Abonnieren Sie unseren WhatsApp Newsletter!
Um zu starten, müssen Sie nur die Nummer +49 1579 2381622 in Ihrem Handy abspeichern und diesem neuen Kontakt eine WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Start" schicken.
Schauspiel von Bertolt Brecht
Reutlinger Nachrichten, 22. April 2015
(von Kathrin Kipp)
Die Welt ist ein Schlachthaus. Am LTT inszeniert Regisseur Jan Jochymski Brechts Desillusionsdrama ganz schulmäßig - mit viel Distanz, Blut, Choreo, Chor und markanten Bildern
Am Ende ist sie die Einzige, die bekehrt wurde: die Heilige Johanna der Schlachthöfe, die an das Gute im Menschen glauben wollte, wird böse desillusioniert. Und macht dabei mit ihren gut gemeinten Aktionen alles nur noch schlimmer. Als der Teil der Kraft, die stets das Gute will und leider nur das Böse schafft. Weil es das System so will. Am Ende muss sie sich eingestehen: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht." (…)
Botschaft des LTT-Stücks: Brechts Stück ist zeitlos, seit der Weltwirtschaftskrise 1929 hat sich praktisch nichts verändert, und Brechts Theatertheorie sollte auch mal wieder vorgeführt werden. Ein Ausflug ins Brecht-Museum also. Die Bühne (Marco Brehme) ist entsprechend karg, mit Ausnahme eines Wurstbüchsenturms und einer multifunktionalen Drehmauer mit vielen Türchen. Die kann bei Bedarf als Schlachthaus, Börse oder Fabrikantenverschlag herhalten, wo Fleischkönig Mauler (Martin Bringmann) Johanna demonstriert, wie schlecht und korrupt der Mensch ist. Und dass man doch erst die Menschen ändern müsste, bevor man die Welt verändert. Johanna - ganz in abiturieller Erörterungslaune - findet natürlich, dass die Menschen so schlecht sind, weil sie so arm sind.
Die Verhältnisse und so. Moral muss man sich eben erst mal leisten können. Mauler wiederum kann es sich leisten, in geschwollenen Versen daherzureden, den Charity-Onkel rauszuhängen und seine blutigen Hände in Unschuld zu waschen, während er hinterrücks mit Menschen und Märkten sein böses Spiel treibt und die gute Johanna für seinen Raubtierkapitalismus mit menschlichem Antlitz ausnützt.
Nur Johanna darf zwischen den ganzen Vers- und Chormaschinen ein wenig lebendig wirken und stürzt sich zunächst ganz selig, später mit immer mehr Pathos in ihre Aktionen. Ungeklärt bleibt, ob Mauler tatsächlich ein klein wenig beeindruckt ist von Johanna, oder ob es ihm nur Spaß macht, sie an der Nase herumzuführen.
(…)
Schwarzwälder Bote, 21. April 2015
Schrilles Brüllen für Gerechtigkeit
(von Christoph Holbein)
"Die heilige Johanna der Schlachthöfe" als grelle Inszenierung am LTT
Überproduktion und Preiskampf, Arbeitslosigkeit und Armut, Manipulation und Spekulation mit den Aktienkursen sowie überbordender Kapitalismus, der über Leichen geht: Die Themen haben an Brisanz nichts verloren. Und die Botschaft an die Gesellschaft lautet nach wie vor: „Der Mensch ist schlecht. Die Menschen sind für den Plan nicht reif: Erst muss, bevor die Welt sich ändert, der Mensch sich ändern.“ (...)
Regisseur Jochymski zeichnet im Bühnenbild von Marco Brehme, das mit seinen drehenden Möglichkeiten variable und veränderbare Räume schafft, plakative Bilder, welche die Brutalität des Geschäftemachens schonungs- und erbarmungslos offenlegen – immer wieder übersetzt in körperlich-abnorme Bewegungen der Protagonisten. (…)
Es geht um Kapitalismus, um Not und Elend, um den Kreislauf des Wachstums, um die Kluft zwischen Arm und Reich, um die Mechanismen des Wirtschaftssystems und die scheinbare Ohnmacht derer, die von der Arbeit ausgeschlossen sind. Das ist dann doch zumeist gut gespielt – in der Gewalt der Aussagen, in den starken Bildern voller Pathos, die deutlich machen, dass, viel Geld zu verdienen, zur Religion geworden ist.
Die Inszenierung scheut sich nicht, in der Körperlichkeit des Spiels der Akteure dick und theatralisch aufzutragen, um die Ausbeutung der Menschen plastisch werden zu lassen: „Die aber unten sind, werden unten gehalten, damit die, die oben sind, oben bleiben.“ Das steigert sich und endet in der Ekstase, wenn Johanna – die jetzt nicht mehr an Gott und seine Hilfe glaubt – immer lauter hinaus brüllt, dass nur noch „Gewalt hilft, wo Gewalt herrscht“.
Reutlinger General-Anzeiger, 20. April 2015
(von Christoph H. Ströhle)
Jan Jochymski schockiert und fesselt mit Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ am LTT
Heilsarmee-Kämpferin Johanna Dark und ihr Antagonist, der »Fleischkönig« Pierpont Mauler, sind die zentralen Charaktere in Bertolt Brechts Stück »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Aber handelt es sich um ein Charakterstück? Ja und nein. Nein, weil der Autor eine Idee, einen zu lernenden Stoff zugrunde legt: die Botschaft, dass nicht die Welt schlecht ist, weil der Mensch schlecht ist, wie zu Beginn suggeriert wird, sondern der Mensch schlecht ist, weil die Gesellschaft ihm das Gutsein unmöglich macht – ergo die Gesellschaft geändert werden muss.
Und doch funktioniert das Lehrstück auch als Charakterstück, weil Mauler und insbesondere Johanna – zumal bei einer so starken Darstellung wie in Jan Jochymskis aktueller Inszenierung am LTT – keine Abziehbilder, sondern äußerst lebendige, leidenschaftliche, mit Gefühlen hadernde Figuren sind. Die Masse der gebeutelten Arbeiterschaft, derer sich Brecht in dem Lehrstück annimmt, bleibt dagegen vergleichsweise blass. Gleichsam unbeseelt.
Starke Schauspielerleistungen
Laura Sauer als Johanna und Martin Bringmann als Mauler sind fantastisch in ihren Rollen. Und auch das übrige Ensemble – Franziska Beyer, Carolin Schupa, Raphael Westermeier, Lukas Umlauft, Patrick Schnicke und Daniel Tille – zeigt Schauspiel auf der Höhe dieser Kunst. (…)
Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus ist das Stück heute gerade durch Johannas Tragik, durch ihre Menschlichkeit, die ins Leere führt, fesselnd. Wo sie mit Leidenschaft für ihre Ideen eintritt, gewaltlos und mit einem naiven Glauben an das Gute, erscheint Mauler als der Satte und Abgeklärte, der sich den Luxus leistet, sich an Johannas Flamme des Idealismus und des unkorrumpierbaren Gewissens zu wärmen. Ohne seine zynische Art auch nur im Ansatz aufzugeben, bleibt er ein Mann, der Menschen den Marktinteressen und den Manipulationen, die ihn zum Monopolisten machen, opfert.
Zynischer Charakter
Dass sein Geschäft mit dem Fleisch in jeder Hinsicht ein blutiges ist, verdrängt er gerne. Johannas Gesellschaft gibt ihm für eine gewisse Zeit das Gefühl, ein Mensch mit Gewissen und sozialer Verantwortung zu sein. Vollkommen desillusioniert schreit am Ende die verzweifelte Johanna die Erkenntnis heraus, dass es ohne Härte nicht geht: »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.«
Regisseur Jan Jochymski macht diese Härte in der 105 Minuten dauernden Aufführung auf schockierende Weise sichtbar. Im Ausbeutungskrieg werden Menschen in den Schlachthöfen Chicagos brutal zusammengeschlagen, ja regelrecht geschlachtet. Marco Brehmes Kostüme und Bühne zitieren die ausgehenden 1920er-Jahre, in denen Brecht das Stück vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise schrieb. Als Mitautoren sind wohl Hermann Borchardt, Elisabeth Hauptmann und Emil Burri zu nennen.
Realistisches Blut
Stilisiertes und Realismus stehen in der vom Premierenpublikum mit jubelndem Beifall bedachten Tübinger Inszenierung nebeneinander. So werden die Kühe im Stück mit gescheckten Gymnastikbällen dargestellt. Das Blut auf den Schürzen der Schlächter sieht aus wie echt.
Schwäbisches Tagblatt, 20. April 2015
(von Wilhelm Triebold)
Unterm Strich: Bertolt Brechts prophetische Kapitalismuskritik über das Gut und Böse in der rotierenden Fleischmarktwirtschaft: Hier wird es am LTT sinnig auf den Punkt gebracht. Erst kommt das Fressen und das Kapital, dann die Moral.
(…) Das "Stück der Stunde" sei Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe", meint das LTT. Und hat damit sicher recht, was aktuelle Bezüge angeht: Undurchschaubar gewordene Geld- und Warenströme bestimmen Sein und Bewusstsein mehr denn je, viele fühlen sich all dem ausgeliefert. Brecht hat das schon 1929, im Schreckensjahr von Börsencrash und Wirtschaftskrise, hellsichtig erkannt, um es auf die Hach- und Schlachtordnung der Fleisch- und Viehmärkte zu übertragen. Außerdem aber, nicht zu vergessen, erzählt Brechts Lehrstück vom Scheitern der Ideale und der Hoffnungen auf eine gütig-gerechtere Welt. Es bleibt am Ende nur der düstere Ausblick, nicht zufällig heißt die Titelheldin Johanna Dark. Sie muss sich von der gutmenschelnden Moralverfechterin zur finster-militanten Gewaltpredigerin wandeln.
"Warum man in einer schlechten Welt nicht gut sein darf, das ist das Thema der ,Heiligen Johanna der Schlachthöfe'", schreibt Hannah Arendt in ihrem Brecht-Essay über "dieses wunderbare frühe Stück, in dem das Heilsarmeemädchen aus Chicago lernt, dass am Tage, an dem man die Welt verlässt, es mehr darauf ankommt, eine bessere Welt zu hinterlassen, als ein guter Mensch gewesen zu sein." Treffender lässt es sich kaum sagen. Doch weil die Welt weiterhin auch von schlechten Menschen, dazu noch von Menschenschlächtern bevölkert ist, weigert sie sich einfach, besser zu werden. (…)
Nur eine von ihnen erscheint finster entschlossen: Johanna, bei Laura Sauer eine Art prinzipientreue furchtlose Jugendgemeinderätin. Dieser Bubitrotzkopf würde heute, keine Frage, erst als Vegetarierin für artgerechte Tierhaltung demonstrieren und danach auf der Anti-TTIP-Demo mitmarschieren.
Auf der anderen Seite: der schwer dämonisch ausgeleuchtete Wurstmogul Mauler. Fleisch-Wolf unter Wölfen mit ebensolchem Grinsen. Martin Bringmann spielt ihn überzeugend als einen erzkapitalistisch abgebrühten Geschäftssinnhuber, den weder aufkeimende Skrupel noch das aufflackernde Faible für die Reinheits-Ikone Johanna vom gewinnstrebenden Weg abbringen.
Das gilt auch für die gesamte Aufführung. Sie bleibt zielstrebig und hat deswegen Brechts theater-episch gemästete Vorlage (die man lässig auch auf dreieinhalb Stunden strecken könnte) fachgerecht auf die Hälfte der Zeit zerlegt und zerkleinert. Eher eine "eilige Johanna der Schlachthöfe", ohne dass dies sonderlich stört. Die Strichfassung bringt alles Nötige und Wesentliche unter. Es wird außerdem durchweg klar und deutlich formuliert und artikuliert; längst keine Selbstverständlichkeit auf den Schauspielbühnen, auch nicht in der jüngeren LTT-Historie. Und verkünsteln will sich diese grundsolide, gediegene Stadttheater-Arbeit (was keine keineswegs eine Schmähung sein soll, im Gegenteil) erst recht nicht. (…)
Die Inszenierung arbeitet die Gegensätze schön heraus: Verführ- und korrumpierbar sind zuerst die Schein-Heiligen, aufrecht und für die Seligsprechung kompatibel bleibt allein diese tapfere, sonderbare Heilige Johanna. Wäre da nicht dieser Passus am Schluss. Die Missionarin demissioniert als Gewaltfreiheitskämpferin, sie schleudert immer rasender ihre Wut heraus: "Wer sagt, dass es einen Gott gibt, den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen, bis er verreckt ist." Und: "Es hilft, nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind."
Um sie herum streift bereits die Vendetta-Guerilla mit Guy-Fawkes-Masken. Landet Johanna, die anfangs so Gutgläubige, am Ende doch noch bei der Occu- oder Blockupy-Bewegung?