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Skurrile Komödie mit Energie zur Weltveränderung von David Paquet · Aus dem Französischen von Frank Weigand · 12+
Schwäbisches Tagblatt, 22. Mai 2024
Die Welt als farbig ausgeleuchtetes Klo
(von Dorothee Hermann)
Unterm Strich
Führt teils drastisch vor, dass Ausruhen vom Weltuntergang nicht mehr geht, und dass Jugendliche ziemlich viel von dem schnallen, was gerade falsch läuft in der Welt, in der Erwachsene vielfach auch nicht mehr weiterwissen. Das eindrucksvolle Bühnendesign mit der geschmeidig changierenden Farbdramaturgie verweist auf die Wandelbarkeit der Verhältnisse trotz aller Abstürze.
Zum Glück bleibt nicht alles so klaustrophobisch, wie es zu Anfang scheint: Da wirkt die Bühne wie ein leerer, dunkelgrauer Schacht, der sich nach hinten verengt und auf ein Klosett zuführt, sanitärweiß mit neongrüner Toilettengarnitur samt farblich abgestimmtem Klopapierhalter. Das Klosett ist positioniert wie ein Thron, ohne dass jemand in Sicht wäre, der oder die sich darauf niederlassen würde.
So beginnt das Jugendstück „Das Gewicht der Ameisen“ des Kanadiers David Paquet, das den Weltzustand als Endzeit-Farce vorführt. Vor kurzem brachte das Junge LTT es in einer energiegeladenen Inszenierung auf die Bühne, bei der man dem Jugendensemble des Landestheaters dabei zusehen konnte, wie im lähmenden Horror der Verhältnisse zarte Veränderungsimpulse aufkommen. Der Widerstand geht von den Jugendlichen aus, nicht von den ziemlich abgehalfterten beziehungsweise unglücklichen Erwachsenen im Stück.
Das kalte Grau des Auftakts wird bald von magischen Farbwerten illuminiert. Wie von Zauberhand gestaltet die eindrucksvoll changierende Farbdramaturgie das Geschehen mit und blendet Szenen ineinander, weitet oder schrumpft den Raum (Bühne und Kostüme: Anne Horny).
Vorerst hat Schülerin Jeanne (Anna Golde) nicht einmal auf dem stillen Örtchen eine Rückzugsmöglichkeit. Über Lautsprecher dringt die Stimme des Direktors bis in die Schultoiletten. Doch vor allem fühlt Jeanne sich von Werbeplakaten bedrängt, die von den Wänden scheinbar auf sie einbrüllen und vordergründig unverfängliche Produkte wie Kaugummi oder Shampoo derart penetrant anpreisen, bis sie schreit: „Bist du ein Werbeplakat oder ein Porno?“ In Jeans-Bermudas, Bomberjacke und streng zurückgekämmtem Haar ist sie gendermäßig divers gestylt.
Sie durchschaut die Werbebotschaften, die ihr das Gefühl geben, sie sei hässlich und müsse irgendetwas kaufen, um schön zu sein. Als sie die Plakate mit einem Stift beschmiert, sitzt sie wenig später vor dem Schuldirektor (Alvaro Rentz). Der ist seinerseits ein eher sensibler Mensch, findet sich aber als Leiter einer „der zehn schlechtesten Bildungseinrichtungen des Landes“ wieder.
Ihr Protest ist Jeannes Methode, um dem ganzen Universum zu zeigen: „Fuck you! Ich bin schon schön!“ Dass ihre Wut als behandlungsbedürftige Überaggression aufgefasst wird und sie bei einer seifig-salbadernden Therapeutin landet, kann man einen Tick zu viel finden.
Der Direktor verfügt: Zur Strafe soll Jeanne Schülersprecherin werden. Ein weiterer Kandidat ist der verträumte Olivier (Michael Mayer), der die Welt retten möchte, und zwar am liebsten, ohne dafür vor größeren Menschenansammlungen sprechen zu müssen.
Auch seine Figur ist divers angelegt: Das lange Haar teils hochgesteckt, trägt er einen Faltenrock über der grauen Hose und dazu neongrüne Crocs, vielleicht die Signaturfarbe des Stücks, schrill wie ein Aufschrei oder hoffnungsgrün? Auch ihn bedrängen von allen Seiten Stimmen. Das wirkte so eindringlich, dass manche Premierenzuschauer den Kopf drehten, um zu lokalisieren, wo genau die Stimmen herkamen. Keiner rechnet mit Überraschungsbewerberin Maike (Sophie Aouami), leicht korrumpierbar, lethargisch, träge. Sie setzt auf die banale Strategie: Überwältigung durch Fressen.
Mit der Zeit franst das Stück ein bisschen aus: Etwas weniger aus der Enzyklopädie des nutzlosen Wissens, die Olivier konsultiert, um Ansatzpunkte für die Rettung des Planeten zu finden, wäre mehr gewesen. Ganz wie in der realen Welt weiß man zeitweise nicht, wohin das alles führen soll. Offenbar sind alle auf der Suche und haben mit Problemen zu kämpfen, Jugendliche wie Erwachsene. Letztere sind genauso ratlos und ganz sicher kein Vorbild, sondern Teil des Problems, wenn nicht sogar dessen Ursache.
Reutlinger General-Anzeiger, 22. Mai 2024
(von Thomas Morawitzky)
»Das Gewicht der Ameisen« am LTT ist ein groteskes Schulschauspiel, das Zukunftsängste kraftvoll artikuliert
Der Rektor scheint gar stolz zu sein. Er schaut auch reichlich schräg aus, mit seinen langen Haaren, dem angeklebten Schnauzer, der drahtigen Brille und dem gebatikten Hemd. Er schnappt sich das Mikrofon, das von der Decke hängt, und sagt: »Wir sind letztes Jahr in die Top 10 der schlechtesten Schuleinrichtungen des Landes gekommen.« Buhrufe brachen schon zuvor aus der Kulisse hervor.
Eine Schule, die alles falsch macht, braucht Geld, und das bekommt sie: Ein Sonderzuschuss ist da, er wird verwendet für »Die Woche der Zukunft«, in der die Schule über eben dieses Thema nachdenken soll. Das Bühnenbild auf der Werkstattbühne des LTT besteht aus grauen, fliehenden Wänden und drei Toilettenschüsseln: Da deuten sich wahrlich Perspektiven an. »Optimismus«, tönt der Schulleiter, »ist ein Muskel, den man trainieren kann.«
»Das Gewicht der Ameisen« ist ein Stück des kanadischen Bühnenautors David Paquet. Paquet schreibt auf Französisch, lebt in Québec und erhielt in seiner Heimat für »Le poids des fourmis« – so der Originaltitel des Stücks – einen wichtigen nationalen Preis. In Deutschland war das Stück erstmals 2020 am Düsseldorfer Schauspielhaus zu sehen. In Tübingen ist es grell, bitterböse, mitunter sehr komisch und macht dennoch Hoffnung. Paquet hat eine scheinbar hundsgemeine Groteske geschrieben, eine bittere Absage an Fortschrittsdenken, Kapitalismus, Konformismus. Die armen Schüler, die im defizitären Schulwahnsinn gefangen sind, wissen zuletzt aber wohl, dass sie, als Einzelwesen, einen Wert besitzen. Sie haben davon gelesen, in der »Enzyklopädie des nutzlosen Wissens«, einem Buch, das eine Buchhändlerin dem Schüler Olivier zugesteckt hat. Ameisen mögen klein sein, steht zum Beispiel darin, aber alle Ameisen der Welt wiegen gemeinsam mehr als die Menschheit.
»Das Gewicht der Ameisen« streckt der Welt die Zunge heraus und macht Mut dazu, Widerstand zu leisten. Bei der Premiere ist die LTT-Werkstatt voller Schülerinnen, Schüler: Sie wissen Bescheid, sie sind begeistert. Swantje Lena Kleff inszeniert zum ersten Mal am LTT; Anne Horny schuf Kostüme, die zur schrillen, temporeichen Inszenierung passen. Michael Mayer ist Olivier, der Schüler, der verzweifelt, er trägt einen Rock, er träumt, dass er eine löchrige, kaputte Erde geschenkt bekommt, er berichtet schreiend von seinen Angstvisionen: »Ich sehe Babys am Spieß, die über einem Lagerfeuer gebraten werden!«
Anna Golde ist aggressiv, will nicht schön sein, will schön sein, wie sie ist, trägt kurze Hosen, Anorak. Sophie Aouami schließlich ist die Pizza-mampfende Spitzenkandidatin um den Posten der Schülersprecherin, mit Rock und buntem Schlips schaut sie in strahlender Überheblichkeit zum Mikrofon auf, sagt nichts Wichtiges, tritt wieder ab, kehrt wieder in mehreren anderen Rollen – als Bürgermeisterin, Psychologin, etc. Und Alvaro Rentz, der Schulleiter, trägt eine orange Fliege auf der Brust und manchmal einen gelben Schutzhelm. Alldieweil schauen die Schauspieler mit seltsamen Brillen um die Ecke, und irgendwo grummelt, schimpft immerzu die unsichtbare Schulgemeinschaft.
Olivier und Jeanne sind Jugendliche, die sehr unterschiedlich reagieren auf die?unsinnige Welt um sie her – Michael Mayer und Anna Golde geben die zentralen Figuren im Schulzirkus sehr überzeugend. Bei »Das Gewicht der Ameisen« gibt es jede Menge harte Worte, Wutschreie, Angstschreie, Anklagen, aber auch Nachdenklichkeit. Olivier vergibt zuletzt »Kackmedaillen« an Millionäre, Rassisten, Billig-T-Shirts, Regierungen, »an das gesamte Bildungssystem«. All das ist komisch, tragisch und besitzt genügend Wut, um tatsächlich zu provozieren: »Wir werden alle sterben, verbrannt wie Marshmallows.«
Online-Portal: cul-tu-re.de, 20. Mai 2024
(von Martin Bernklau)
Auf der Tübinger Werkstattbühne inszeniert Swaantje Lena Kleff David Paquets skurrile Komödie „Das Gewicht der Ameisen“
Es gibt viel zu tun, an allen Ecken und Enden. Packen wir’s an! Das ist die Botschaft, die Message, die der Franco-
Kanadier David Paquet mit seinem „Gewicht der Ameisen“ rüberbringen will, einer wütenden, aber auch poetisch verzweifelten „skurrilen Komödie“ für Menschen ab zwölf. Swantje Lena Kleff inszeniert das Stück am Jungen LTT – in der präzisen, klaren und farbstarken Ausstattung von Anne Horny – mit einem tollen Schauspieler-Quartett in furiosem Tempo.
„Scheiß auf Werbeplakate!“ Mit Kleinkram, einer absoluten Nebensächlichkeit auf dem Schülerklo, beginnt dieses Stück über die zornige und die sanfte Art von Aktivismus, das in seinem unumwundenen Appell-Charakter an die besten Zeiten des Berliner „Grips-Theaters“ erinnert, aber nicht stur auf den Schmalspur-Gleisen eines einzigen Themas (etwa des Klimas) vorwärts stampft, sondern sich verzweigt und dabei der Sache auf ihren Grund geht: der Motivation, der „Energie zur Weltveränderung“.
Jeanne (Anna Golde), so um die 15, ist zornig, ist wütend. Schwachsinnige Werbeplakate machen sie, die wegen mangelnder Affektkontrolle eh beim Psycho in Behandlung ist, rasend und rebellisch. Dieser kapitalistische Kommerz selbst auf dem Scheißhaus will ihr einreden, sie sei nicht schön genug. Ihre Wut auf dieses System knallt sie dem Direktor oder der Bürgermeisterin vor den Latz.
Olivier (Michael Mayer) geht anders mit seinem Leiden an dieser kaputten Welt um. Er leistet passiven Widerstand in einer großen Verweigerung, labt sich verträumt-poetisch an seiner „Enzyklopädie des unnützen Wissens“ um Ameisen, Schnecken, Koalas und pflegt einen unerschütterlich sanften Optimismus. Aber auch er braucht therapeutische Hilfe.
Die Erwachsenen, in verschiedenen Rollen von Sophie Aouami und Alvaro Rentz gegeben, sind samt und sonders gebrochene Figuren, die sich keinerlei Illusionen mehr machen. Der Direktor will seinen Schülern noch ein paar Sachen bieten und leiert eine Schülersprecher-Wahl und ein Kostümfest an. Daneben pflegt er hingebungsvoll seine demente und moribunde Mutter. Sein finaler Auftritt im Seelöwen-Kostüm ist eine anrührende Pointe. Oliviers Mutter trinkt, lebt riskant und hält es mit dem Laissez-faire: Mit 15 solle man „ficken, rauchen, saufen und Ladendiebstähle begehen“, findet sie.
Die Wahl gewinnt eine dritte Kandidatin: Die wohlstands-verwahrloste Maike – von Sophie Aoiuami wie alle ihre Rollen in klarer Kontur überzeichnet, aber noch nicht zur lächerlichen Karikatur überspielt – hatte ein einziges, ganz simples Programm: Pizza für alle, von den Eltern gesponsert. Doch Jeanne und Olivier, lassen sich nicht entmutigen. So vollkommen gegensätzlich ihre Mittel und Wege zur Weltveränderung, zum Versuch der Weltrettung sind, sie verbünden sich sogar.
Die Kostüme und Masken sind klasse. Aber warum man, quasi automatisch der unvermeidlichen Trans-Agenda gehorchend, Jungs in Frauenkleider und Meedls in kurze robuste Hosen stecken muss, erschließt sich nicht als unbedingt notwendig, wo doch Jeanne eh die taffe und harte, also paradoxerweise eher testosteron-gesteuert zur Gewalt neigende, Olivier die zarte und romantische, die „weibliche“ Seite der Jugendjahre, der Jugendseele zeigt.
Gegen Ende wird der Text vielleicht etwas plakativ und fällt zuweilen in einen Predigt-Ton. Es wird womöglich auch etwas viel und etwas vulgär gebrüllt in diesem Stück, was sich die Stimmen hin und wieder überschlagen lässt und die Worte keineswegs verständlicher macht. Anna Golde wird zwar auch manchmal laut, zeigt aber, was eine gute Stimm- und Sprachbildung leisten kann: Intensität ohne Geschrei.
Die sich zuspitzende Bühne schafft perspektivische Tiefe. Das Licht gibt sorgsam kalkulierte Farbe, sogar Bewegung bei den Traumwelten. Die Musik (Ludwig Peter Müller) spielt sich nicht zu sehr auf. Songs und Choreo, auch das chorische Sprechen – allesamt als Zeichen von Formation und Kollektivierung lesbar und kritisierbar – gehören nicht nur am Jungen LTT zum Standard dessen, was halt gegenwärtig en vogue ist. Doch die Inszenierung wartet mit einer ganzen Reihe weiterer Ideen auf, wie etwa der Kloschüssel als drastischem Leitmotiv für diese Scheiß-Welt. Nicht alle sind in ihrer Symbolik mühelos zu entziffern und zuzuordnen, etwa der Boxer am Ende.
Vielleicht ist „Das Gewicht der Ameisen“ in seinen Aussagen, seiner Botschaft etwas unklar, unübersichtlich und letztlich auch unentschieden, in seinen Bildern ein wenig überladen – Kinder-und Jugendtheater braucht ja bekanntlich noch klarere Kontur als das Drama für Erwachsene. Aber das liegt vor allem am Stück, das Wert aufs Offene legt und sich weder bei den Baustellen festlegt (Klima, Kapitalismus, Krieg, Migration) noch bei den Methoden, gegen Elend und Bedrohung anzugehen, ohne dabei zu verzweifeln. Alle Wege des Widerstands könnten zur Rettung führen, sagt David Paquet, Hauptsache: Was tun! Dass die Zwecke die Mittel heiligen, darf dabei natürlich mit Fug und Recht angezweifelt werden.