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Bürgerliches Lustspiel von Carl Sternheim
Schwäbische Zeitung, 21. Juni 2018
(von Jürgen Berger)
Er hatte die heuchlerische Moral eines neuen Zeitalters im Blick. Und er war ein genauer Beobachter der gesellschaftlichen Veränderungen rund um die Zeitenwende des vorletzten Jahrhundertwechsels: In Tübingen hat der griechische Schauspieler und Regisseur Akillas Karazissis Sternheims bürgerliches Lustspiel nun inszeniert, als sei es die expressionistische Pilotfolge einer Netflix-Staffel.
Als Carl Sternheim partout wollte, dass die Gattin eines wilhelminischen Beamten auf offener Straße ihre Hose verliert, wurde das als derart skandalös empfunden, dass 1911 die Uraufführung der Bürgersatire „aus Gründen der Sittlichkeit“ zunächst nicht gespielt werden durfte. Angeordnet hatte das Berlins Polizeipräsident Traugott von Jagow. Betroffen war Max Reinhardts Inszenierung am Berliner Theater. Vordergründig ging es um das Reizwort „Hose“, tatsächlich aber wohl darum, dass Sternheim gnadenlos vorführte, wie triebgesteuert Spießbürger in den eigenen vier Wänden sein können. Allen voran Theobald Maske, der um seine lebenslange Verbeamtung fürchtet und der Gattin hinterher zetert, wie ihr das mit der Hose nur passieren konnte.
Der Mann ist aber auch derart geldgierig, dass er in seiner gutbürgerlichen Wohnung gleich zwei Untermieter aufnimmt, wissend, dass beide scharf auf seine Gattin sind. Scarron (Daniel Tille), ein snobistischer Schönling, hat gute Karten bei Luise. Mit Mandelstam (Raphael Westermeier), dem jüdischen Friseur, will sie nichts zu tun haben, er dafür um so mehr mit ihr. Dann wäre da noch Fräulein Deuter (Sabine Weithöner), die Luises One-Day-Stand mit Scarron generalstabsmäßig plant und ihrerseits scharf auf den Hausherrn ist. Das wiederum beruht auf Gegenseitigkeit und hat ziemlich viel Verkehr im Hause zur Folge. Hosen gehen runter, Röcke fliegen hoch.
Man könnte das als enthemmten Hasch-mich-Boulevard inszenieren. In Tübingen, wo Karazissis Sternheims bürgerliches Lustspiel lustvoll in einem zeitlosen Raum platziert, werden die Niederungen des sexuellen Begehrens allerdings nicht gezeigt. Es geht um mehr. Karazissis inszeniert die seelischen Abgründe hinter der Maske bürgerlicher Wohlanständigkeit. Und er legt Wert darauf, dass die strenge Wilhelminische Epoche auch eine Zeit des blühenden Expressionismus war, in der alles in Richtung einer farbigen Darstellbarkeit von Innenwelten und Befindlichkeiten drängte. Kathrin Krumbein (Bühne und Kostüme) hat zu diesem Zweck ein bonbonfarbenes Interieur gebaut, in dem lediglich die Küchenzeile spartanisch wirkt.
Jennifer Kornprobst gibt der Luise die Anmutung einer naiven Durchtriebenheit. Mal guckt sie wie ein frisch geborenes Baby, dann blickt sie dem Schnösel Scarron derart lüstern hinterher, dass klar ist: Das mit der Hose auf der Straße war nur ein Vorspiel. Madame Maske könnte ein Opfer ihres Berufsbeamtengatten sein, spielt aber ihr eigenes Spiel. Hier ist jede und jeder des anderen Raubtier. Patrick Schnicke etwa leuchtet eine Seite des Hausherrn aus, die alles andere als nett ist. In Tübingen ist Sternheims Staatsdiener ein sadistischer Patron und bösartiger Regisseur häuslicher Spielchen, der alle manipuliert. Vor allem Herrn Mandelstam führt er derart vor, wie das sonst nur pubertierende Jungs tun. Der gute Theobald, so viel ist klar, würde ohne mit der Wimper zu zucken auch den Zuhälter der Gattin geben, machten die Herren Scarron und Mandelstam nur endlich ein Angebot.
Man könnte meinen, Karazissis habe die schwäbische Pilotfolge einer expressionistischen Netflix-Staffel inszeniert. Herr Maske ist der Chef einer familiären Staatsholding, in der alles kapitalisiert wird, was nicht bei drei in den Neonsträngen hängt. Daheim bei den Maskes ist ein Ekel unterwegs, vor dem man tatsächlich Angst haben sollte und das am Ende ankündigt, die beiden Untermieter hätten die Haushaltskasse gut gefüllt. Endlich könne er verantworten, der Luise „ein Kind zu machen“. Nicht auszudenken, was der bösartige Lüstling dem Nachwuchs antun wird, hat Luise endlich entbunden. Das allerdings wäre endgültig kein bürgerliches Lustspiel mehr.
Schwarzwälder Bote, 26. Mai 2018
Mutiger Griff in das Füllhorn des Theaters
(von Christoph Holbein)
Inszenierung von Carl Sternheims "Die Hose" präsentiert sich als clowneskes Spektakel
Eines lässt sich Regisseur Akillas Karazissis nicht nachsagen, dass er keinen Mut hat. Das bürgerliche Lustspiel „Die Hose“ von Carl Sternheim inszeniert er in der Werkstatt des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) unkonventionell gegen den Strich gebürstet. In den rund zwei Stunden ohne Pause entwickelt sich auf der Bühne ein groteskes ins Absurde übersteigertes und überzeichnetes Spiel, mit dem der Regisseur das Werk zu entstauben versucht. Die Protagonisten – das gesamte Ensemble fesselt mit enormer Spielfreude – rennen über die Bühne, tanzen auf dem Tisch und hangeln sich in aufgehängten Gummibändern durch die Szenen, dabei äußerst augenfällig charakterisiert durch die clownesk anmutenden Kostüme von Kathrin Krumbein und plakativ herausgehoben durch die grell geschminkte Maske der Schauspieler – etwa wenn der Haarscheitel rot im Dunkeln leuchtet.
Karazissis inszeniert slapstickartig, lässt seine Akteure ein hohes Tempo gehen, körperbetont und mit ausladenden Bewegungen untermalt, lässt sie tanzen und mimisch stark übertreiben. Da zucken die Körper theatralisch, da gibt es Eruptionen voller Wortkaskaden, da turnen die Schauspieler durch den Raum. Ein bisschen erinnert das an Commedia dell’arte mit der pointierten, oft ins Publikum gerichteten grellen, plastischen Spielweise, mit den auf die Spitze getriebenen Ticks und Marotten der schrägen Typen. Das ist affektiert, mitunter affig. Die Schauspieler kreischen wie Vögel, stecken dem anderen den Finger ins Ohr oder in die Nasenlöcher, saugen den Honig aus dem Fläschchen wie ein Baby, kokettieren mit sich und dem Publikum, leben ihre sexuelle Begierden aus und lachen gekünstelt. In tänzerischen Bewegungen agieren sie mit viel Verve und innerem Drive. In der skurrilen Szenerie saufen, kotzen sie, ziehen sich aus, albern herum und pinkeln auf offener Szene.
Auch das Publikum und die Soufflage bleiben nicht verschont, werden mit einbezogen. Das ist Theater pur - ein intensives Spektakel voller Veitstanz und Abstrusität. Der Regisseur schöpft aus dem Vollen mit Zirkus und Klamauk, mit Durchfall-Geräuschen aus dem Off und kindischem Gehabe der Protagonisten, mit Kitsch und makabren Sentenzen.
Angesichts dieser enormen Fülle der Assoziationen allerdings gerät der Inhalt des Stücks, die Aussage Sternheims, der mit seinen Figuren hier die romantischen Ideale verhöhnt und dort bei der Hauptfigur, dem Beamten Theobald Maske – von Patrick Schnicke lebensfroh dargestellt – Geldgier, Selbstgefälligkeit, Berechnung und Brutalität anprangert, fast in den Hintergrund. Und makaber-bissige politische Andeutungen etwa in Richtung Judenfeindlichkeit der Protagonisten – „Dusche mit Gas... - Gasheizung“ – bleiben Einsprengsel.
Reutlinger Generalanzeiger, 30. April 2018
(von Kathrin Kipp)
Am LTT wird das bürgerliche Lustspiel "Die Hose" von Carl Sternheim zur grotesken Herrenmenschen-Orgie
Eigentlich ist »Die Hose«, uraufgeführt 1911, eine bitter-brav-expressionistische Satire über die Lächerlichkeit und Doppelmoral der wilhelminischen Spießbürgerschaft kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Einer Gesellschaft, in der sich einer wie Theobald Maske in Aufrechterhaltung seiner Fassade die ein oder andere Unzucht, Gier und Antisemitismus gönnt: »Meine Unscheinbarkeit ist eine Tarnkappe, unter der ich meinen Neigungen, meiner innersten Natur ungehindert frönen darf.«
Weil man solche »Befreiungsprozesse« von bürgerlich Zwangsbeschränkten in Richtung Herrenmensch derzeit wieder allerorten beobachten kann, ist das Stück brandaktuell, vor allem unter der Regie von Akillas Karazissis, der »Die Hose« für das LTT recht expressionistisch aufbereitet. Es geht um den kleinen Skandal, dass Maskes Frau auf offener Straße ihre Unterhose verliert, was zwei der dadurch angetörnten Beobachter dazu bringt, sich spontan bei den Maskes einzumieten.
Im zunehmend bizarren Puppenspiel am LTT folgt daraus eine hysterische und orgiastische WG-Gründung. In der sich Luise Maske (Jennifer Kornprobst als zunächst sehr kokettes, aber zunehmend konfuses Püppchen) für unwiderstehlich halten muss, dann aber merkt, dass sich überhaupt niemand für sie interessiert. Weil die Jungs vollauf damit beschäftigt sind, ihre Weltanschauungen, die irgendwo zwischen schwülstiger Poesie, Wagner und Nietzsche hin- und herschwirren, auszutauschen – sprich: ihre Teilchen miteinander zu vergleichen. Und sich als Mannsbilder neu zu definieren, beziehungsweise sich selbst zu finden, denn: »Stücke von ihm sind immer allein unterwegs, er ist nie ganz sich selbst.«
An solch hübschen Sprüchen kann man sich im nicht immer ganz originaltexttreuen LTT-Lustspiel laben, auch wenn ansonsten das Inhaltliche öfter mal in der schrillen Performance untergeht. Vor allem, als die drei Jungs auf ihrer alkoholgeschwängerten Identitätssuche eine burschenschaftsabartige Orgie veranstalten: »Wo Saufen eine Ehre ist, kann Kotzen keine Schande sein.« Und so geht es »Atemlos durch die Nacht«, man füllt sich ab, tanzt »Hoppelpoppel« und landet schließlich zu dritt im Bett, das von Kathrin Krumbein als Spitzkegelbrett aus Schaumstoff designt wurde. Die ganze WG-Zentrale ist vielsagend ausgestattet, mit grün leuchtenden Strängen oder Schnüren, an die man sich hängen, in die man sich aber auch verstrangulieren kann: So stabil und labil wie alle Normen.
Die Schauspieler liefern mit viel Geschrei, Pathos und Erschöpfung eklige, aber auch lustige Szenen ab. Patrick Schnicke als neurotischer Theobald Maske macht als biodeutscher Kraftprotz und nietzeanisches Alpha-Männchen seine Frau für alles Unglück verantwortlich und schickt sie an den Kochtopf in Form eines Toilettenstuhls.
Maske liebt Gesetz und Ordnung, vermietet aber seine Bude trotzdem doppelt und dreifach. Er predigt Körperertüchtigung und Ariersein, vor allem gegenüber dem schwindsüchtigen Friseur Mandelstam, den er aufpäppeln und »abrichten« will. Diesen spielt Raphael Westermeier quasi tripolar: alles zwischen lüstern, aggro und depro. Wenn’s ganz dicke kommt, kann er asthmatisch und epileptisch gleichzeitig. Seine zerbrechliche Männlichkeit kompensiert er mit pathetischem Wagnerfanatismus. Noch einen Zacken pathetischer, theatralischer und mit expressionistischer Inbrunst spielt Daniel Tille mit Eselsmaske den Nicht-ganz-Dichter Scarron. Der vor lauter Hingabe zum Weiblichen permanent in Ohmacht fällt: »Ein nie da gewesenes Feuer bläst mich an!« Und der seine tiefen Wallungen gerne mal in Form von Ausdruckstanz zur Schau stellt.
Reutlinger Nachrichten, 30. April 2018
Hinter der Maske lauert das Unglück
(von Anja Weiß)
"Die Hose", ein bitterböses bürgerliches Lustspiel von Carl Sternheim, das einst einen handfesten Skandal auslöste, hat am Tübinger LTT Premiere gefeiert.
Frau Maske verliert die Hose, und das mitten auf der Straße, wo es jeder sehen kann. Mit diesem Unglück beginnt das bitterböse, satirische Schauspiel „Die Hose“ von Carl Sternheim. Ein Umstand, der 1911 bei der Uraufführung für einen handfesten Theaterskandal gesorgt hat, erschüttert heute niemanden mehr. Kalt lässt einen die Inszenierung des Stücks aber dennoch nicht. Denn Regisseur Akillas Karazissis hat sie ganz bewusst zeitlos angelegt, sie könnte ebenso in den 1930er spielen wie in unserer Gegenwart. Es sind diese archetypischen Figuren und Typen, die die Zeit überdauern und die darum immer noch Aussagekraft besitzen.
Nehmen wir die Protagonistin Luise Maske, der es nicht gelingt, sich gegen ihren Ehemann zu wehren. Jennifer Kornprobst gibt sie als zerbrechliches Vögelein, mit blond hochtoupiertem Haar und engem Rock. Noch nicht einmal ein Jahr verheiratet, ist sie bereits todunglücklich. Sie putzt sich heraus, kocht, umsorgt ihren Mann, gibt sich ihm, wen auch widerwillig, hin. Dennoch kann sie es ihm, diesem nach vorne braven Beamten mit dem heimlichen Hang zum Sadismus, Patrick Schnicke ist dieser Saubermann mit dunkler Seite, nicht recht machen. Er stellt sie bloß, demütigt sie, verletzt sie. Nach dem Unglück mit der Hose fürchtet er um seine Anstellung, doch stattdessen beschert es ihm unerwartete Einnahmen.
Es melden sich Mieter, die nicht nur auf die Zimmer, sondern auch auf die Hausherrin aus sind, die derart pikant mitten in der Stadt zu sehen gewesen ist. Theobald Maske stört das wenig, er preist seine Gattin an, die Wohngesellschaft mutiert immer mehr zum Tollhaus mit den irrsinnigsten Bewohnern. Denn es ziehen ein: der selbstverliebte Geck Frank Scarron (Daniel Tille), ein Schönling, hinter dem nicht nur die Hausherrin, sondern auch die notgeile Nachbarin her ist: Sabine Weithöner spielt diese alte Jungfer, die letzten Endes mit dem Hausherrn ein Techtelmechtel anfängt. Benjamin Mandelstam (Raphael Westermeier) ist der dritte Mann im Bunde, ein hypochondrischer Psycho, mit dem Luise Maske Mitleid empfindet, der aber von ihrem Mann ebenfalls schikaniert und beleidigt wird.
In der Wohnung wird geschrien und getobt, gekämpft, gesoffen und gewürgt. Hinter der bürgerlichen Fassade treten Abgründe hervor, die auch schon das Bühnenbild erahnen lässt. In grellen Farben sind Seile gespannt, das Ehebett besteht aus Stacheln, die Luise während des Aktes beinahe aufspießen. Am Ende verlässt der Künstler die Wohnung, um mit einer Prostituierten von dannen zu ziehen, Luise zieht sich unter den Tisch zurück, ihr Gatte betrügt sie weiter mit der Nachbarin, die vor seinen Anfeindungen aber auch nicht verschont bleibt.
Carl Sternheim hat 1911 ein bitterböses Stück geschrieben, das bis heute nichts von seinem Witz eingebüßt hat, auch wenn einem das Lachen manchmal fast im Halse stecken bleibt. Denn obwohl die Männer widerwärtig sind, sind es doch Menschen. Da kann durchaus Mitleid aufkommen, wenn der kränkliche Barbier Luise den Honig aus der Hand schleckt wie ein Baby, oder wenn sich alle gemeinsam besaufen, singen, und dann wieder streiten bis zum Eklat. Am ärmsten aber ist Luise, die nach dem Hosenmalheur die schlimme Wahrheit über sich und ihre Ehe erkennen muss, die nur aus Elend besteht. Da bleibt ihr nur eines: kompletter Rückzug und ein wenig Trost aus dem Hit von Zarah Leander: „Nur nicht aus Liebe weinen“.
Schwäbisches Tagblatt, 30. April 2018
Gummitwist für Charaktermasken
(von Wilhelm Triebold)
Tote Hose: Akillas Karazissis verjuxt in der LTT-Werkstatt ein Sternheim-Lustspiel.
Unterm Strich: Das LTT vergeigt Sternheims "Hose", indem die Regie zwischen fluoreszierendem Hosenträgern und Bühnenbild-Spannriemen auch noch alle Beteiligten auf die Körpertheater-Folter spannt.