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Von Elfriede Jelinek · 14+
Theater der Zeit, 4. Januar 2024
Die Vielstimmigkeit des Modewahns
(von Elisabeth Maier)
Pia Richter liest die Textflächen der österreichischen Nobelpreisträgerin politisch. Hinter den Thesen der Literatin spürt sie der Identitätssuche von Menschen nach, die in der globalisierten Wirtschaft um Haltung ringen. Das zeitkritische Potenzial rettet die 36-jährige Regisseurin in die wilden, sinnlichen Bilder ihrer Theatergeneration.
In einer überlebensgroßen Gucci-Tüte verliert sich der Kunde. Die Modemarke verschluckt den Menschen. Im Kampf mit den Styles seiner Zeit steht er als Verlierer da. „Kunde, der verzweifelt versucht sich in eine zu kleine Hose zu zwängen“ heißt die Figur in Elfriede Jelineks Theaterstück „Das Licht im Kasten“, das 2017 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Den Untertitel hat die Autorin in Klammern gesetzt: (Straße? Stadt? Nicht mit mir!) Im Landestheater Tübingen zeigt der Schauspieler Dennis Junge die Hilfslosigkeit des Konsumenten, der von Markenzwängen und Modetrends verschluckt wird. Seine Hose klemmt, doch er zieht sie über die nackten Beine. Das geht nur mit Gewalt. Die Regisseurin Pia Richter liest die Textflächen der österreichischen Nobelpreisträgerin politisch. Hinter den Thesen der Literatin spürt sie der Identitätssuche von Menschen nach, die in der globalisierten Wirtschaft um Haltung ringen.
Aus ihrer Leidenschaft für Mode macht Elfriede Jelinek keinen Hehl. Die Literatin inszeniert sich selbst liebend gerne in wechselnden Styles. Doch dabei ist sie selbst im System gefangen. In dem Stück aus dem Jahr 2017 untersucht sie die Mechanismen hinter dem eigenen Faible, greift aktuelle Diskurse auf. Wegwerf-Kultur, Ausbeutung in der internationalen Textilindustrie und Geschlechter-Klischees sind ihre Themen. Mit Vorhängen in Lila- und Orangetönen hat Bühnenbildnerin Lise Kruse einen Raum geschaffen, der an ein Modegeschäft erinnert. Die Vorhänge werfen Falten.
Auf einem runden Podest in der Mitte präsentieren sich die Akteur:innen so, als kämpften sie um die nackte Existenz. Als zynischer Verkäufer bedient Lucas Riedle die Träume der Kund:innen: „Soll ich Ihnen sagen, wie Sie aussehen könnten? Sie wollen im Umkreis jedes möglichen Aussehens hervorstechen, und das muss natürlich geregelt sein – wie der Verkehr.“ In seiner blauen Anzug-Uniform, auf die Umrisse des nackten Körpers gezeichnet sind, wirkt er künstlich. Mit seinen Worten lullt er die Konsument:innen ein. In diesem Spiel ist nichts echt. Verkaufsstrategien beflügeln Riedles Sprache, die verlockend klingt.
Mit dem Zerfall ihres Körpers hadert Sabine Weithöner. Als „mittelalte Frau beim Umziehen in der Kabine“ spielt Sabine Weithöner mit den Grenzen ihres Körpers. Mit kreativen Tüll-Kreationen lässt sie Lise Kruse zwischen Opulenz und figurumschmeichelnder Garderobe hin- und hertreiben. Am Ärmel baumelt das Preisschild. Die Angst der Frau, dem Schönheitsideal des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu genügen, zeigt Weithöner in Blicken und Gesten. Mit ihrem verführerischen Spiel befreit sie sich aus Jelineks Textflächen, die sich immer wieder im Diskurs verheddern. Sacht verrückt Richter die Szenerie ins Surreale. In der Boutique ohne Namen landen die Menschen in einem Alptraum, der nichts mehr mit Lebensqualität zu tun hat.
Wie die Persönlichkeit im Konsumrausch zunehmend zerfällt, zeigt Solveig Eder. Beladen mit Einkaufstüten geht es im Leben der jungen Frau nur noch um Konsum. Klug analysiert Elfriede Jelinek, wie der Modewahn die Menschen zunehmend von ihrer Existenz entfremdet. Besonders bitter zeigt sich das bei den einsamen Käufen im Internet. Insa Jebens philosophiert über die Generation, die ihren Kaufrausch online auslebt. Hinter ein paar unüberlegten Klicks lauert die Schuldenfalle.
In die Faszination des Schönen hüllen Pia Richter und das Ensemble der Landesbühne ihr Publikum ein. Jelineks starke Sprachbilder übersetzt die Regisseurin in eine kraftvolle, rhythmische Choreografie. So bringt sie die Musikalität in Jelineks Sprache schön zum Klingen. Gerade die Passagen, die vordergründig etwas verkopft klingen, entfalten so ihren sinnlichen Reiz. Das klappt besonders schön, wenn die Spieler:innen im Chor sprechen: „Die Kleidung ist Schrift, der Mensch wird durch sie umschrieben, als wagte man sich nicht an seinen lavaheißen Kern heran …“ Stimmen und Gegenstimmen konfrontiert die Literatin, die selbst eine jahrelange musikalische Ausbildung genossen hat, in ihren Texten. Diese Melodie erfasst Pia Richter mit ihrer Theatersprache, die gerade in den Augenblicken der Sprachlosigkeit überzeugt. Hinter Jelineks ökonomischen Thesen spürt sie Menschen auf, die das Sprechen verlernen. Sie verstecken sich in riesigen Einkaufstüten oder sie erstarren in kalten Selfie-Posen. Solche Künstlichkeit, die globale Ökonomien prägt, prangert die 77-jährige Dichterin an. Das zeitkritische Potenzial rettet die 36-jährige Regisseurin in die wilden, sinnlichen Bilder ihrer Theatergeneration.
Schwarzwälder Bote, 12. Dezember 2023
Graziler Walk auf dem sprachlichen Laufsteg
(von Christoph Holbein)
Die Inszenierung des Stückes „Das Licht im Kasten“ am Landestheater Tübingen vermittelt eindrucksvoll die Leidenschaft von Elfriede Jelinek für Mode.
Kaufsucht, Produktionsbedingungen, die Gier nach der Marke, die Glücksgefühle beim Kaufen neuer Kleidung, das Hadern mit dem eigenen unvollkommenen Körper: Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek widmet sich mit all ihrer Bild- und Sprachgewalt dem Thema Mode – als Metapher der Vergänglichkeit.
„Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“ ist ein intensiver Streifzug, den Regisseurin Pia Richter in der Werkstatt des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen gemeinsam mit dem kongenialen Ensemble furios auf die Bühne bringt. Vor allem die starke Sprache der Autorin zelebrieren die Protagonisten bei ihrem erfrischenden Spiel ins Publikum mit Verve und Emotionalität, etwa wenn sie sich in zu enge Jeanshosen zwängen. Lise Kruse liefert dafür eine passende Bühne und aussagekräftige Kostüme – umwerfend komisch der überdimensionale japanische Lochpulli.
Solveig Eger, Insa Jebens, Dennis Junge, Lucas Riedle und Sabine Weithöner sezieren die Worte Jelineks filigran und erzählen plakativ die Geschichte vom schönen Schein des Verhüllens und dem lukrativen Geschäft mit den Sehnsüchten. In und vor den überdimensionalen Umziehkabinen entwickelt sich ein komödiantisches Spiel mit doppelbödigem Sprachwitz um den Rausch des Kaufens und das verzweifelte Hasten nach den immer jungbleibenden modischen Trends, während man selbst unerbittlich alt wird und der außer Form geratene Körper unweigerlich dem Tod entgegenstrebt.
Regisseurin Pia Richter gelingt es, diese Balance zwischen Heiterkeit und Melancholie, diese Gratwanderung zwischen Einbildungskraft und Wirklichkeit in glaubwürdige, mitunter fast religiöse Bilder zu übersetzen. Ihre Figuren haben nicht die Wahl, sie haben nur die Auswahl und werden dabei zu tragischen Existenzen, die mit ihrem Funktionieren in dieser glitzernden Modewelt mit verantwortlich werden für Umweltzerstörung und Vernichtung von Menschenleben. Die Einkaufstaschen sind riesengroß und korrespondieren mit den Sprachkaskaden der Jelinekschen Monologe – bestens dargeboten von den Schauspielern. Das ist witzig und echauffiert gewürzt mit Körperakrobatik, humorvoller Mimik und starker Pantomime. Bei aller grellen Buntheit sind es vor allem die kleinen, pointierten Gesten, die überzeugen. Und in den Wortspielereien spiegelt sich immer wieder die Verlorenheit der Protagonisten: „Dieses faule Fleisch hat eine empfindsame Seele.“ Es ist ein Variieren zwischen Getöse und leisen Momenten, zwischen dem augenschmerzenden Scheinwerferstrahl und kleinen, intimen Lichteffekten.
Jelinek spart nicht mit Sarkasmus, und Richter greift das mutig auf. Das ist alles präzise erarbeitet, variabel und sprachlich farbig. Im starken Mienenspiel wird dieser Wahnwitz der Schnelllebigkeit, dieser Rausch des Kaufens und Wegschmeißens, diese Brutalität der Ausbeutung, die Menschenleben kostet, überdeutlich. Damit will die Inszenierung beitragen, ein Bewusstsein für diese ökologischen und sozialen Aspekte zu schaffen.
„Das Licht im Kasten“ offenbart sich am Landestheater als intensive Theaterarbeit, die aus ihrer humoresken Variabilität und der Spielstärke des Ensembles lebt und in eine chorische Schlussszene mündet, die noch einmal beweist, mit welcher hoher Konzentration, Energie und Koordination Regie und Schauspieler gemeinsam diese Inszenierung erfolgreich stemmen.
Kritik Reutlinger General-Anzeiger, 5. Dezember 2023
Die Welt als Wille und Warenkorb
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT lotet mit Elfriede Jelineks »Licht im Kasten« die seltsamsten Winkel des Modewahns aus
Was wäre flüchtiger als die Mode – und was bestimmter? Für Roland Barthes war die Mode ein »paradoxes Zeichensystem« – für Elfriede Jelinek ein gefundenes Fressen. 2017 stürzte sie sich darauf, es entstand ein Text, der in epischer Breite, auf zahlreichen Sprach- und Bedeutungsebenen, gewissermaßen das letzte Wort zum Thema sprechen möchte: Was immer man über Mode denken, in sie hineinlesen kann, welcher soziale, politische, sonstige Zusammenhang sich ergeben könnte – die Nobelpreisträgerin Jelinek hat es in ihre Zeilen gepresst.
Das Landestheater Tübingen entfaltet das Paket nun. »Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir)« wurde von Regisseurin Pia Richter um einige Seiten gekürzt – eine frappierende Assoziations- und Gedankenflut bleibt dennoch: Spott, viele Gefühlslagen, Tiefschürfendes, Oberflächliches, ein Hauch von Wahnsinn.
Der Tempel der Mode auf der Bühne der Werkstatt des LTT strahlt in Violett und Orange, die Vorhänge der Umkleidekabinen bauschen sich, ein kreisrundes Podest erhebt sich zur Mitte hin. Drumherum kriechen die der Bekleidung dringend Bedürftigen mit dem Ausdruck tierischer Gier voran. Lucas Riedle steht als aalglatter Spötter da und blickt auf sie herab – er ist der »zynische Verkäufer«, eine Art Mephisto des Modebetriebs. »Soll ich Ihnen sagen, wie Sie aussehen könnten?«, fragt er. Nur keine Schuldgefühle, rät er, auch wenn die Kreditkarte längst überzogen ist.
Mit Jeans und Pulli, höhnt der Verkäufer, wird es nicht getan sein – »Da müssen Sie schon mehr in sich investieren« –, und flugs wird aus der Kleidung, die ja eigentlich den Willen ihres Trägers zum Ausdruck bringen sollte, etwas, das eigenen Willen entwickelt, den des Trägers überschreibt: Die Mode wird zur Obsession.
Nacheinander treten auf: Die mittelalte Frau, die sich in der Umkleidekabine in eine andere verwandeln möchte, die junge Frau, die Einkaufstüten schleppt, der Kunde, der verzweifelt versucht, sich in eine zu kleine Hose zu zwängen – Sabine Weithöner, Solveig Eger und Dennis Junge spielen diese und andere Rollen, schlüpfen in die erstaunlichen Schöpfungen, die Ausstatterin Lise Kruse für sie schuf, schlüpfen hinein in Elfriede Jelineks aufgepeitschten Wortfluss. Das Ideal, zu dem die Mode führen möchte, entzieht sich stets, unglückselige Geschöpfe bleiben zurück: »In der Kleidung stecken ja leider Menschen, das ist der Nachteil, wenn man die wegmachen könnte, wie Fettflecken, dann würde die Kleidung noch viel besser zur Geltung kommen!«
Insa Jebens trägt das seltsamste aller Kostüme, zusammengesetzt offenbar aus unbezogenen Bettdecken, hinter ihrem Kopf ragt ein Kissen auf: Ein Bild, als liege sie im Bett und träumte von der Mode. Sie singt zuvor noch, als Philosophin beim Online-Shopping, ihre Version des Popsongs »All By Myself«: »Living alone / I think of all the shoes I’ve known« – und der Mann mit Sparzwang, Dennis Junge wiederum, stürzt sich auf einen Berg billiger T-Shirts, die er gleich wieder wegwirft, um sie zwei Jahre später erneut zu kaufen, in anderem Farbton, während die junge Frau mit ethischem Bewusstsein (Solveig Eger) sich einmischt. »Wir wollen billige Preise. Über Menschenleben sprechen wir jetzt einmal nicht«, sagt der zynische Verkäufer. Es gibt einen Nudisten, der sogleich davongetragen wird, wie ein Jesus am Kreuz, es gibt Gedanken an den Tod.
Der Wahnsinn, die Hysterie, die Pathologie, die Philosophie der Mode erreichen ihren Höhepunkt, als die Frau mit dem Lochpulli auftritt. Sie trägt das ungewöhnlichste Kleidungsstück, vermutlich war es teuer, zudem entstellt es seine Trägerin sehr: Kaum menschlich wirkt sie noch, ein unförmiges Strickwesen, eine Stoffbeule. Der Lochpulli stellt die Imperfektion aus, der zynische Verkäufer findet ihn krank. Und wenn die Dame im Lochpulli dann im Hintergrund steht, stumm und mit einem Lachen im Gesicht, während die Modesüchtigen sich weiterhin erklären, dann wirkt sie wie ein Geist, ein Dämon, eine Figur aus einem Horrorfilm, unheimlich.
Zuletzt versammeln sich alle Facetten des Wahns zum Chor auf der Bühne, blicken ins Publikum, beklagen noch einmal ihr Menschsein, ihre Vergänglichkeit, und empfehlen die Verwendung des kleineren Lichtkästchens, das jeder längst bei sich trägt: »Dort können Sie auch bestellen – und los, in den Warenkorb!«
Kritik Schwäbisches Tagblatt, 5. Dezember 2023
(von Justine Konradt)
Ein Fest für Design-Fans: Das LTT zeigt Elfriede Jelineks Mode-Stück „Das Licht im Kasten“ mit einer Balance zwischen Komik und Ernsthaftigkeit – und einer üppigen Garderobe.
Schauspieler Lucas Riedle befindet sich ganz oben auf einem dreistufigen, runden Podest in der Mitte des Bühnenbildes. Breitbeinig steht er da, ganz oben auf einem Podest, und schaut erhobenen Hauptes in die Ferne. Stolz wie eine griechische Statue. An jedem Arm baumeln mehrere Luxushandtaschen in den unterschiedlichsten Farben und Formen. In seiner Regungslosigkeit erinnert er an eine Schaufensterpuppe. Das Scheinwerferlicht an, und von hinten schleichen sich drei Gestalten an. In hautfarbene Unterwäsche gezwängt, erkämpfen sie sich wie Tiere ihren Weg zur Beute: den Luxushandtaschen.
Dabei wird es nicht nur um Taschen gehen an diesem Abend, sondern auch um UGG-Boots, Skinny Jeans und Gisele Bündchens Strandensemble, kurz: um Mode. Dieser hat Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schließlich ihren Text „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“ gewidmet, dessen Inszenierung von Pia Richter nun am LTT Premiere feierte.
Ihr sei vor ihrer Arbeit mit „Das Licht im Kasten“ nach einer Komödie gewesen, sagte Jelinek mal, aber Elfriede Jelinek wäre nicht Elfriede Jelinek, wenn man in ihrem Stück nicht auch Zynismus, Kritik und wutgeladene Passagen vorfinden würde. Und so geht es in ihrem durchaus unterhaltsamen Text zwar um Mode, aber nicht etwa nur auf einer humoristischen Ebene, sondern in einem ganz existentiellen Kontext, der die großen philosophischen Fragen nach dem Sein mitdiskutiert.
Auf neunzig Seiten schreibt sie sich die modische Seele aus dem Leib und verzichtet dabei auf konkrete Situationen und Figuren. „Textwurst“ nannte sie es einst selbst. Und so haben Regisseure und Regisseurinnen freie Hand, wenn es darum geht, eine Handlung zu spinnen und Textbausteine zu wählen.
Bei Pia Richter ist es ein Modegeschäft, in dem sich alles abspielt. Das mobile dreistufige Podest, das mal zum Grabbeltisch wird, mal zur Kanzel, wird von vier freistehenden Umkleidekabinen mit orangenen Vorhängen gesäumt. Hier regieren zwei zynische Verkäufer (gespielt von Insa Jebens und Lucas Riedle). Mit boshafter Schlagfertigkeit führen sie ihren Kunden ihr wirkliches Wesen vor Augen, das nicht mit Haute Couture kaschiert werden kann. Das lassen die drei Kundinnen (gespielt von Solveig Eger, Dennis Junge und Sabine Weithöner) nicht mit sich machen. Und so entwickeln sich aus Beratungsgesprächen zwischen Verkäufern und den einzelnen Kunden unterhaltsame Diskussionen zu ziemlich allem, was den Menschen und seine Selbstzweifel und modischen Selbstentwürfe betrifft. Besonders gut gefällt hier Lucas Riedle, der in seiner Rolle als fieser Ladenverkäufer glänzt und für viele Lacher sorgt.
Zum Witz der Inszenierung tragen ganz besonders auch die Kostüme bei. Ausstatterin Lise Kruse hat sich einiges einfallen lassen. Da sind die überdimensional großen Prada- und Gucci-Tüten, in denen die Schauspieler fast verschwinden. Oder auch das weiße, grobmaschige Strickkleid mit Kapuze und riesigen Handschuhen, in dem Solveig Eger aussieht wie ein Einzeller. Während des Stücks gibt es so viele Kostüm- und Perückenwechsel, dass man mit Zählen kaum hinterherkommt. Ein Fest für jeden Design-Interessierten. Die modische Konstante bilden die Outfits der Verkäufer, die eine spannende Stofflichkeit besitzen. Ein Hauch von Anzug: Der schicke Onesie mit aufgedruckter Krawatte ist transparent, sodass Haut und Unterhosen von Insa Jebens und Lucas Riedle sichtbar sind. Diese Anzüge scheinen eines klarmachen zu wollen, was auch immer wieder Thema ist: Lasst uns nicht vergessen, dass sich hinter jedem Kleidungsstück ein Mensch befindet – und eben keine Modepuppe. Und dass sich das Wesen des Menschen nicht durch den Kauf einer bestimmten Klamotte verändern lässt: Sein und Schein.
Ernstere Töne finden sich in diesem Stück einige. Von schlechten Produktionsbedingungen in Schwellenländern bis hin zur krankhaften Welt des Online-Shoppings werden auch die Schattenseiten der Modewelt beleuchtet.
Nachtkritik.de, 3. Dezember 2023
Vor diesem Rock bin ich ein Nichts!
(von Verena Großkreutz)
Von Haute Couture bis Billigmarke: Elfriede Jelinek schaut mit "Das Licht im Kasten" in die Modewelt und findet den menschlichen Abgrund. Und Regisseurin Pia Richter hat in Tübingen dafür Sprache und Atmosphäre parat.
Mode ist Inszenierung – ob auf dem Laufsteg oder am eigenen Körper. Deshalb als Thema bestens geeignet für die Theaterbühne. Das hat die große Elfriede Jelinek in ihrem 2017 uraufgeführten Stück "Das Licht im Kasten" sprachgewaltig ein für alle Mal klargemacht. Ein grandioser Gedankenstrom-Text über die Welt der Mode und alles damit Zusammenhängende.
Die Mode avanciert darin zur Metapher für die existenziellen Grundfragen unseres Seins und unserer Zeit. Ein unterhaltsamer Text, witzig, bedrückend, schockierend in seinem plötzlichen Umswitchen vom wortspielerischen Ego-Parlando ins reale Grauen: in die ausbeuterischen, tödlichen Produktionsbedingungen ferner Länder, die Kleidung für uns bezahlbar machen, und in andere mörderische, perfide Kreisläufe, wie jene der Einweg-Wegwerf-Mode, die "im besten Fall jetzt in Afrika in andrer Form einen andren Körper ziert und in einem sinkenden Nachen zu uns zuru?ckgeschickt wird".
Der Zirkus der schönen Klamotten
Pia Richter hat Jelineks Meisterinnentext jetzt am Landestheater Tübingen auf dessen kleiner Werkstatt-Bühne inszeniert. Eine Arbeit, die dem Text den roten Teppich ausrollt. Ihn wirken lässt ohne viel Brimborium. Die offene Textfläche, die Jelinek den Regieführenden bereitstellt, hat Richter in die Sphäre der Modegeschäfte überführt – ob Haute Couture oder Billigstmarke. Das in schrillem Pink und Orange gehaltene Bühnenbild von Lise Kruse bietet vor allem durch die seitlich positionierten, vier freistehenden hohen Umkleide-Rundkabinen Spielraum im besten Sinne, denn hinter deren Vorhänge lässt sich prima verschwinden und wieder auftauchen. Ein bisschen Zirkusatmosphäre liegt auch in der Luft, durch Auftrittsvorhänge an der Hinterbühne und ein rundes Treppenpodest in der Mitte, auf dem immer wieder posiert oder zur Schau gestellt wird.
Richter hat den Text sauber in zehn Szenen gegliedert (plus Pro- und Epilog) und auf drei Frauen und zwei Männer aufgeteilt. Die spielen allerlei skurrile Persönlichkeiten und tippeln auch mal als lebendig gewordene Prada- oder Gucci-Tasche über die Bühne. Die Fäden des Abends hält der "zynische Verkäufer" in der Hand (Lucas Riedle), der zu Beginn – die Arme schwer behängt mit Designer-Handtaschen – von den anderen (noch weitgehend Unbekleideten) beäugt und gierig bedrängt wird wie eine Göttergestalt. Mode als Fetisch.
Auf den Werbefotos ist es hübscher
Da ist die "Junge Frau beladen mit Einkaufstüten" (Solveig Eger), deren sexuell aufgeladene Kaufrausch-Glücksgefühle sich schnell in wild-wütende Verzweiflung verwandeln: weil das Kaufobjekt am Werbefoto-Model-Körper eben besser aussieht als am eigenen. "Zum Nichts" sei sie geworden "vor diesem Rock", schreit sie. Ein "Mann mit Sparzwang" (Dennis Junge) wühlt in Billig-Kleiderhaufen, zieht schichtend immergleiche blaue Shirts über seinen Körper, bis er aussieht wie ein Michelin-Männchen und ihn der Verkäufer wegträgt wie eine Schaufensterpuppe. Ein langhaariger, messianischer "Nudist", nur bekleidet mit einem blauen Puschel-Slip, predigt: "In die Natur können Sie zwar gehen, aber Sie können sie nicht tragen."
Ein bedrohlich-merkwürdiges Wesen in grob-löchrig gestricktem, schäbigst-schickem Pulli mit riesigen Fäustlingen taucht auf, quasselt – mal in freundlichem Mädchentonfall, mal mit tiefgetunter Psychostimme – den später kollabierenden Verkäufer hinterm Umkleide-Vorhang zu: über die Herstellungskosten ihres Kleidungsstücks und vieles andere. Eine "mittelalte Frau" in extravagantem Kleid aus rosa Plastiktüten (Sabine Weithöner) sinniert übers Älterwerden, den Tod und die Kleidung, die sie im Sarg tragen wird. Als lebendig gewordene (Freiheits?-)Statue mit Kissen-Heiligenschein und Bettdecken-Mantel philosophiert eine andere über die müllproduzierenden, absurden Finessen des Onlinekaufs (Insa Jebens).
Kleidung ist Schrift
Jelineks Text wird vom exzellenten, spielfreudig miteinander agierenden Ensemble von Anfang bis Ende dieses kurzweiligen Abends präzise artikuliert performt. Und so stimmig die Kostüme wie Perücken (Retrofrisuren von Vokuhila, Minipli, Bob, Hippie-Langhaar bis streng onduliert) sind, so passend ist auch der Soundtrack (der vom klassisch-modernen Streichquartett bis zu Indiepop reicht). Und was trifft die Jelinek'sche Sprachmusik besser, als alles in einem Sprechchor-Finale aufgehen zu lassen? "Die Kleidung ist Schrift", heißt es da, "der Mensch wird durch sie umschrieben, als wagte man sich nicht an seinen lavaheißen Kern heran". Was für ein großer Satz!