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Kriminalkomödie von Joseph Kesselring, Deutsch von Helge Seidel
Schwäbisches Tagblatt, 23. November 2015
Mordsspaß mit hochdosierter Klassikerversion
(von Achim Stricker)
Alexander Marusch inszeniert "Arsen und Spitzenhäubchen" als schrille Rocky Horror Granny Show am LTT
Die Verfilmung des bitterbösen Bühnenstücks mit Cary Grant hat Kultstatus. Es wäre wenig ratsam, mit den allbekannten Bildern des Films konkurrieren zu wollen. So hält Alexander Maruschs Inszenierung konsequent dagegen: mit Tempo, Slapstick und poppig-schriller Parodie. Und einem detailgenauen 40er-Jahre-Design wie aus der Zeitmaschine.
Zwei liebenswert schrullige ältere Damen aus der Nachbarschaft, vielleicht etwas pedantisch, prüde, pingelig. Aber niemand würde ausgerechnet im selbstgemachten Holunderwein eine tödliche Dosis Gift vermuten. Auch das ein altes Familienrezept: Arsen, Strychnin, Zyankali.
Hochdosiert ist auch die LTT-Version des Klassikers. Spitzenhäubchen gibt's hier keine. Dafür sind Alexander Maruschs Inszenierung und das Ensemble in so auftoupierter Hochform wie die Frisuren der beiden hinreißend skurrilen Tantchen Martha (Hildegard Maier) und Abby Brewster (Franziska Beyer). Sozusagen Cruella De Vils häusliche Cousinen, die aus purer "Nächstenliebe und Wohltätigkeit" alleinstehende Herren mit vergiftetem Holunderwein von ihrer "Einsamkeit erlösen". Die beiden Killer-Ladies sind sich einig: Es gibt "nichts Friedlicheres als den Gesichtsausdruck einer Leiche".
Hier sind wir von Anfang an in einem lustvoll schrillen Gruselkabinett - eine explosive Mischung aus "Addams Family", "Rocky Horror Picture Show" und "Hairspray", zugleich eine gewitzt parodistische Dekonstruktion von medialen Sehgewohnheiten und Filmklischees.
Allein schon sehenswert sind Christiane Herchers Kostüme und ihr Bühnenbild, bis ins Detail originalgetreu im Stil der 40er, 50er Jahre. Als sich am Freitag der Premierenvorhang öffnete, hörte man im fast ausverkauften LTT-Saal erfreute und amüsierte Wiedererkennens-Laute.
Im Haus der todbringenden Tanten wohnen zwei ihrer Neffen: Teddy (Daniel Tille, mit staatstragend majestätischer Würde "irre") hält sich für Präsident Roosevelt. Im "Panamakanal", den er im Keller gräbt, bestatten die trauerfeierfreudigen Todesengel ihre Erlösungsopfer ("Jetzt haben wir das Dutzend voll!"). Teddys Bruder Mortimer (Lukas Umlauft) - Kosename "Zipfel" - vollstreckt auf seine Weise Hinrichtungen: Er ist Theaterkritiker. Das gibt dem Stück Gelegenheit zu manchem Seitenhieb, auch auf den Theaterbetrieb.
Zuletzt schlägt in der morbiden Villa auch noch das schwärzeste Schaf der Familie auf: Mortimers böser Bruder Jonathan (Patrick Schnicke als sadistischer Bilderbuch-Gangster). Weil überall sein Fahndungsfoto aushängt, hat der Serienkiller sein Gesicht umoperieren lassen. Dabei ließ sich der Operateur Dr. Adolf Einstein von einem Leinwandhelden inspirieren: fatalerweise Frankensteins Monster.
Die populäre Kriminalkomödie aus dem Kriegsausbruchsjahr 1939 war der einzige Bühnenerfolg von Joseph Kesselring. Allein am Broadway lief das Anti-Boulevardstück 1444 Mal. Frank Capras Verfilmung mit den Hollywood-Stars Cary Grant und Peter Lorre kam 1944 in die Kinos. Wie bei jeder berühmten Verfilmung steht jede weitere Bühneninszenierung vor dem Problem, sich zu den allseits bekannten Filmbildern verhalten zu müssen. Insofern traf Regisseur Alexander Marusch ("Genannt Gospodin") eine richtige und produktive Entscheidung, die Schraube der schrägen Skurrilitäten noch weiter anzuziehen und das betulich schwarzhumorige Stück in einen temporeichen Schleudergang zu versetzen. Schon in den ersten zehn Minuten polarisierte er das Premierenpublikum in die einen, die an dem überdrehten Klamauk ihren Mordsspaß hatten, und die anderen, denen es zu laut und zu schrill war, zu viel der genüsslich zelebrierten Running Gags. Ein Knaller am anderen - kaum einmal drei, vier Minuten, in denen nicht jemand lautstark zur Tür herein oder die Treppe herunter stürzt, kreischt, wie eine angestochene Comicfigur mit einem Satz vom Stuhl aufspringt oder umfällt.
Spielt etwa Capras Verfilmung die Kontrastkomik von biederem Gutbürgertum und blankem Horror mit subtilem Understatement aus, wird hier auf jede Pointe noch eins draufgesetzt. Das allerdings sehr konsequent und gekonnt. Regiekonzept und Schauspielerführung sind minutiös durchgearbeitet: immer perfekt auf den Punkt, jedes Wort und jede Geste sitzt, nirgends Leerlauf, alles durchgängig aus einem Guss und auf gleichbleibend hohem Niveau. Die frappierend koordinierten Slapstick-Aktionen mit akrobatischem Körpereinsatz sind teils halbe Zirkusnummern, regelrechte Choreographien aus Sprüngen, Stürzen, Rolle vorwärts und Überschlag. Vor allem aber bietet die Inszenierung bestes Ensemble-Theater, in dem jede Figur zu einem Highlight für sich wird - bis hin zu den kurzen Auftritten von Thomas Zerck und Heiner Kock als zwillingshaft synchrones Polizistenpaar oder Andreas Guglielmetti als absolut irrer Irrenarzt.
Carolin Schupa spielt als Nachbarstochter Elaine die ganze Palette der "Frauenbild"-Klischees aus, wie sie Filme in den 40er-Jahren verbreiteten: "das zuckersüße Sweetheart im Petticoat", "die verschämt Kokette", "die verführerische Raubkatze" - so wandlungsfähig virtuos dekonstruiert wie auf den Fotografien von Cindy Sherman. Augenzwinkernd selbstironisch ist auch Christian Kuzios Bühnenmusik: Die Liebesszenen zwischen Elaine und Mortimer unterlegt er mit schluchzenden Geigen, die Suspense-Momente mit nostalgisch schauriger Horrorfilm-Musik.
Grandios Michael Ruchter als absurd nuschelnder, hypernervös fahriger Schönheitschirurg (und Knie-Fetischist) Dr. Einstein. Zusammen mit Schnicke ist er ein schurkisches Bösewichter-Duo wie aus einem Disney-Zeichentrickfilm. In der übersprühenden Detailfülle gibt es auch am Rand der Bühne immer noch mal was zu entdecken: So steckte Heiner Kock als knallhart cooler Inspektor Rooney einer Zuschauerin in der ersten Reihe eben schnell seine Telefonnummer zu. Und für die mörderische Familie lautete die Endstation: Sanatorium "Zum fröhlichen Hirten"
Unterm Strich
Eine bestgelaunt schräge, hochdosierte Version des Krimikomödien-Klassikers, konsequent durchgedreht und bemerkenswert akrobatisch. Mutig sein, reingehen - und Vorsicht bei angebotenen Getränken.
Reutlinger Nachrichten, 23. November 2015
(von Kathrin Kipp)
Wie schön muss echter Wahnsinn sein, wenn schon das Zuschauen soviel Spaß macht? Das LTT zeigt die Boulevardkomödie "Arsen und Spitzenhäubchen" als zunehmende Klamauk- und Slapstick-Party.
Als hätte "Kafka eine Komödie geschrieben": Gerade so wirkt Joseph Kesselrings Erfolgsstück "Arsen und Spitzenhäubchen" am LTT.
Bei den Brewsters geht's zu, als hätte "Kafka eine Komödie geschrieben": Abby und Martha, getarnt als liebenswürdige, tüttelige und harmlose Tantchen, praktizieren mit ihrem giftigen Holunderwein süße Sterbehilfe an alten, einsamen Männern. Ihr Neffe Teddy hält sich in seinem Wahn für Präsident Roosevelt. Aber am Allerschlimmsten treibt es Neffe Mortimer: Er ist Theaterkritiker! Also sadomaso unterwegs: Einerseits tut er sich wirklich jedes Theaterstück der Stadt an, andererseits rächt er sich mit gepfefferten Verrissen.
Der dritte Neffe Jonathan wiederum reist als brutaler Totschläger durch die Lande und muss sich deshalb von Zeit zu Zeit einer Gesichts-OP durch Dr. Einstein unterziehen. Derzeit sieht er aus wie Frankensteins Monster. Das war schon bei der Uraufführung 1941 so, weil Frankenstein-Darsteller Boris Karloff zufällig den gruseligen Jonathan spielte, was - "Den kenn' ich doch von irgendwoher?" - sofort ins Stück eingebaut wurde. Ein Stück, das sich überhaupt erst während der Urproben von einem Drama zur kultigen Killerkomödie entwickelt hat. Am LTT - Samstag war Premiere - bleibt Regisseur Alexander Marusch ganz in der Screwball-Tradition. Er lässt die Psychopathen-Klamotte zwar dezent starten, aber wahrscheinlich nur, um gegen Ende umso steiler zu gehen, was Tumult, Klamauk, Slapstick und Wahnsinn anbelangt: Holterdipolter!
Immerhin behalten dabei die beiden von Franziska Beyer und Hildegard Maier großartig gespielten Damen die Nerven sowie den Überblick und kredenzen ein letztes Mal ihren arsenhaltigen Holunderwein, um dem langsam schon ungesunden Quatschtreiben auf der Bühne ein Ende zu bereiten.
Das gesamte Figurenkabinett besitzt jedenfalls auch am LTT einen immer noch steigerungsfähigen Zentralknall, in der sehr körperbetonten Inszenierung.
Ein wenig schade, denn der Text hat es, obwohl schon leicht angegraut, mit viel Wort- und Dialogwitz, diversen Meta-Ebenen und kleinen Stück-im-Stück-Einlagen durchaus in sich. Zum Beispiel, als Mortimer mal wieder über das aktuelle, unglaubwürdige Stück in der Stadt ("Mörder Ahoi") lästert, während sich bei ihm genau dieselben Szenen abspielen: Trotz aller Warnungen lässt er sich vom Bösewicht übertölpeln und fesseln. Lukas Umlauft gibt anfangs als Parodie auf diverse Stummfilm-Komödianten einen ziemlich zackigen Mortimer, der seine Verlobte Elaine (Carolin Schupa) mit lässigem Fingergeschnippe selbstherrlich herumkommandiert.
Elaine stolpert dauernd über ihre Unterwürfigkeit. Bis zum Ende aber hat auch sie die Nase vorn, während sich der gesamte männliche Teil dieser Bühnenschöpfung immer mehr zum Affen macht.
Ansonsten hat man die wilde Gift-Sause mit allerhand neckischen Details aufgehübscht. Immer wieder verstecken sich die Figuren hinter der zittrigen Wohnzimmer-Botanik. Wenn das Telefon klingelt, flackern die Schreibtischlichter. Oder immer wieder wird aufs Stichwort die ganze Szenerie eingefroren, in gruseliges Licht getaucht und mit Horrormusik bespielt. Ganz ganz schlimme Ahnungen machen sich im Publikum breit.
Die klapprige Kulisse mit schrägen Regalen von Christiane Hercher im piefigen 50er-Jahre-Design unterstreicht außerdem den scheinanständigen Charakter der beiden Golden Toxic Girls und erzeugen umso mehr Fallhöhe zu ihren "kleinen Geheimnissen". Das Ensemble kann sich bei dem breiten Spektrum psychiatrischer Erscheinungsbilder voll austoben: Daniel Tille schwadroniert in Oldschool-Komödianten-Manier als Präsident Roosevelt über die Szenerie, bläst in sein Horn und stiftet die Familie zum Abschmettern der Nationalhymne an. Das ganze Volk steht hinter ihm, wenn er im Keller mal wieder eine "Schleuse für den Panamakanal" graben muss, wo die nächsten "Gelbfieberopfer" entsorgt werden. Und schon wieder hat man einen unschuldigen Schizo instrumentalisiert. Der arme Tropf. Da haben die Tanten das Thema Inklusion wirklich komplett falsch verstanden. Ein durchgängig übertrieben symbiotisches und damit leicht nerviges Pärchen geben der stark lispelnde Dr. Einstein (Michael Ruchter) und sein brutales Frankenstein- Monster ab (Patrick Schnicke mit Quadratschädel und den typisch gruseligen Stirnfransen): Ständig sind sie irgendwie ineinander verkeilt.
Thomas Zerck und Heiner Kock sind als Polizisten lustige Synchron-Poser. Andreas Guglielmetti wiederum kommt als vollends verklamaukter Leiter der psychiatrischen Anstalt "Zum fröhlichen Hirschen" dermaßen zittrig, arthritisch und dement daher, dass nur noch der Holunderwein helfen kann.
Reutlinger General-Anzeiger, 23. November 2015
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT bringt mit »Arsen und Spitzenhäubchen« einen Klassiker des Schwarzen Humors auf die Bretter
Manchmal sind alte Damen nicht ganz so nett, wie sie erscheinen. Manchmal sind Familienbande ein wahrer Schrecken. Manchmal ist Holunderwein tödlich. Kaum jemals wurde die biedere Welt der Familie so boshaft und komisch auf den Kopf gestellt wie in Frank Capras berühmter Filmkomödie »Arsen und Spitzenhäubchen« von 1941.
Die Mär von den mörderischen Tanten basiert auf einem Theaterstück, das eigentlich als tragischer Schocker gedacht war, auf der Bühne aber ein Eigenleben entwickelte und so ins andere Fach kippte. Das Landestheater Tübingen führt »Arsen und Spitzenhäubchen« nun auf: turbulent, schräg, doppelbödig, allerliebst und grausam, sehr nahe an der Filmversion. Ein langer, aber unterhaltsamer Abend mit einem großartig aufgelegten Ensemble.
Franziska Beyer und Hildegard Maier spielen die beiden mörderischen Tanten überzeugend, schrullig und liebenswert. Franziska Beyer als Abby Brewster wirkt weich, vermeintlich gutmütig; Hildegard Maier ist die kleinere, die kantigere, kauzigere. Auf beiden Köpfen wuchert bleiches Haargestrüpp – Christiane Hercher, die die Kostüme schuf, hat die Mörderfamilie und ihre Gäste eingekleidet im leicht überzeichneten Chic lang vergangener Tage.
Im trauten Heim der alten Damen, die alte und alleinstehende Herren aus nichts als Mitgefühl ermorden, hausen die Neffen Teddy und Mortimer, die beide nichts Böses ahnen – Mortimer, weil er Theaterkritiken schreibt und die sehr lebhafte Elaine (Carolin Schupa) liebt; Teddy, weil er sich für Franklin D. Roosevelt hält und, befangen in dieser Illusion, bereits elf Opfer der Gelbsucht im Keller des Hauses begraben hat.
Lukas Umlauft spielt den Mortimer als schneidigen Burschen im braunen Anzug, sehr von sich eingenommen und umso mehr erschüttert, als er schließlich auf das Geheimnis seiner alten Tanten stößt. Daniel Tille ist Teddy mit vollem Körpereinsatz, oft allerdings in Unterhosen und mit seltsam gestreiften Kniestrümpfen.
Christiane Hercher schuf auch die Bühne – ein spitzwinklig nach oben weisendes Esszimmer in grünem Pastellton, ausgestattet mit verschiedenen kleinen Möbelstücken: dem Schreibtisch, an dem Mortimer Theaterstücke verreißt, der Truhe, in der die eine oder andere Leiche liegt.
Zur Tür herein kommen immer wieder mal zwei Polizisten, die paradieren, so ausgelassen, als seien sie dem zauberhaften Land entsprungen – Thomas Zerck und Heiner Koch füllen sehr wandlungsfähig verschiedene Rollen aus, hin und wieder auch die von Leichen. Sie zeigen dabei sehr viel Geduld: Sie lassen sich in Kisten stecken, durch geöffnete Fenster werfen und in den Keller schleppen. Andreas Guglielmetti ist ebenfalls in gleich drei Rollen zu sehen, als Arzt und Opfer. Und Patrick Schnicke schließlich verkörpert Jonathan, den anderen, den bösen Sohn der Familie.
Sein Name muss nur ausgesprochen werden und das Licht beginnt zu flackern, ein Takt altmodischer Schauermusik erklingt, der Schatten zieht vorüber, das Licht kehrt zurück. Doch halt: Schließlich bleibt der Schatten, packt Mortimer an der Gurgel und rühmt sich mit frechem Grinsen, auch schon zwölf Leichen im Keller zu haben.
Michael Ruchter läuft als Dr. Adolf O. Einstein hinter ihm her, beißt fremde Männer ins Knie und ist als plastischer Chirurg dafür verantwortlich, dass Jonathan so aussieht wie Frankenstein-Darsteller Boris Karloff – im LTT hat das die Maske besorgt.
Das Grauen hat in der Inszenierung von Alexander Marusch so wenig Chancen wie im Original – die schiere Situationskomik dagegen sehr: Mit großer Lust wird gegen die Kellertür gerannt, über eigene Füße gestolpert, gelispelt und getorkelt. Die makabre Show dauert mehr als zwei Stunden – aber diese Stunden machen Spaß.