Musiktheatrale Performance nach dem Bilderbuch von Pei-Yu Chang · Uraufführung · 6+
Tübinger Taglatt, 23. September 2024
(von Dorothee Hermann)
Unterm Strich
Diese Inszenierung ist ein Wagnis, denn sie fordert Kindern einiges ab: zuhören, die Fantasie spielen lassen, sich von Geräuschen und Klängen ebenso faszinieren zu lassen wie von Figuren. Doch der musiktheatralen Performance gelingt es, junge Zuschauer mit abwechslungsreichen interaktiven Elementen einzubeziehen bis zum Schluss und für freie Formen des Theaters zu begeistern.
Es sieht aus wie eine Landschaft aus der Vogelperspektive, in der Dunkelheit hingelagert wie ein Felsmassiv, das die Abendsonne noch einmal orange aufleuchten lässt. Dazu ertönt geräuschhafte Musik, in die sich einzelne Stimmen, Worte und Satzfetzen mischen. Am Gestänge an einer Seitenwand kauert eine Figur, steigt herab auf die Bühne, und intoniert mit zwei anderen vorsichtig „Diese Linie ist eine Grenze“ oder nur „diese Linie“ – kanonartig wiederholt, in unterschiedlichen Tonlagen (Komposition und Einstudierung: Catalina Rueda).
Derart offen für die Fantasie beginnt die ambitionierte Inszenierung „Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin“ des Jungen LTT. Das Kinder- und Jugendensemble des Landestheaters Tübingen hat sich vom gleichnamigen Bilderbuch von Pei-Yu Chang anregen lassen (Regie: Lisa Pottstock), es in einer Uraufführung auf die Bühne zu bringen.
Die drei Figuren, die da spielerisch über Linien und Grenzen nachdenken, und darüber, was aus einer Linie eine Grenze macht, sind Rafo (Toni Pitschmann), Piz (Michael Mayer) und Maura (Sophie Aouami): „Wir suchen eine Grenze. Was das ist, was das war.“ Es sind keine zu groß geratenen Pseudokinder, sie könnten auch Jugendliche sein oder Erwachsene, einfach Menschen eben (Bühne und Kostüme: Jeanne Louët).
Die drei laden ein in ihr Grenzlabor, wo ein merkwürdiges kleines Gerät, ein sogenanntes Grenzoskopophon, Grenzen hörbar machen, aber wundersamerweise auch Öffnungen anzeigen kann, sogar dort, wo scheinbar eine undurchdringliche Wand ist. Dann dringen aufgeregte, ziemlich wilde Kontrabasstöne aus dem Gerät. Das hört sich nicht irgendwie improvisiert an, sondern erinnert an Kompositionen der Neuen Musik.
Bei solchen Positionsbestimmungen können Sichtlinien weiterhelfen, die man nicht nur in die Luft guckt oder mit einem anderen Augenpaar zu koppeln versucht: Man kann sie als Klanglinien selber basteln, sichtbar machen und sogar als Musikinstrument verwenden und damit miteinander Kontakt aufnehmen, auch ohne gemeinsame Sprache (interaktive Klangkunst: Kris Kuldkepp).
Das Textilmassiv auf der Bühne stellt ein bestimmtes Gebirge dar: die Pyrenäen, die Frankreich und Spanien verbinden, dort, wo 1940 die Flucht des Philosophen Walter Benjamin vor den Nazis endete. Die Grenze zwischen beiden Ländern trennt sogar die Küste, und im Stück merkt man an der Sprache, auf welcher Seite man sich gerade befindet. Aber kann man wirklich die Sprache wechseln, nur wenn man über die Grenze schlüpft? Erkennen Kinder, dass auf der Bühne Französisch und Spanisch gesprochen werden? Ist das nicht zu viel verlangt? Nein, auf keinen Fall: Die Kinder bei der Premiere am Freitag hatten das sofort heraus.
Das kleine Bühnengebirge birgt ein Fundstück von früher, das das Allerwichtigste enthalten soll, das Benjamin besaß. Es ist ein riesiger Koffer, der sprechen kann. Und das Wichtigste, das er enthält, ist vielleicht eine Tür zur Vergangenheit. Durch die tritt jedoch nicht Benjamin, sondern Lisa Fittko (siehe Infobox), die sich selbst nicht einfach in Sicherheit brachte, nachdem sie einen Fluchtweg vor den Nazis entdeckt hatte, sondern ihn noch vielen anderen zeigte. So wechselt das Stück von der spielerischen Annäherung durch Wörter, Geräusche und Musik noch stärker in eine politische Dimension.
Lisa Fittko und ihr Weg über die Pyrenäen
Von 1940 bis 1941 führte Lisa Fittko, vor den Nazis ins französische Exil geflohen, viele andere Emigranten über die Pyrenäen, damit sie sich über Spanien in den Hafen der portugiesischen Hauptstadt Lissabon retten konnten, von wo aus Schiffe in alle Welt ausliefen. Einer von ihnen war der Philosoph Walter Benjamin, der sich das Leben nahm, nachdem ihm ein spanischer Grenzer die Weiterreise verweigert hatte. Im November 1941 schifften sich Fittko und ihr Mann Hans selbst von Lissabon aus nach Kuba ein. Von 1948 bis zu ihrem Tod 2005 lebte sie in den USA. Ihre Erfahrungen hat sie in ihrem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“ festgehalten. Es ist auch als Jugendbuch erhältlich.
Reutlinger General-Anzeiger, 23. September 2024
(von Dagmar Varady)
Das Junge LTT zeigt das Stück »Der geheimnisvolle Koffer« über die Flucht von Walter Benjamin vor den Nazis.