(…) Jeder und jede aus dem neunköpfigen "Karawanserei"-Ensemble hat drei, vier, im Extremfall fünf Rollen zu bewältigen. Ein Identitätswechselspiel der Schicksale und damit verbundenen Geschichten. Sie werden nicht einfach nur nacherzählt, sondern bis zur Kenntlichkeit angedeutet. Sie springen von den Drangsalierungen eines afghanischen Liebespaares durch finster lauernde Mullahs umstandslos zu Elendsflüchtenden aus tschetschenischem Kriegsgebiet, von der persischen Mittelstandsfamilie, die ebenfalls vom religiösen Furor bedrängt wird, ohne größere Umschweife zur russischen Babuschka, die einfach das bessere Leben sucht.
Solche Bedrängungs- und Bedrohungsszenarien als Fingerzeige auf Fluchtursachen sollen noch einmal verdeutlichen, wie herzlos jedes Abschotten, ja sogar jedes Regulieren erscheint. Die Neun vom Landestheater spielen das auch mit Herzblut und Überzeugungskraft, mitunter mit Leidenschaft. Vor allem Florenze Schüssler, die gleich drei verschiedene junge Geflüchtete verkörpert, überzeugt hier schauspielerisch, ebenso Stephan Weber, der als abgebrühter serbischer Chef-Schlepper Yosco durchaus auch eine "menschliche" Seite (als treusorgend telefonierender Familienvater) zeigen darf.
Yoscos Geschäftsmodell ist ein Loch im Zaun, das den Geflüchteten das Heil verspricht, auf den rettenden Eurotunnel-Zug in Richtung England aufspringen zu können. Dieser Yosco, der Familien auseinanderreißt oder Mitschuld trägt, wenn einem beim Aufspringen das Bein abgerissen wird, ist Herr über triste Wirklichkeiten oder Zukunftsverheißungen, über Not und Elend oder die Chance aufs bessere Leben, auch Herr über Leben oder Tod. Er kassiert und lässt passieren. Oder auch nicht.
Am nachdrücklichsten sind neben den Kampfszenen am Zaun sicherlich die Verhöre, die der irakische Schutzflehende Salahaddin Al Bassiri in einem australischen Ausländerbüro über sich ergehen lassen muss. Auf der LTT-Bühne, eingeschlossen im Bretterkreis, gibt der Schauspieler Jürgen Herold zunehmend verzagt-verzweifelt Auskunft über ein alternativloses Leben, über die Lügen und Wahrheiten, die ihm der staatliche Rechtsvertreter mit dem offensichtlichen Ziel entlockt, den Unbequemen hinterher ausweisen zu lassen. Hier ist die Schräge, die Ausstatterin Katrin Busching entworfen hat, passendes Sinnbild dafür, wie alles ins Rutschen kommt.
Am Ende schlägt die LTT-Inszenierung den Bogen ins Hier und Heute. Sie versteht sich zwar nicht als Dokumentartheater, in dem coram publico Statements oder Berichte vorgetragen werden. Doch nun steht ein Schauspieler am Mikro und verliest die Klage eines Flüchtlings, der vor über 17 Jahren an der australischen Küste auf einem Seenot-Rettungsschiff dümpelte, bis es die Behörden unbarmherzig abwiesen.
Was sich seitdem geändert hat? Der letzte Satz dieser Aufführung macht's klar: "Am 23. September 2018 wurde die private europäische Seenotrettung eingestellt."