Abonnieren Sie unseren WhatsApp Newsletter!
Um zu starten, müssen Sie nur die Nummer +49 1579 2381622 in Ihrem Handy abspeichern und diesem neuen Kontakt eine WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Start" schicken.
Schauspiel von Max Frisch
Reutlinger General-Anzeiger, 25. April 2016
(von Christoph Ströhle)
Nick Hartnagels »Biedermann und die Brandstifter«-Inszenierung am Landestheater Tübingen regt zum Nachdenken an. Ausgeprägt ist das Spiel mit aktuellen Bezügen. Das macht aus Max Frischs modernem Klassiker ein Stück von heute.
»Die« Aussage, falls es so etwas gibt, ist, dass Biedermann und die Brandstifter am Ende identisch sind. Allesamt sind sie gleich gekleidet: braune Schuhe, schwarze Hose, roter Pulli. Und alle heißen sie Gottlieb und singen »O Täler weit, o Höhen«.
Für das Stück, das am Samstag im Landestheater Tübingen Premiere hatte, hat Max Frisch bereits in den 1970er-Jahren den Hinweis gegeben, die Brandstifter gehörten »in die Familie der Dämonen«. Sie seien »geboren aus Gottlieb Biedermann selbst: aus seiner Angst, die sich ergibt aus seiner Unwahrhaftigkeit«.
Andreas Guglielmetti ist dieser Biedermann, der auf Abwehr schaltet, als ein Fremder bei ihm vorstellig wird und um Quartier bittet. Eine Haltung zu den Dingen wäre von Biedermann in dieser Situation gefordert, doch sagt er A, obwohl er B meint oder glaubt, B zu meinen. Er trägt den Zerstörungswillen in sich, den er den zu sich kommenden Fremden unterstellt. Und er ist unfähig, sich beides einzugestehen.
Patrick Schnicke legt die Figur des Schmitz zwischen Gerissenheit und Naivität an. Er ist die Vorhut jener Fremden, die Biedermann so in Unruhe versetzen. Im Stück eigentlich ein Ringer, der deutlich macht, dass das Leben ihm arg zugesetzt hat, wird Schmitz hier erst als Wolf, dann als Flüchtling gezeigt, der es gerade so übers Meer schafft, während sein Begleiter, ein Stoffaffe, den ihm Biedermann als Sorgenfresser in die Hand gedrückt hat, leblos zurückbleibt. So wie Biedermanns Angestellter Knechtling, der sich nach seiner Entlassung (»weil ich ihn nicht mehr brauche«) das Leben nimmt. Weder als Menschenfreund noch als knallharter Geschäftsmann zeigt Biedermann eine glückliche Hand. (...)
Biedermanns Haus (Bühne und Kostüme Merle Vierck) ist ein unheimlich heimeliger Nicht-Ort. Martin Bringmann als Biedermanns Frau Babette scheint direkt dem Biedermeier entsprungen. Statt Essen tischt sie einen alten Schinken, sprich ein Gemälde auf. Netter Gag. Und gut gespielt das Ganze!
Schwarzwälder Bote, 25. April 2016
Von Biedermännern, Brandstiftern und Bootsflüchtlingen
(von Christoph Holbein)
LTT bringt das Schauspiel von Max Frisch mit einer grotesken Note auf die Bühne
Eines lässt sich der Inszenierung des Schauspiels „Biedermann und die Brandstifter“ am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) nicht nachsagen, dass sie langweilig oder gar langatmig sei. Im Gegenteil: Regisseur Nick Hartnagel bürstet bei seiner Interpretation des Stücks von Max Frisch kräftig gegen den Strich und schöpft nahezu alle Möglichkeiten, die das Theater zu bieten hat, aus – bis hin zum per Videokamera auf die Leinwand projizierten pyrotechnischen Mini-Feuerwerk im Modellbau-Dachboden.
Das fängt schon damit an, dass Hartnagel die Rolle der Babette Biedermann mit dem bärtigen Martin Bringmann männlich besetzt: ein Kunstgriff, der amüsant ist, allerdings mehr Fragen aufwirft, als letztlich beantwortet. Dennoch transportiert der Regisseur seine Botschaft unmissverständlich, wenn am Ende alle vier Schauspieler im gleichen roten Pullover, in der gleichen schwarzen Hose und den gleichen klobigen braunen Schuhen agieren und mit den Taschenlampen ins Publikum leuchten: Wir alle sind Biedermänner und Brandstifter – gerade auch mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsfrage, die Hartnagel mit eindeutigen Bildern und Assoziationen – auf der Bühne sind beispielsweise Schwimmwesten verteilt – plakatiert. Das Programmheft formuliert dazu klar und unverstellt: „Wir sind die Brandstifter – weil wir mitverantwortlich sind am Hunger und an den Kriegen der Welt. Weil wir mit Mauern und Stacheldraht unser Leben in Wohlstand schützen und Geflüchteten das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verweigern. Weil es nicht viel braucht, um aus einem „guten Bürger“ einen gewalttätigen Saubermann zu machen.“
Und so empfindet auch Herr Biedermann – Andreas Guglielmetti mimt ihn mit der Sensibilität für das kleine Detail – jede Begegnung mit etwas Fremden als potenzielle Bedrohung, auch wenn er sich das selbst nicht eingestehen will. Im Stangenwald aus Tüchern – für Bühne und Kostüme zeichnet Merle Vierck verantwortlich – entwickelt sich ein skurriles Spiel mit grellen Motiven: hier die Wolfsmaske, dort der Plüschaffe in Schwimmweste; hier Patrick Schnicke als Ringer Schmitz nur in Unterhose und verschlammt, dort das Schwimmen im Rindenmulch ans lebensrettende Ufer – die Bootsflüchtlinge lassen grüßen. Der Regisseur steigert das ins Groteske, während der eine aufschreit wegen eines angeschwemmten ertrunkenen Flüchtlings, schreit der andere auf, weil sein ungebetener Besucher beim Hinsitzen den Sessel schmutzig macht. Es sind diese kleinen ironischen, sarkastischen, mitunter zynischen Details, mit denen die Inszenierung jongliert. Das steigert sich, ja verzerrt sich bis ins Clowneske hinein mit Schattenspiel und Slapstick-Einlagen – mal melodramatisch, mal Parodie, mal choreografiert als tolpatschige alles umreißende Zerstörungsarie im Stangenwald. Hartnagel treibt das Spiel auf die Spitze und lässt dabei seine Protagonisten sich beim Dialog fechtend duellieren.
Das ist intensiv und fein gespielt mit dem Gefühl für die kleinen Gesten. Die Brüderlichkeit und die Menschlichkeit gehen dabei den Bach hinunter, der Regisseur zeigt den Mut zur Deutlichkeit; und dann wird es makaber, wenn die „Brandstifter“ bösartige Witze über die flüchtenden Menschen machen. (...)
In der Lagerfeuer-Romantik rund um den erhellten Kronleuchter auf dem Boden sitzend und im Chor ein Volkslied singend, das die Schauspieler dann in den Zuschauerraum tragen, klagt die Inszenierung die „kannibalische Weltordnung“ an, in der alle drei Sekunden ein Mensch verhungert und damit ermordet wird, weil er gerettet hätte werden können. Dem entgegen propagiert Hartnagel den Traum von einem Theater, das auch die dickste Betondecke des Egoismus durchbricht und zu einem Aufstand des Gewissens führt, um dann doch ernüchtert festzustellen, dass das Kapital stärker ist als die Kunst. Was schließlich darin endet, dass alle gemeinsam - jeder mit seinem entflammten Streichholz - die Zündschnur anstecken, um die Benzinfässer in die Luft zu jagen.
Die Inszenierung gefällt nicht jedem. Am Ende gibt es sogar einen einzelnen Zuschauer, der die Arbeit von Nick Hartnagel mit Buhrufen quittiert, aber diese Unmutsäußerung ist im anhaltenden Applaus der anderen so gleich übertönt und rasch vergessen.
Schwäbisches Tagblatt, 25. April 2016
(von Dorothee Hermann)
Es ist schwierig, Max Frischs Schauspiel "Biedermann und die Brandstifter" aus dem Jahr 1958, vom Autor als "Lehrstück ohne Lehre" aufgefasst, quasi als Antwort auf AfD und Pegida neu auf die Bühne zu bringen. In unendlichen Schulstunden durchgenudelt, erscheint dessen Message im Rückblick allzu offensichtlich.
Die Neuinszenierung von Nick Hartnagel am Landestheater Tübingen (LTT) fährt ein ziemlich suggestives Bühnenbild auf (Bühne und Kostüme: Merle Vierck): In dem Gewirr von schlaff herabhängenden weißen Fahnen kann man spitze Kirchtürme sehen, flattrige Geister oder Kapuzen des Ku-Klux-Klan, ein bisschen nachlässig zum Trocknen aufgehängte Wäsche (Dachboden!) oder die steilen Vertikalen eines de Chirico, ins Bedrohliche gewendet.
Die Bühne ist mit einer dicken Schicht Rindenmulch bedeckt, stark feuergefährlich und gleichzeitig mit einer Anmutung von Zirkusarena. Die einzige Nummer: ein gefährlicher Clown.
Herr Biedermann (Andreas Guglielmetti) sticht zunächst ein wenig ab gegen derart sinistre Assoziationen: Er sieht aus wie ein lockerer Typ aus den fünfziger Jahren. Mit seiner schmalen Hose, dem roten Pulli und den halbhohen Schnürstiefeln gleicht er eher einem Bilderbuch-Existenzialisten als dem knallharten Fabrikanten, der für den Selbstmord eines Angestellten verantwortlich ist. Letzterer wäre im Zeitalter der multinationalen Konzerne ohnehin eine seltsam veraltete Figur. Biedermanns Frau Babette (Martin Bringmann) ist ein ganz anderes Kaliber: Sie kommt gleichzeitig aus der Biedermeier-Zeit und aus der Gegenwart von Conchita Wurst.
Requisiten wie Möbel und Grammophon und die Musik (die arg abgenutzte Neunte Sinfonie von Beethoven) deuten auf ein Bürgertum, das sich für die originalen Nazis der 30er Jahre begeisterte. Die Inszenierung wählt den Kunstgriff, Angstfantasien Biedermanns darzustellen. Das Premierenpublikum am Samstagabend fand das sehr überzeugend - bis auf wenige Pfiffe und einen einzelnen, lautstarken Buhrufer. (...)
Das bekannte Ende ist am LTT ein kontrollierter kleiner Brandsatz, durch die Projektion an die Bühnenrückwand zu Flächenbrand-Dimension aufgeblasen - ein Seitenhieb auf den Sensationsjournalismus? Das war zu sehr Knalleffekt, als dass es aufrütteln könnte.
Reutlinger Nachrichten, 25. April 2016
Wer sind jetzt genau die Zündler?
(von Kathrin Kipp)
In dieser LTT-Inszenierung werden die Gut- und Böse-Muster ziemlich durcheinandergewirbelt: Die Flüchtlinge, so scheint es, sind anfangs die Brandstifter. Oder passiert das alles etwa nur in Biedermanns Kopf?
Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" (Uraufführung 1958) ist eine so schlichte wie vieldeutige Geschichte. Biedermann ist ein Neoliberaler, der ein guter Mensch sein will, gleichzeitig aber seine Angestellten in den Selbstmord treibt und ansonsten nur seine Ruhe haben will. Sich aber an den Katastrophengeschichten in den Medien aufgeilt, die sensationslüstern über die "immer häufiger" auftretenden Brandstiftungen in der Gegend berichten.
Biedermann fühlt sich gewappnet. Aber als sich die Brandstifter dann tatsächlich bei ihm zuhause einnisten, will er es nicht wahrhaben, hält alles für einen Witz und legt noch selbst die Zündschnur. Am Ende brennt die ganze Bude.
Hinterher will's dann wieder keiner gewesen sein. Eine Parabel auf die Angst- und Stimmungsmache durch die AfD - und auf Neonazis, die Flüchtlingsheime anzünden? Am Landestheater wird diese Logik munter auf den Kopf gestellt, indem die Eindringlinge und Brandstifter relativ eindeutig mit den Flüchtlingen identifiziert werden.
Zumindest in Biedermanns Kopf, in der ansonsten sehr knackigen, überspitzten und gut gespielten Inszenierung von Nick Hartnagel, die mit jeder Menge Anspielungen und Zitaten das politisch korrekte Gut- und Böse-Schema kräftig durcheinandergewirbelt, bis man am Ende gar nichts mehr versteht. Wer genau war jetzt wer? Andreas Guglielmetti zumindest spielt relativ eindeutig den klassisch verheuchelten, selbstverlogenen, gartenzwergigen, herzensguten wie zynischen System-Profiteur, der gerne mal am Stammtisch ein beherztes "Wir schaffen das - Nicht!" in die Runde wirft.
Er sitzt mit seiner Frau (Martin Bringmann als rüschenhafte Komödienstadl-Erscheinung) auf seinem schnitzelparkettierten Dachboden, der mit den leeren Zuschauerbänken an der Seite an eine archaische Box-Arena oder einen Kinderspielplatz erinnert (Bühne: Merle Vierck). Kampf und Spiel - das scheint Biedermanns Motto zu sein. Auf dem Dachboden hängen viele weiße Bettlaken herum, die sich im pathetischen Wind der Europa-Hymne aus dem Grammophon zu weißen Flaggen formieren.
"Alle Menschen werden Brüder", tönt es durch den Raum, und wir bekommen nicht nur große Gefühle, sondern merken, dass der LTT-Biedermann auf der Bühne reine Männersache ist. In einer wilden Slapstickszene unter den ausgelutschten Klängen von Ravels Bolero werden die ganzen schönen Tücher und Fahnen von Vize-Brandstifter Eisenring (Raphael Westermeier) umgerissen. Irgendwann dröhnt uns die Deutschland-Hymne durch die Ohren, so wie überhaupt über die Musik viel ironische Stimmung gemacht wird. Da taucht auch schon Patrick Schnicke als Ringer Schmitz auf und nistet sich mit dreister Rhetorik sowie einer amtlichen Mitleids-Arie im Haus ein.
Rotkäppchens Wolf (auch so ein Blender) wirft Flüchtlings-Schwimmwesten durch den Raum, Brandstifter Schmitz und sein Stofftier-Äffchen schwimmen durch das Holzschnitzel-Meer, Biedermann kann ihn in letzter Sekunde noch retten, aber das Äffchen ertrinkt.
Leider. Biedermann reicht Schmitz zum Trost seine Altkleider. Biedermann will zwar nix Fremdes im Haus, gefällt sich aber auch als Gutmensch und bringt es deshalb nicht fertig, den Eindringling rauszuschmeißen. Nach und nach wird er eingewickelt und zum Mitläufer und Mittäter. Aber wobei? Bei der allgemeinen Überfremdung? Beim Niederbrennen des Hauses Europa? Ist hier etwa die AfD am Werk?
Laut Programmheft sind alle Figuren Angstprojektionen Biedermanns. Die so real werden, dass Biedermann selbst zum Brandstifter wird. Aber waren die Brandstifter nicht die Flüchtlinge? Sind wir alle nicht nur Brandstifter, sondern auch Flüchtlinge? Und ist das alles nicht nur ein verworrener Versuch, Frischs Biedermann an unsere aktuelle Situation anzupassen?
Denn schließlich bescheren uns ja weniger die Flüchtlinge, sondern vielmehr die Brandstifter-Nazis die Alpträume. Zumindest ist es ein origineller Versuch. In dem alle Identitäten miteinander verschüttelt werden. Und mit Humor verrührt. (...)