieder die Plakate abriss, die zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen. Oben an der Stiftskirchenmauer gab Stephan Weber Lieder zur Gitarre und ließ per Tablet abstimmen, ob man genauso gehandelt oder die Hetze ignoriert hätte.
Enteignet und vertrieben wurden oben am Holzmarkt auch die Familie von Jakob Oppenheim, dem jüdischen Gemeindevorsteher und Geschäftsführer des Bekleidungshauses Degginger. Das erste Haus am Platz wurde zum Modehaus Haidt „arisiert“. Heute beherbergt es „New Yorker“, dessen Signet auf den Tablets zu „Jew Yorker“ umgestylt wurde.
Im oberhalb und außerhalb der Stadt gelegenen Härtenort Wankheim hatten sich nach 400 Jahren schon wieder ein paar jüdische Familien angesiedelt, als im Jahr 1850 Leopold Hirsch das Tübinger Bürgerrecht beantragte. Zweimal wurde es vom Gemeinderat abgelehnt, beim dritten Versuch von der königlich-württembergischen Landesherrschaft in Stuttgart aus genehmigt. In der Kronengasse 6, wo sechs Stolpersteine im Pflaster verlegt sind, die an die nach Südafrika geflüchtete Familie erinnern, hatten Leopold Hirsch und seine Nachfahren ihr Geschäft.
Dort gab es einen Zwischenfall: Ein Bewohner im Obergeschoss des baufälligen Hauses protestierte durch mehrfaches lautes Fensterschließen gegen das Geschehen. Bei den Proben zum Stück war es in der Judengasse noch heftiger zugegangen: Ein Palästinenser-Sympathisant hatte den vermeintlichen Juden Schläge angedroht.
In der Langen Gasse hatte Sabine Weithöner als Schwarze Witwe und verbitterte Rächerin ihres durch den Gashahn ums Leben gebrachten Gatten einen großartigen kleinen theatralischen Auftritt – zu literarischen Texten, unter anderem von Paul Celan und seinem Golem. „Die Rechnung ist noch offen!“ rief die fiktive Rächerin in ihrem Furor.
Das von der israelischen Regisseurin Sapir Heller und ihrem Dramaturgen Adrian Herrmann konzipierte Event verzichtete auch sonst nicht auf gedankliche Stolpersteine, Verstörungen und Provokationen: Am Marktplatz sollte über eine jüdische 30-Prozent-Quote im Gemeinderat abgestimmt werden. Tatsächlich war eine Mehrheit dafür und dürfte sich deshalb eine groteske Rede Jennifer Kornprobsts vom Rathausbalkon herab anhören.
Auf der Platanenallee gegenüber dem Verlagsgebäude des „Schwäbischen Tagblatts“ wurde an den jüdischen Verleger Albert Weil erinnert, der seine damalige „Tübinger Chronik“ aufgeben und mit seiner Familie in die Schweiz emigrieren musste. In zwei Sesseln spielten dort Dennis Junge und Jennifer Korngold das legendäre „Zur Person“-Fernsehgespräch nach, in dem der Journalist Günther Gaus die kettenrauchende jüdische Philosophin Hannah Arendt nach ihren Jugenderinnerungen in Königsberg, der beginnenden Judenverfolgung in den Nazijahren und nach den weltweiten Reaktionen auf ihr Buch über den Prozess gegen den Holocaust-Planer Adolf Eichmann („Die Banalität des Bösen“) in Jerusalem befragt.
An dieser Neckarfront und auf der Brücke, die Schokoladenseite Tübingens im Blick, durften die Theatergänger mit ihren Tablets auch Fotos machen, die dann beim Abschluss in der LTT-Werkstatt gezeigt wurden, wo es noch jiddische Gesänge zum Klavier, danach Bier und Hummus gab und sich das Ensemble für ein eindrückliches Projekt feiern lassen durfte, das sich mit der Fülle seiner multimedialen Informationen, Anregungen und Anstöße, dazu ein paar szenischen Highlights allenfalls den einen Einwand gefallen lassen muss: dass diese „Lebendigen Stolpersteine“ den Zuschauern ein Multi-Tasking abverlangten, mit dem sie womöglich stellenweise (vom Technischen ganz abgesehen) etwas zu stark gefordert waren – und ihre Aufmerksamkeit teils sehr gesplittet wurde.
Nicht erst am Ende des Stolperstein-Spaziergangs aber stellten die Akteure die Frage: Was kann man heute tun? Vor allem ausgerechnet seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ist unverhüllter Judenhass – unter dem Vorwand von Israels Gaza-Krieg – weltweit geradezu tsunamihaft angeschwollen. Auch in Deutschland, auch in Tübingen wieder.