Impfpflicht im Theater?

9. August 2021

In den sozialen Medien kursiert aktuell gerne folgende Comic-Zeichnung: Es zeigt einen Jungen und seine Mutter. Der Junge fragt: „Was ist das an deinem Arm?“, „die Narbe meiner Pockenimpfung“, antwortet die Mutter. „Warum“, fragt der Junge, „habe ich keine?“. Die Antwort der Mutter kommt knapp und präzise: „Weil sie funktioniert hat“.

 

Dieser kleine Gag, der für eine Anti-CoVid-19 Impfung wirbt, hat einen größeren Hintergrund: Es herrschte lange Jahre eine Impfpflicht – was ein Wort – gegen Pocken. Heute gelten diese als besiegt. Dank der standardisierten Impfung. Wir müssen uns in unserem Alltag keine Gedanken mehr darüber machen, wie und ob sie übertragen werden. Niemals wieder wird ein Theater, eine Sporthalle oder eine Schule wegen Pocken geschlossen.

Seit eineinhalb Jahren passiert durch Corona aber eben das: Wir riegeln uns gesellschaftlich ab, wir sperren uns und andere ein, wir halten Distanz und verlieren den Bezug zum gesellschaftlichen Leben. Ein Theater ist aber ein Ort für eben dieses und wo dieses verhandelt wird – auf der Bühne aber auch, hoffentlich, davor und danach unter den Zuschauerinnen und Zuschauern. Und die Häuser tun viel dafür, dass dies aktuell möglich ist: Corona-Krisenstäbe, Sicherheitskonzepte, immer neue Verordnungen wälzen und interpretieren, Zuschauerabstände vermessen, Ticketing-Systeme anpassen, CO2-Messungen vornehmen, Lüftungen installieren und das Ganze ans Publikum vermitteln. Und das alles mit der gleichen und dünnen Personaldecke wie immer und vor dem drohenden Hintergrund, dass nach der Pandemie das Spardiktat zuschlägt (wie schon z.B. in München passiert).

 

Dennoch, oder gerade deswegen ist an den meisten Theatern allen daran gelegen, wieder die Kunst in den Mittelpunkt zu rücken. Kunst, die auch von körperlicher Nähe und Co-Präsenz, vom Erfahren und Wahrnehmen des Gegenübers lebt. Seit wenigen Wochen erlauben die gesetzliche Unfallversicherung und deren Träger, die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), dass die Schauspielerinnen und Schauspieler, die freiwillig ihre vollständige Impfung offenlegen, wieder gemeinsam ohne Abstände und Masken proben und spielen dürfen. Oder anders ausgedrückt: Wieder ihrem Beruf in vollem Umfang nachgehen können. Die allermeisten, auch am LTT, wollen nichts sehnlicher als das und kommen diesem Angebot sehr bereitwillig nach. 

 

Dass Ähnliches für die Zuschauerinnen und Zuschauer noch nicht gilt, dass Masken und Abstände das Erleben einschränken, darf kein Dauerzustand werden. Wir dürfen uns nicht an eine Gesellschaft der Distanz und der Monadisierung gewöhnen. Wir müssen diese Maßnahmen als Einschränkung gewisser Grundrechte wahrnehmen und so lange als nötig mittragen. Doch wann und wo endet diese Notwendigkeit, und ab wann wird daraus Nötigung?

 

Die Schauspielerinnen und Schauspieler auf einer Bühne brauchen den Kontakt zum Publikum und dieses geht ins Theater, auch um eine gemeinschaftliche Erfahrung zu machen. Diese Rechte und Anliegen wieder einzusetzen, kann ein kleiner Pieks enorm beschleunigen. Wer dies nicht möchte, muss seine oder ihre Gründe nicht offenbaren. Sie oder er kann aber nicht dauerhaft verlangen, dass diese alle anderen in ihren verbrieften Grundrechten einschränken. Oder anders ausgedrückt: Wer nicht für das verbindliche Impfen ist, kann nicht den Ausnahmezustand der Rücksichtnahme fordern. Und anders als gerne behauptet, geht es dabei auch nicht um eine Gesinnungsprüfung der Kunst oder der Künstlerinnen und Künstler. Sondern darum, die freie Entfaltung der Kunst nach eineinhalb Jahren wieder zu befördern.

 

Auch wenn es hochtrabend klingt: Wir handeln hier gerade – ob wir wollen oder nicht – Gesellschaft neu und weiter aus. Die Pandemie wirkt dabei als Katalysator. So wie die Pockenimpfung aber nicht die Gesundheitsdiktatur ins Leben rief – das tut im Kapitalismus immer noch der privatisierte Gesundheitssektor – so wird eine Pflicht zum Impfnachweis beim Betreten einer Kultureinrichtung nicht zur willkürlichen Selektion, sondern zu einem gesellschaftlichen Beitrag – sowohl zur Ermöglichung der Ausübung einer Tätigkeit wie zur freien Entfaltung von Kunst. Für die Übrigen gibt es dann womöglich dauerhaft das Home-Office und Streaming. Möchte das jemand ernsthaft?

 

Und was ist mit dem Gedanken „Theater für alle“? Hier würde sich anbieten darüber nachzudenken, ob damit die allgemeine Öffnung der Häuser für neue Narrative und Teile der Gesellschaft nicht eher gemeint ist als ein wahlloser Einlass. So wie beispielsweise Betrunkene zum Schutz ihrer selbst und aller anderen schon immer im Notfall an der Tür gestoppt werden dürfen, selbst wenn sie ein gültiges Ticket besitzen. Das bedeutet nicht, dass alle Ungeimpften eine Infektionsgefahr darstellen. So wie nicht alle Alkoholisierten aggressiv und laut sind. Aber das Risiko dazu ist erhöht. Und wenn uns die letzten eineinhalb Jahre etwas gelehrt haben, dann dass wir dieses Risiko minimieren sollten. Wieder: Nicht, weil wir das wollen, sondern weil eine weltweite Pandemie uns dazu nötigt.

 

Und dennoch: Eine Pflicht zum Nachweis über eine Impfung kann und sollte nur der allerletzte Weg sein. Sie wird immer eine Maßnahme sein, die für beide Seiten unangenehm wird. Ihr voran gehen kann und sollte daher die dringende Überlegung aller, ob es nicht auch einfach der solidarische Akt der Freiwilligkeit sein könnte – Immanuel Kant würde es „aus Pflicht“ nennen –, der uns allen und der Kunst die Freiheit ein gutes Stück weit zurückbringt. Von denjenigen, die sich nicht impfen lassen können, ganz zu schweigen. Die gute Nachricht: Anders als bei den Pocken bleibt bei dieser Impfung nicht einmal eine Narbe am Oberarm zurück.

 

Herzlich willkommen in Ihrem LTT







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