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Deutsch von Ursula Grützmacher-Tabori
Schwarzwälder Bote, 14. Dezember 2016
Gratwanderung zwischen Klamotte und Drama
(von Christoph Holbein)
LTT setzt beim Stück "Die Goldberg-Variationen" von George Tabori auf Skurrilität
Die Auseinandersetzung zwischen dem tyrannischen Regisseur Mr. Jay und seinem Assistenten Goldberg, der sich von einer Opferrolle in die nächste treiben lässt, bildet den spannenden Hauptstrang des Stücks in zwanzig Szenen »Die Goldberg-Variationen« von George Tabori. Auf diese innere Kraft des Schauspiels setzt auch die Inszenierung von Lars Helmer am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT). Die leere Bühne – »eine Stätte der Schönheit, besonders am ersten Probentag, wenn noch nichts schiefgegangen ist« – entwickelt sich in der Szenerie eines Theaters in Jerusalem zum dramatischen Platz witzig-skurriler Probensituationen mit einem kräftigen Schuss Klamauk. Der Schauplatz wird zum gelobten Land, zum Ort für den Versuch, ausgehend von der Schöpfungsgeschichte Schlüsselsepisoden aus der Bibel für eine große Show in Szene zu setzen.
Autor Tabori lässt dabei die Protagonisten zahlreiche Pannen erleben und schafft damit ein Werk, das Tragödie und Komödie, Theaterparodie und philosophisches Lehrstück, Johann Sebastian Bachs »Goldberg-Variationen« und den Rap gesungen aus grölenden Hell’s-Angels-Kehlen zu einem grellen Spiel voller Slapstick verwebt. Darauf lässt sich die LTT-Inszenierung ohne Hemmungen ein. Das Ensemble zeichnet aberwitzige Typen, die immer wieder für kleine Überraschungen gut sind. Regisseur Helmer kreiert dabei ein chaotisches Treiben, das zwischen sarkastisch und tolpatschig, zwischen todernst und kindlich naiv hin und her schwankt – eine Gratwanderung zwischen Klamotte und Drama, zwischen Bibel und Auschwitz.
Auf der Bühne entwickelt sich ein »theologischer Schwank«, in dem Mr. Jay und Goldberg in einer Art sadomasochistischer Verbindung scheinbar unlösbar miteinander vereint sind bis dahin, dass Goldberg ans Kreuz genagelt wird und der Regisseur Mr. Jay selbst ihm den Lanzenstich in die Leber versetzt. Mr. Jay und Goldberg verkörpern den Konflikt zwischen göttlichem oder gottgleichem Herrn und haderndem, jedoch am Ende an den Quäler gebundenen Diener.
Raphael Westermeier als Mr. Jay und Gotthard Sinn als Goldberg geben diesem Ansatz in der LTT-Inszenierung eine plastische Lebendigkeit, die Regisseur Helmer mit starker Körperbeherrschung seiner Schauspieler – vor allem bei Thomas Zerck und Robin Walter Dörnemann – und Komik in bester Monty-Python-Manier verknüpft.
Es ist das grotesk-witzige Spiel Taboris, das Helmer aufgreift und daraus in seiner Inszenierung ein Theater entstehen lässt, das immer wieder mit überraschenden Wechseln zwischen den Extremen der theatralischen Bedeutungsmöglichkeiten vermittelt, ohne sich für eine Antwort zu entscheiden.
Das macht das Geschehen auf der LTT-Werkstatt-Bühne so spannend, aber letztlich auch so verwirrend und läuft dabei Gefahr, dass der Klamauk nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern der Zweck wird und das Anliegen übertüncht: die Suche nach Werten wie Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit nicht zuletzt auch für Fremde und Andersgläubige.
Reutlinger Nachrichten, 7. Dezember 2016
Der Heilige Geist wohnt im Zufälligen
(von Kathrin Kipp)
Ist die Welt nur eine mehr schlecht als recht improvisierte Bühnen-Probe? LTT-Dramaturg Lars Helmer inszeniert George Taboris schwarze Komödie „Die Goldberg-Variationen“.
Kaum angefangen, geht schon wieder alles schief: Kaum hat Gott den Mann erschaffen, erweist der sich als einsam, traurig und irgendwie auch nutzlos. Und kaum will man im Theater die Bibel neu erzählen, streiken Technik und Schauspieler.
„Scheitern, wieder scheitern, immer scheitern, besser scheitern“, ruft Gottes Regie-Assistent Goldberg. Und immer wieder neu anfangen, „aber mit Gefühl“, lautet die Regieanweisung Gottes. In George Taboris Schöpfungs- und Theaterschwank von 1991 wird die pralle Heilige Schrift munter mit der Theaterwelt und dem Welttheater gekreuzt und alle Logik auf den Kopf gestellt.
Der Regie-Gott hat keine Lust mehr, Geschichte zu machen, schlechte Witze zu erzählen und die großen Menschheitskatastrophen erklären zu müssen, übergibt deshalb an seinen Assistenten, Sohn, auserwähltes Volk, Menschheit, Gottesschatten und Generaldeppen Goldberg. Aber vorher muss noch einmal die Schöpfung durchgespielt werden.
Lars Helmer lässt die eckige Theater-Parodie und kantige Welt-Parabel mit ihren permanenten Rollenwechseln und -brüchen, ihrem Sprachwitz und dem Spiel mit religiösen und musikalischen Motiven und Bedeutungsebenen recht rasant und sehr textfokussiert spielen, damit keine der vielen Anspielungen und multiplen Sarkasmen auf Bibel, Theater und Holocaust verloren geht, wenn es mal wieder um die alte Frage geht: Lieber gut oder lieber glücklich sein?
Und: Wer spielt hier eigentlich wen? Das ist im großen Chaos des Welttheaters nicht immer eindeutig, aber Raphael Westermeier bestimmt meistens als selbstgefällige Textmaschine, als vermeintlich allmächtige und durchaus lüsterne Dreieinigkeit aus Regisseur, Gottvater und Autor die Szenerie: ein ziemlich menschliches Wesen. Am Ende vielleicht nur eine Projektion?
Gott(!)hard Sinn(!), sein Assistent, spielt mit gottergebener Unaufgeregtheit die Variationen seines Goldbergs durch: „Ich bin doch kein Schauspieler!“ Als Theatermädchen für alles hat er schon einige Regie-Götter kommen und gehen sehen, und zeigt sich deshalb so abgebrüht wie genervt. Seine Nummer auf dem Arm verweist auf eine kleine „Meinungsverschiedenheit mit Hitler“. Und so pflegen die beiden ein sehr kompliziertes Vater-Sohn-Verhältnis, der große Oberregisseur kann seinen Assistenten (oder das Volk Israel) nicht wirklich leiden, hat Spaß, ihn zu ärgern, quetscht ihm eine Banane ins Notizbuch, reicht auch keine helfende Hand, wenn‘s mit der Menschheit mal wieder bergab geht und lässt ihn im Stich, wenn er am Kreuz hängt.
Verpasst ihm dabei sogar den finalen Stich. Trotzdem fühlt Gott sich irgendwann überflüssig, rutscht in eine Identitätskrise, will zurücktreten, „meine Memoiren schreiben“.Die Bühne (Kay Anthony) ist erst einmal ein dunkles Nichts mit multifunktionalen Treppen Richtung Himmel. Frau Mopp (Carolin Schupa), die Putzfrau, zeigt sich angesichts der theologischen, theatralischen und philosophischen Denksportübungen recht bodenständig.
Ihr ist es egal, ob Gott tot ist (Nietzsche) oder Nietzsche tot ist (Gott). Der Regie-Gott legt anfangs eine Riesen-Show hin. „Was für ein Auftritt!“ – „Was für eine Rolle!“. Er hört sich unheimlich gerne reden, hat jede Menge Weisheiten auf Lager: „Der Heilige Geist wohnt im Zufälligen“. Und stellt die Mutter aller Fragen: „Muss Theater gefallen?“. Muss die Realität gefallen?
Carolin Schupa schafft als Bühnenausstatterin Ernestina derweil ganze Einkaufswagen voller goldiger Requisiten heran und redet - wie alle andern auch – gerne mal ein Wörtchen mit bei der Gestaltung des Schöpfungsplans: Weil Äpfel viel zu unerotisch seien, stattet sie den Baum der Erkenntnis mit sexy Bananen aus.
Die Darsteller erweisen sich natürlich als extrem störrisch und aufmüpfig: Carolin Schupa weigert sich als Bühnensternchen, die Eva nackt zu spielen. Daniel Tille hat als Adam zu viel Valium erwischt, Robin Walter Dörnemann macht zwar als grüne Glitzerschlange eine super Figur, ist aber als Abel nur noch über die Gewerkschaft erreichbar.
Thomas Zerck wiederum hat seinen großen Auftritt als Rauchbombe, die aus Brandschutzgründen allerdings nur textil gezündet wird: Große Kunst muss sich eben oft banalen Zwängen beugen. Derweil ziehen die sündigen Menschen als rappende Hells Angels durch die Gegend, weshalb Gott seine ganze Kreativität ausschöpfen muss, um sie gefügig zumachen.
Wobei man sich sowieso die Frage stellen muss, ob Gott ein Konzept hat, oder ob er nicht einfach ständig improvisiert. Weshalb auch permanent etwas aus dem Ruder läuft. So wie die effektvoll bombastische Kreuzigungsszene mit Nebel, Musik, Lightshow und allem Brimborium, bei der die gesamte Golgatha-Bühne einstürzt. Wie auch immer. Egal: Aufstehen, Dornenkrone richten, Weitermachen.
Reutlinger General-Anzeiger, 6. Dezember 2016
(von Thomas Morawitzky)
Die "Goldberg-Variationen" sind nicht weniger lustig als Monty Python, aber tiefsinniger. George Taboris Stück versetzt das Ensemble des Landestheaters in beste Spiellaune; die 90 Minuten fliegen kichernd und bestürzt dahin.
Schwäbisches Tagblatt, 5. Dezember 2016
Es werde Licht, sagte der Herr, und siehe, es ward Bühnenlicht
(von Peter Ertle)
Lars Helmer nimmt am Landestheater George Taboris Theater&Schöpfungs-Parallelschwung "Goldberg-Variationen" so ernst und so komisch, wie das dem Autor und dem Publikum zu wünschen war.
Goldberg: "Die leere Bühne ist eine Stätte der Schönheit, besonders am ersten Probentag, wenn noch nichts schiefgegangen ist." Mrs. Mopp: "Wird schon noch."
Dieser Dialog zwischen dem Regieassistenten Goldberg und der Putzfrau Mrs. Mopp ist ein sehr menschlicher und es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die beiden ihn führen. Eine Putzfrau muss hinterher all das wegmachen, was sich ungefragt angesammelt hat und schief gegangen ist. Und ein Regieassistent, besonders dieser, muss all das ausbügeln, was sein Chef, der Regisseur Mr. Jay, verbockt hat. Er muss mit ihm gemeinsame Sache machen und wird am Ende doch fragen: "Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?" Oder in den Worten des Regisseurs: "Weißt du, was Er nach dem Abendmahl gesagt hat?" Goldberg: "Einer von euch wird mich verraten." Mr. Jay: "Getrennte Rechnungen."
Naja, schief geht hier einiges. Und zwar immer in Parallelführung des vergleichsweise kleinen Bühnenlebens und des biblischen Geschehens. Denn einerseits probt hier eine Theatertruppe an einer Jerusalemer Bühne ein Stück, das Szenen aus dem Alten und Neuen Testament bebildern soll. Andererseits werden diese Proben zu einer Allegorie auf die Schöpfung, der Regisseur ist Gottvater, der Regieassistent Abraham, Moses, Jesus . . .
Und die Probe simuliert nicht nur, manchmal wird die Fiktion Realität. Wenn Adam und Eva sich "erkennen", haben die beiden Schauspieler auf dieser Jerusalemer Bühnenprobe wirklich Sex, bis der eifersüchtige Gottvaterregisseur mit Paradiesvertreibung dazwischenfährt. Wenn Kain Abel erschlägt, duckt sich der zu spät und bekommt leider wirklich eine übergezogen. Der arme Goldberg wird von den Hells Angels vermöbelt und muss verarztet werden. Wenn Abraham das Messer an Isaaks Hals ansetzt, läuft sofort Blut und es ist nicht ganz auszumachen, ob es sich nur um Theaterblut handelt. Ganz zu schweigen von der Szene, als der Soldat mit der Lanze in den Leib des gekreuzigten Jesu sticht. Raphael Westermeier gibt den Mr. Jay zynisch jovial, immer die große Geste, das große Kind, die große Locke, den langen Schal, aber auch vom Burnout seiner Liebesverzweiflung geschlagen. Eigentlich hat er keine Lust mehr, es geht ja auch alles schief. Die Menschen sündigen, seine Geliebte weist ihn ab, der Tontechniker spielt den Marsch anstelle von Bach.
Ganz anders sein Gegenspieler, Gotthard Sinns Goldberg: Jude, eine Nummer auf dem Unterarm, das Schicksal seines Volks in Understatementform auf den Schultern, weil es sonst zu schwer wäre. Ein schmallippig frotzelnder Alltagshiob. Verzieht die Miene nur unmerklich, wenn der Regiegott ihm eine Banane ins Probenbuch legt und zuklappt. Bricht später doch fast zusammen, Schutz suchend bei Mrs. Mopp. Hat seine große Stunde, als er nach dem Kreuzestod wieder aufersteht, Gott in seine Schranken weist, die Premiere rettet und ihn für all seine Gemeinheiten sanft auf die Stirn küsst, Kommentar: "Ich habe soeben die Nächstenliebe erfunden."
Da staunt Mr. Jay, da wird natürlich geschmunzelt und gekichert. Und gelacht wird auch, öfters, Taboris Kalauer sind berühmt, manche sehr hintersinnig, einige einfach nur mit Monty Python-Qualität. "Tut es sehr weh?" fragt der Soldat Jesus am Kreuz. "Nur wenn ich lache", sagt der. So will es zumindest der Regisseur, der sich von seiner Ausstatterin Ernestina genau die biologischen Details eines Kreuzestods schildern lässt. Es ist ein bisschen als schildere sie ihm, was genau beim Tod in der Gaskammer vor sich geht.
Lars Helmer inszeniert das alles sehr fein, genau, durchdacht, mit genügend Gespür für Komik und theatralische Wirkung. Man kann diese Sorgfalt gerade an der Ausarbeitung der weniger zentralen Szenen verfolgen, einer wunderbaren, figurentheatergleichen Schlange im Garten Eden, oder kleinen Kinderschuhen an den Knien Japhets (ganz großartig: Thomas Zerck) bis hin zu jahrmarkttheatergleichem Schlagabtausch, bei denen Goldberg jeden Schlag akustisch verstärkt.
Die größte Akzentuierung aber unternimmt Lars Helmer, indem er die Putzfrau Mrs. Mopp, die Ausstatterin Ernestina van Veen, den Superstar Terese Tormentina und den Angel der Hells allesamt von Carolin Schupa spielen lässt. Eine logistisch knifflige Sache, schauspielerisch beeindruckend gelöst. Aber auch Daniel Tille, Robin Walter Dörnemann und Thomas Zerck haben durch ihre diversen Rollen im Jerusalemer Theaterstück ein vielgestaltiges Erscheinen. Langweilig wird es hier keinem, weder auf der Bühne, noch im Publikum.
Unterm Strich
Bei George Tabori wird sogar die Bibelstunde unterhaltsam. Ob es sich nun um die Geburt des Theaters aus der Religion oder genau um das Umgekehrte handelt, heraus kommt auf der Schnittstelle zwischen beidem doch akkurat: Die Welt. Und auch hier wie in vielen anderen Stücken beschäftigt sich Tabori sanft schwarzhumorig mit dem Vater-Sohn-Konflikt und dem Schicksal des jüdischen Volks.