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Schauspiel nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf Theaterfassung von Robert Koall
Schwarzwälder Bote, 18. Februar 2016
Rätselhafte Reise in sprachlich starken Worten
(von Christoph Holbein)
Premiere von „Bilder deiner großen Liebe“ am LTT Tübingen beeindruckt durch die große Spielfreude der drei Akteure
Metronome – in Reih und Glied aufgereiht auf einem Regalbrett – klappern und klingeln im Gleichschritt den Takt, während sonst nichts auf der Bühne geschieht, bis sie nach einer sehr langen Sequenz gemeinsam aufhören; Schauspielerin Hildegard Maier übt sich im Zielwerfen mit kleinen gefüllten Säckchen durchs offene Fenster; Ensemble-Kollege Rolf Kindermann verkriecht sich mit seiner E-Gitarre, den Rhythmus zupfend und schlagend, unter der kleinen Schräge und Protagonistin Laura Sauer hangelt sich turnerisch-akrobatisch durchs Eisengestänge: Auf eine logische Handlungsabfolge sollte der Zuschauer nicht hoffen bei der Inszenierung des Schauspiels „Bilder deiner großen Liebe“ am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT). Regisseurin Carina Riedl gestaltet das Stück nach dem letzten, unvollendeten Roman von Wolfgang Herrndorf in der Theaterfassung von Robert Koall als buntes Kaleidoskop witzig-sarkastischer und manchmal possierlicher Erzählbilder und wird damit der besonderen Reise, auf die Herrndorf seine Figur aus seinem erfolgreichen Jugendroman „Tschick“, jenes rätselhafte, wilde Mädchen Isa, noch einmal schickt, mit großer Intensität vollauf gerecht.
Auf der Bühne im „LTT oben“ entwickelt sich ein Spiel mit starken Worten voller hintergründigem Witz und Sarkasmus, das auf der Tour der Heldin, im Gepäck nur das Tagebuch und eine Pistole, den grundlegenden Fragen des Lebens nachgeht. Diese Reise durch eine brüchige und dennoch trotz aller Verzweiflung schöne Welt fasst Riedl in eine intensive Interpretation, die sich auf die Sprache Herrndorfs konzentriert, was das gesamte dreiköpfige Ensemble mit einer profunden Artikulation aufgreift und untermauert. Das ist gut pointiert und authentisch echauffiert - voller Ironie. Die Regisseurin und die bestens aufgelegten Schauspieler erzählen fein und in einer mitreißenden Sprache. Das ist gut gesetzt und auf den Punkt ausgespielt – mit Trommelwirbel und enormer Spielfreude.
Auf der Gratwanderung zwischen vernünftigem Handeln und dem Laufen lassen der Gefühle gibt es keine eindeutigen, aber poetisch schöne Antworten: „Steigt man durch das Fenster, dann gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern“, der Gang durch die Tür dagegen wirft einen lediglich hinein ins Alltägliche. Und so webt die Inszenierung diese Philosophie Herrndorfs dicht und mit körperlichem Einsatz der Darsteller, auch wenn „das Einzige, das hier passiert, Zeit ist“. Da bleibt am Schluss das Versprechen, auf das Hildegard Maier die Zuschauer einschwört: Alle sollen sich in 50 Jahren zum gleichen Tag an gleicher Stelle wiedertreffen – „oder ist das blöd?“: Wenn es dann wieder so eine erfrischende und lebendige Inszenierung gibt, mit Sicherheit nicht.
Reutlinger Nachrichten, 16. Februar 2016
(von Kathrin Kipp)
"Das Einzige, das hier passiert, ist Zeit.“ Das LTT zeigt Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“: als Carpe-diem-Erzähltheater übers Unterwegssein, über die Wahrheit und ein rätselhaftes Wesen namens Isa.
Wolfgang Herrndorf ließ in seiner Road-Novel "Tschick" zwei Jungs auf die Vagabundin Isa treffen. In seinem unvollendeten Fragment "Bilder deiner großen Liebe" führt er diese Figur weiter fort. Er lässt Isa aus der Psychiatrie ausreißen, durch die Welt streifen, auf seltsame Menschen treffen und mehr oder weniger phantastische Geschichten erleben, von denen man nie genau weiß, ob sie sich diese nur vorstellt oder tatsächlich erlebt.
Isa ist am liebsten draußen unterwegs: barfuß, angstfrei, unabhängig, selbstbestimmt, anarchisch, sinnsuchend. Ein Sterntaler-Mädchen. Eine kleine Prinzessin. Pippi Langstrumpf. Ronja Räubertochter. Huckleberry Finn. Als "Herrscherin des Universums" bezeichnet sie sich selbst.
Isa liegt oft im Gras, schaut in den Himmel, macht sich Gedanken über sich selbst, ihre relative Verrücktheit, die Zeit, den Tod und nimmt Kontakt zu den Sternen auf. Und hin und wieder auch zu ihrem Autor: "Ich stelle mir vor, wie mein Leben weiter gehen würde, wenn's nicht mein Leben wäre, sondern ein Roman."
Herrndorf musste diese Lebens-Bilder unvollendet lassen, weil ihn eine Krebs-Diagnose ereilte. Und er ist selbst einer, der nicht abwartet, bis ihm der Hirntumor den Verstand raubt, sondern 2013 lieber den selbstbestimmten Freitod wählt. Sein letztes Fragment besteht aus einer Aneinanderreihung von Szenen und Erlebnissen, die Robert Koall fürs Theater aufbereitet hat. Isa nimmts, wie's kommt.
Das Leben als permanentes Unterwegssein. Ohne Anfang, ohne Ziel. Immer auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Verrücktsein, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, zwischen naturgetreuer Wahrnehmung und märchenhafter Einbildung. Irgendwo dazwischen schwirrt sicherlich auch der Autor herum. Welches Verhältnis zwischen ihm und der Protagonistin besteht, bleibt offen. Ist sie, was er gern sein würde? Angstfrei? Unangepasst? Frech? Dreist? Euphorisch? Impulsiv? Ungebunden? Aber vor allem: lebendig?
Auch in der Tübinger Inszenierung von Carina Riedl bleiben die aneinandergereihten Szenen zusammenhang- und meistens auch pointenlos. Trotzdem wird man immer wieder in die rätselhaften Geschichten hineingesaugt, die meistens in vagen Andeutungen enden.
Ist dieser Schiffskapitän nun tatsächlich ein untergetauchter Bankräuber - oder macht er sich nur wichtig? Befreit Isa tatsächlich alle Schweine aus dem Tiertransporter? Und selbst wenn sie sich anscheinend völlig angstfrei durchs Lebensgestrüpp bewegt: Als Zuschauer befürchtet man ständig Schlimmes.
So spielt die Inszenierung mit den Ängsten der Zuschauer. Die ja wie so oft unbegründet sind. Denn immer wieder befreit sich Isa aus ihren gruseligen Begegnungen durch ihr unkonventionelles Verhalten.
Regisseurin Carina Riedl lässt die vielschichtige Isa gleich von drei Schauspielern spielen, die sich als Ich-Erzählerinnen abwechseln oder in die Rollen der Anderen begeben. So wie der Text immer vage bleibt, die Sprache ständig wechselt, bleiben auch die jeweiligen Funktionen der drei Isas in der Schwebe.
Schließlich lässt sich auch Isas Charakter nicht eindeutig festlegen. Sie ist eine rotzige Rumtreiberin, eine unbegleitete Minderjährige, ein irgendwie altersloses Mädchen, das gerne ein Junge wäre, mal kindisch, mal trotzig, mal altklug oder weise. Auf jeden Fall aber ist sie radikale Tierschützerin, zudem eine romantische Naturliebhaberin und Poetin.
Anfangs ist es Laura Sauer, die am ehesten den Part der euphorischen Draufgängerin spielt. Am liebsten klettert sie auf der Bühne von Fatima Sonntag zwischen einem Sammelsurium aus Zeug, Ventilatoren (Luft!), Gartenstühlen und Klamotten auf einem leeren Bilderrahmen herum. Mit Aquarienkies und Sand wird Gewitter und Natur gespielt.
Rolf Kindermann zeigt mit seinem Gitarrenspiel eine eher verträumte Isa. Wenn er nicht gerade den kauzigen Kapitän oder den prolligen Lkw-Fahrer spielt. Hildegard Maiers leicht trotzige, resolute und verrückte Isa verliert sich gerne in Erinnerungen. Oder reißt Kalenderblätter ab. Wirft Sandsäckchen aus dem Fenster.
Und wie das so ist als dreigespaltete Figur: Hin und wieder muss man sich zu einer Einheit formieren. Und so takten sich auch mal sechs unterschiedlich getaktete Taktelle zu einer Einheit. Danach werden wieder gemeinsam Dias geschaut: Bilder einer großen Reise.
Schwäbisches Tagblatt, 15. Februar 2016
Das Fenster ins Innere der Welt
(von Peter Ertle)
Am LTT hatte eine Theaterfassung von Wolfgang Herrndorfs Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe" Premiere
Tübingen. Da ist sie also wieder, Isa, das Mädchen aus "Tschick". Wolfgang Herrndorf begann in den letzten Jahren seines Lebens, parallel zum Roman "Sand" und zum Tagebuchblog "Arbeit und Struktur", ein weiteres Werk, einen Roman, erzählt aus der Perspektive Isas. Was heißt Roman. Ein Bilderbogen eher, plastisch, gemalt, stark atmosphärisch, witzig, insofern wie Tschick. Aber fremder, eigensinniger, unkonventioneller, more advanced. In diesem Sinne also kein Tschick 2. Und schon deswegen werden diese erwachsenen "Bilder deiner großen Liebe" auch am LTT schwerlich der Nachfolgehit für jenes Stück, das seit drei Spielzeiten den Kinder- und Jugendevergreen gibt.
Er muss sich ein bisschen eingrooven, Herrndorf, so richtig packt einen sein nachgelassener schmaler Band erst, als er sich zur Struktur der short cuts entschieden hat, die sich wie eine Perlenkette aufreihen. Auch mit Robert Koalls Stückfassung und der Inszenierung Carina Riedls wird man nicht gleich - und auch nie ganz - warm. Riedl spielt mit jeder Menge von Verweisen, verwendet ein vielbesprochenes Gelb aus dem Buch unübersehbar als Kostümfarbe (Ausstattung: Fatima Sonntag), Isas Name wiederum ist mit lila Leuchtröhren am Bühnenrand aufgezeichnet, wie der Klingelschildname dieses Herrn Schedels in einer der Geschichten, lila auf Gelb.
Im Theater kann man nicht mit einem LkW über die Bühne fahren und auch ein echter Rasenmäher würde ohne Gras irgendwie seltsam wirken - um nur mal zwei der Gegenstände aus dem Buch zu benennen. Also: Reduktion, Symbole, Stellvertreter auf der Bühne. Sie geraten mal einen Tick zu illustrierend - ist die Rede vom Zelten, kriecht Rolf Kindermann unter ein zeltförmig abstrahiertes Bühnenelement - dann wieder gewagt freischwebend - Laura Sauer hängt eine ganze Weile kopfüber. Dann wieder sinnig: Überlegt sich Isa, wie die Geschichte jetzt in einem Roman weitergehen könnte, sehen wir die drei Schauspielerköpfe in einem Bilderrahmen.
Ja, Isa ist in drei Schauspieler aufgespalten (die alle auch sämtliche anderen Personen des Stücks spielen), der Vorteil: So kann Isa 1 etwas sagen, das Isa 2 zum Beispiel mimisch konterkariert, während Isa 3 eine weitere, zusätzlichen Bedeutungsebene agiert - das vermehrt die Ausdrucksmöglichkeiten.
Und es sind tolle Geschichten: Die Rasenmähergeschichte ein angedeuteter Psychodrama-Krimi - Christoph Waltz wäre neidisch auf Rolf Kindermanns Lächeln. Andere Geschichten, wie die, in der Isa einen toten Jäger (vermutlich Herzinfarkt) vor erschossenem Reh findet, oder jene, in der sie plaudernd mit einem taubstummen Kind durch die Gegend zieht, erinnern einen an den schwarzhumorigen Karikaturisten Herrndorf - nur dass er dieses Tableau hier eben beklemmend weiter führt.
Nicht nur Natur, Kino und Karikatur werden hier in Literatur verwandelt. Etwas überraschend wird auch eine Brechtsche Gedichtidee in einer Geschichte weitergeführt: Was Brecht in der Erinnerung an die Marie A. der Pflaumenbaum ist, ist Herrndorf das Streichen mit der Handfläche über die Ähren auf dem Weg zur Geliebten - die einzige Erinnerung an die verflossene Liebe. Die Stelle ist zum Heulen schön.
Bisweilen gelingt der Inszenierung, unterstützt durch Rolf Kindermanns sphärische E-Gitarre, so etwas wie Magie. Blöd vielleicht, dass bei Frauen, die aus Fenstern schauen, sofort Hopper durch den Kopf schneit, denn hier ist das Bild ganz anders, aber auch diese Inszenierung macht tatsächlich ein Sehnsuchtsfenster auf, inclusive rausblickender Frau. "Geht man durch die Tür, dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern", stellt Isa einmal fest. Insofern steigt Herrndorf mit diesen Geschichten aus dem Fenster, hat aber die Welt vor der Türe fest im Blick. Ein Traumspiel, teils erratisch und absurd, aber mit psychorealistisch-filmischen On-the-road-Sequenzen.
Dass Herrndorf Typen und Situationen zeichnen kann, zeigt er unter anderem beim LkW-Fahrer, eine Stelle, die auch der Inszenierung großartig komisch gerät. Davon abgesehen wundert man sich bisweilen, welche Textstellen Robert Koalls Fassung streicht. Und über das ein oder andere Inszenierungsdetail.
Genau. Um mal beispielhaft detailpedantisch zu werden: Isa sagt einmal über einen kleinen Jungen, der ihr entgegenkommt, dass er ein Stück nach rechts und sie ein Stück nach links, dann sie ein Stück nach rechts und er ein Stück nach links geht. Sie versperrt ihm also den Weg, indem sie immer da hin geht, wo er hingeht. Isa ist in dieser Szene hoch aggressiv. Hildegard Maier nun illustriert diesen Text, indem sie lächelnd mit dem rechten Fuß eine sanfte Schrittandeutung nach rechts, mit dem linken eine nach links macht.
Entweder wollte man da etwas gegen den Strich spielen (aber warum?) oder, wahrscheinlicher, der Regie war das Bild, das Herrndorf im Kopf hatte, gar nicht klar. Das geht einem noch ein paar Mal so an diesem Abend. Und dabei fällt einem jedes Mal ein, dass Herrndorf kein Theaterliebhaber war und große Vorbehalte gegen das moderne Regietheater hatte.
Auch das minutenlange Abreißen von Kalenderblättern und das ebenfalls minutenlange Multi-Metronomgeklacker als alleiniger Schauspielakt ist so eine Sache. Stimmt schon, Herrndorfs Schreiben an diesem Buch war auch ein Lauf gegen den Tod, die Waffe geistert plus Schießübungen durch den Roman. Und das Vergehen der Zeit ist in diesen Geschichten ein Riesenthema. Aber das ist ein Riesenthema in der Hälfte aller Literatur. Herrndorfs Krankheit und sein Freitod, so tragisch und romanhaft sie selbst auch wirken, sollten seinen Texten nicht als Existenzangstverstärker unterlegt werden - bei Kleist macht man das doch auch nicht. Irgendwann ist es mit uns allen vorbei. Das ist die Folie. Sie spricht aus den Geschichten selbst und muss nicht durch die persönliche Leidensgeschichte des Autors beglaubigt und extra herausgestellt werden.
Herrndorfs Geschichten beleuchten alle die Schönheit, Schrecknis und Verlorenheit des Lebens. Isa oder die ihr begegnenden Figuren wollen ja ständig irgendwo aufspringen, dazugehören, mitmachen, dabei sein, suchen einen Anhang, einen Beistand, einen Freund. Einmal lässt der Autor einen Schiffer sagen: "Das Leben ist schön. Aber dass alles vorübergeht und es keinen Halt gibt, ist nicht schön." Aus diesem Figuren-Statement und der Titel-Reflexion schließt Dramaturg Lars Helmer im sonst schönen Programmheft, dass Herrndorfs große Liebe dem Leben galt. Mit Verlaub, da verwechselt er ihn mit Roger Willemsen. Dass Herrndorf "keine Angst vor dem Leben, vor dem Tod, vor der Endlichkeit" hatte (auch das steht da) würden wir uns jetzt nicht mal über Willemsen zu behaupten trauen. Wer wie ich mal einen Abend lang mit Herrndorf gequatscht hat, ist nicht gleich prädestiniert, als sein posthumer Pressesprecher aufzutreten, aber: Dass das Leben seine große Liebe ist, hätte er möglicherweise "Poesiealbumsquatsch" genannt. Ja, das klingt eher nach ihm.
Info: Die nächsten Aufführungen am 18. und 25. Februar sowie am 9. und 31. März um 20 Uhr, LTT/oben.
Unterm Strich
Isa, das Mädchen aus dem Bestseller "Tschick", nimmt in Wolfgang Herrndorfs nachgelassenem Romanfragment reißaus in die Welt. Atmosphärisch dichter, nicht immer einleuchtend inszenierter Reigen poetischer Geschichten, absurd, komisch, schön, traurig.
Reutlinger General-Anzeiger, 15. Februar 2016
LTT Tübingen zeigt „Bilder deiner großen Liebe“
(von Nadine Nowara)
Wolfgang Herrndorfs letzter, unvollendeter Roman
Isa bricht aus der Klappse aus und macht sich auf den Weg. Sie läuft einfach drauflos ohne jeglichen Plan, begegnet zwielichtigen Gestalten, wird von Kindheitserinnerungen heimgesucht und macht sich Gedanken über die immer weiter fortschreitende Zeit und den Tod. »Bilder deiner großen Liebe« (Bühnenfassung: Robert Koall), der letzte, unvollendet gebliebene Roman des »Tschick«-Autors Wolfgang Herrndorf, der sich 2013 im Endstadium einer unheilbaren Krebserkrankung erschoss, feierte am Samstag Premiere im LTT.
Von Nadine Nowara
In dem Stück in der Regie der Österreicherin Carina Riedl geht es um mehr als um die Weltsicht eines jungen Mädchens. Es werden vielmehr existenzielle Fragen aufgeworfen. Isa wird von drei Schauspielern verkörpert: Rolf Kindermann, Hildegard Maier und Laura Sauer. Durch den fragmentarischen Charakter des Textes ist Zerrissenheit Programm. So springt man von »Bild« zu »Bild« in der Inszenierung.
Das spielfreudige Ensemble hält dabei durchweg die Spannung und macht neugierig auf die nächsten Erlebnisse der jungen Isa. Die experimentellen Klangcollagen, die sie erzeugen, tragen zur Stimmung bei. Von melancholischen E-Gitarrenmotiven über unangenehm tickende Metronome bis hin zu Störgeräuschen wird der Zuschauer immer wieder überrascht und auch irritiert.
Die Weite der Landschaften, durch die Isa wandert, und die Enge des Theaterraums auf der Bühne LTT-Oben (Ausstattung: Fatima Sonntag) scheinen auf den ersten Blick im Kontrast zu stehen. Aber wie weit die Gedanken Isas auch fliegen oder fliehen können, so irren sie auch manchmal ziellos im Kreis herum und stoßen an Grenzen. An diesem Abend stehen klaustrophobische Gefühle in dunklen Kellern neben der Erfahrung der unendlichen Weite des Sternenhimmels.
Der Text als ganzer wirkt wie ein langer Bewusstseinsstrom, der an den entscheidenden Stellen abgeschnitten wurde. Bedrohliche Situationen lösen sich einfach auf und Isa begibt sich zur nächsten »Station«. Immer wieder tauchen Themen auf wie Tod oder die Angst davor, verrückt zu werden. Hier kommt man nicht darum herum, Parallelen zum Leben des Autors Herrndorf zu ziehen, der sich kurze Zeit nach dem Verfassen des Romans aufgrund eines Hirntumors im Endstadium das Leben nahm.
Insgesamt könnte man diesen Theaterabend als eine Meditation über das Dasein beschreiben. Trotz der inhaltlichen Schwere scheinen immer wieder Humor und die Freude am Leben durch. Dies trägt zur Faszination des Stückes bei, das einen an einigen Stellen ratlos zurücklässt. Aber eine Suche nach dem Sinn trägt das Verlorensein eben immer in sich.
Stuttgarter Nachrichten, 15. Februar 2016
Wolfgang Herrndors letzter Roman wird Theaterstoff
(von Thomas Morawitzky)
Bevor Wolfgang Herrndorf seinen letzten Roman „Bilder einer großen Liebe“ vollenden konnte, nahm sich der schwerkranke Autor das Leben. Nun bringt das Landestheater Tübingen das Fragment in einer kleinen, unkonventionellen Inszenierung auf die Bühne.
Schließlich steht es auf der Leinwand, in Blau hingekritzelt: „Das Einzige, das hier passiert, ist Zeit.“ Die Zeit, die vergeht, war für Wolfgang Herrndorf, als er an seinem letzten Roman „Bilder einer großen Liebe“ schrieb, Zeit, die auf den Tod zuführte und den Tumor in seinem Kopf wachsen ließ. Bevor er sein Buch vollenden konnte, tötete er sich im August 2013.
Das Landestheater Tübingen bringt das Fragment nun in einer kleinen, unkonventionellen Inszenierung auf die Bühne. Das Publikum darf lachen, Überschwang und Wildheit bewundern, wird aber auch auf die Probe gestellt. Da schläft Isa, die Heldin, bedeckt von ihrem goldenen Anorak, auf dem Boden – so lange, bis jedes der sechs Metronome, die sie zuvor angestoßen hat, zur Ruhe gekommen ist: Zeit, die sehr langsam vergeht, mit lautem Ticken.
Rolf Kindermann, Hildegard Maier und Laura Sauer spielen und lesen Auszüge aus Herrndorfs Buch, Isas Tagebuch. Eine klare Trennung der Rollen gibt es nicht – jeder kann zu Isa oder einer anderen Figur werden. Zumeist ist es Sauer, die die Heldin jugendlich frech darstellt; Maier gibt ihr eine weichere, manchmal auch bitterere Seite. Und Kindermann verwandelt sich vor allem in die Männer, denen die verrückte Ausreißerin begegnet: den Schiffer, der ein Bankräuber war, den Schriftsteller, vor dem sie flieht, den Fernfahrer, der sich vor ihr entblößt. Die drei Darsteller lassen sich ganz auf die schräge Weltsicht Wolfgang Herrndorfs ein.
Carina Riedls Inszenierung folgt der Fassung, die Robert Koall, Freund des Autors, erstellte. Die Bühne bleibt dabei Baustelle. Hier und dort liegen Requisiten, stehen Farbkübel; es gibt einen alten Filmprojektor, der trübe Sehnsuchtsbilder auf die Leinwand wirft. Gespielt wird bei diesem Stück vor allem mit der Fantasie: Die Kraft des Textes ist es, die die Bilder einer großen Liebe heraufbeschwört.