Eine Tragödie der Erkenntnis von Albert Camus · 16+
Schwarzwälder bote, 19. Februar 2025
Tiefe Verachtung verpackt in Silberfolie
(von Christoph Holbein)
Was geschieht, wenn sich maßloser Machtwille paart mit Wahnsinn, wenn ein Politiker nicht mehr durch Ethik, Gesetze und Moral gezähmt ist, das zeigt Albert Camus in seinem Stück „Caligula“ auf. Regisseur Dominik Günther hat das Schauspiel in der Werkstatt des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) inszeniert – mit viel Kreativität.
Reutlinger General-Anzeiger, 11. Februar 2025
Der Kaiser, der den Mond haben wollte
(von Thomas Morawitzky)
Albert Camus’ »Caligula« über den römischen Kaiser wird am LTT zum großen Abend für Jonas Hellenkemper
Wenn Caligula schläft, bedeckt ihn ein matt schimmerndes, schwarzes Tuch. Das Tuch wird er um sich schlingen, wenn er kreischend über die Bühne rennt. Er trägt es als Mantel, er zerrt es zuletzt über die silbernen Steine, Stelen, das silberne Pferd, ehe er wissenden Auges in den Tod geht. Caligula wollte Gott sein. Seine Gefolgsleute strafen ihn so blutig und grausam, wie er selbst regierte. Und er begrüßt es.
Das dunkel glänzende Tuch, das durch Dominik Günthers Inszenierung von Albert Camus’ Drama weht, könnte der Wahnsinn sein, in den sich der römische Kaiser verrannte. Aber vielleicht, und dies legt Camus nahe, war Caligula gar nicht verrückt. Vielleicht war er so hellsichtig wie hochmütig. »Eine Tragödie der Erkenntnis« – so heißt das Stück im Untertitel.
Sandra Fox hat Bühne und Kostüme ganz in Silber und matten Anthrazittönen gehalten. Wie ein retrofuturistischer Disco-Chic wirken diese Kostüme. Zu Beginn ist die Bühne noch leer, bis auf Caligula, der dort liegt, unter seinem Tuch. Caesonia (Rosalba Salomon), seine Frau, und Scipio (Lucas Riedle), sein Jugendfreund, umkreisen ihn.
Caligula ist ein noch junger Mann. Drusilla, seine vergötterte Schwester, ist tot. Drei Tage lang rührt er sich nicht. Er spürt die Willkür des Schicksals, die Bedeutungslosigkeit des Lebens. Zum Schicksal will er sich also selbst erheben und beginnt, wahllos Mordbefehle auszusprechen, demütigt die Bürger Roms, befreit die Sklaven, schickt den Senat ins Hurenhaus. »Bring mir den Mond!«, befiehlt er seinem Diener Helicon (Andreas Guglielmetti). »Das ist etwas, das ich noch nicht hab!«
Immer mehr wird sich der Raum um Caligula füllen – mit den Stelen, den Steinen, die der Kaiser schleppen lässt, einem übergroßen Fuß, wenn er sich die Nägel anmalen möchte, einem Pferd. All das schimmert silbern wie im Mondlicht.
Aber die Stelen sind Trümmer, die Steine sind aus Pappe. Cassius Chaera, ein Prätorianer, trägt Brille und Hemd. In Rom wird kühl und modern getanzt. Einmal holen Caligula, Caesonia und Helicon sich den Applaus des Theaterpublikums, indem sie eine Britney-Spears-Nummer aufführen: »Oops…! I did it again!« Die Prätorianer auf der Bühne dagegen schauen angewidert drein. Antike und Gegenwart vermischen sich. Gelegentlich werden Geräusche eingespielt, Stimmen, die eine Mondlandung erahnen lassen – vielleicht denkt man hier an reiche Menschen von heute, die in den Weltraum reisen.
Caligula, so wie Camus ihn zeichnet, besitzt jedoch mehr Tiefe, Seele, als man sie einem Trump oder Musk je zutrauen würde. Er ist eine tatsächlich schwierige, philosophische Figur. »Es fällt mir leicht zu töten«, sagt er, »da es mir leicht fällt, zu sterben.« Dass es eine andere, viel bescheidenere Form gibt, das Leben anzunehmen, wird er von Scipio erfahren. Lucas Riedle gibt Caligulas Freund und Gegenspieler ruhig, besonnen, mit vorsichtiger Zurückhaltung.
Jonas Hellenkemper derweil spielt den Caligula mit all seinen Ambivalenzen, zeigt ihn jungenhaft triumphierend, böse, willkürlich, bitter und immer gehetzter, je mehr er seinen eigenen Tod herbeisehnt. Es gibt Momente, in denen das Ungeheuer kindlich und verletzlich wirkt.
Rosalba Salomon als Caesonia schwingt die Peitsche, bleibt dem Kaiser treu, hart und vulgär. Helicon an ihrer Seite hasst die vornehme römische Gesellschaft für ihre Verlogenheit. Gilbert Mieroph, ein Patrizier, wird von Caligula gedemütigt, muss zusehen, durch einen Spalt im Vorhang, wie seine Frau Schlimmes erleidet. Und Rolf Kindermann, als Chaera, blickt in einer Szene nur sehr, sehr müde zu Caligula hin und sagt: »Weil ich nicht gern lüge.«
Etwas bemüht wirkt er, der Versuch, Camus’ Drama an der Gegenwart anzudocken – davon abgesehen bietet dieser Abend eine beeindruckend abgründige Vorstellung mit einem starken Ensemble, einem starken Hauptdarsteller.
Schwäbisches Tagblatt, 10. Februar 2025
Wer links raus geht, wird ermordet
(von Peter Ertle)
Ähnlichkeiten und Unterschiede zu heutigen Willkürherrschern: Im LTT tobt nun Albert Camus' Caligula durch sein römisches Kinderzimmer.