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Nach dem Roman von Sarah Jäger · Bühnenfassung von Monika Kosik · 14+
Reutlinger Generalanzeiger, 18. März 2024
Fünf am Rand des Lebens: Das Junge LTT zeigt »Die Nacht so groß wie wir«
(von Thomas Morawitzky)
Das Junge LTT bringt Sarah Jägers Jugendroman »Die Nacht so groß wie wir« auf die Bühne: Die Abenteuer einer Abi-Nacht.
»Heute entlassen wir Sie ins Erwachsenenleben!« – im Chor sprechen sie die Worte nach, die ihr Rektor kurz zuvor sprach. »Die Nacht so groß wie wir« führt in die Nacht nach einem Fest: Das Abitur ist vorbei. Was wird nun? Erst einmal werden Grenzen erprobt, erst einmal leben sie sich aus, wollen sich entdecken. Sie denken an die Vergangenheit, denken an die Zukunft. Sie träumen von einer Initiation, aber sie wissen, von ungefähr, dass die Zeit ihrer Freundschaft zu Ende geht.
»Die Nacht so groß wie wir« ist ein Roman der Jugendbuchautorin Sarah Jäger, Jahrgang 1979, erschien 2021 und wurde schon einmal, in Düsseldorf, auf die Bühne gebracht. Monika Kosik hat den Stoff nun für das Junge LTT neu bearbeitet und inszeniert. Sie stellt ihre Figuren auf in kühlem Techno-Mobiliar, vor Wänden aus schimmerndem Aluminium, neonleuchtenden Gittertrennwänden, blauen Würfeln und Fässern – die Bühne schuf Sophia Debus. Die große Party ist das zentrale Motiv des Stücks – deshalb gibt es viel Musik, modernen R’n’B. Das Zueinander der Figuren, ihr Gruppengefühl artikuliert sich in Tanzszenen – Lin Verleger besorgte die Choreografie.
Die Nacht, durch die sie ziehen, die Menschen, auf die sie treffen, entstehen aus ihren Erzählungen heraus: Abwechselnd berichten sie von ihrer Zeugnisübergabe, davon, wie Pavlow den Rektor ihrer Schule dazu brachte, sich vor ihm zu bücken, indem er sein Zeugnis fallen ließ. Pavlow ist es auch, der sagt: »Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.« Großes Pathos ist angesagt.
Und Pavlow möchte zu Beginn dieser Nacht eine Rechnung begleichen: Die Clique dringt ins Haus von Pavlows Vater ein und richtet dort Verwüstung an. Der Vater hat nun eine neue Familie, vernachlässigt seinen Sohn. Familienbilder sind Beutel, voll von schwarzen Papierfetzen, die platzen, über die Bühne wehen. Die Aufmerksamkeit, die Pavlow sich erhoffte, wird ihm aber weiterhin versagt – der Vater schaut ihn nur kalt an. »Nicht einmal eine Ohrfeige bin ich ihm wert«, sagt Pavlow.
Er ist die am deutlichsten zerrissene Figur des Stücks. Er nähert sich Suse zuletzt sehr direkt, sie wehrt ihn ab. Suse und Pavlow waren die Kernzelle der Clique – nun zerbricht ihre Freundschaft. Bo dagegen erzählt schließlich, weshalb er das Abitur nicht bestand: Ein Aneurysma wurde in seinem Gehirn schon früh entdeckt, ist gewachsen. Er und Maja kommen sich dennoch näher – aber auch Maja, die am sichersten, optimistischsten wirkt, hat ein Geheimnis. Und Tolga schweigt – als eine Figur, die fast autistisch wirkt, als heimlicher Mittelpunkt, kriecht er in eine Tonne, betrachtet alles mit dem Camcorder, filmt unentwegt und wirft die Bilder der Clique ans Wellblech der Bühne.
Ein wenig erinnert »Die Nacht so groß wie wir« im LTT an John Hughes Film »The Breakfast Club« von 1985 – dort treten zwar keine Abiturienten auf, die feiern, sondern Jugendliche, die nachsitzen müssen, sich zuvor nicht kannten. Das Muster jedoch ähnelt sich: Die Schule als ein Ort, an dem sich Schicksalsgemeinschaften bilden, aus jungen Menschen mit sehr unterschiedlichem sozialem Hintergrund, und ein Ereignis, das einen Schnitt setzt, sie zusammenwürfelt und dann verstreut im Leben. Was aus ihnen werden soll, bleibt offen, und das Stück selbst wird zum Porträt dieser fünf Charaktere, für die der sogenannte Ernst des Lebens eigentlich lange schon begonnen hat.
Sophie Aouami als Maja, Anna Golde als Suse, Michael Mayer als Bo, Toni Pitschmann als Tolga und Alvaro Rentz als Pavlow zeichnen diese Porträts sehr ausdrucksstark, zeigen die Protagonisten am letzten Abend ihrer Jugend als Persönlichkeiten, die schon gezeichnet sind – rebellisch, extrovertiert, in sich verschlossen, vernünftig, sensibel. Drei von ihnen, Maja, Suse und Bo, sitzen zuletzt noch beisammen und denken zurück. »Wenn wir uns nachts verlieren, finden wir uns morgens vor der Penne wieder. Und da sitzen wir dann und warten, bis irgendwann der Schlüssel umgedreht wird.«
cul-tu-re.de, 17. März 2024
(von Martin Bernklau)
Monika Kosik inszeniert das Abi-Drama „Die Nacht so groß wie wir“ nach Sarah Jägers Roman in der Tübinger Werkstatt des Jungen LTT
Es ist die Nacht der Nächte: die Abi-Party nach den Prüfungen und der Abschlussfeier. Sarah Jäger hat aus dem Stoff einen Roman gemacht, und Monika Kosik hat „Die Nacht so groß wie wir“ für die Bühne gefasst und das Coming of Age-Drama eines „ohne Blut und Spucke“ verschworenen Quintetts in ihrer Werkstatt für das Junge LTT inszeniert. Zwei Schulklassen sorgten am Samstagabend für eine ausverkaufte und sehr authentische Premiere. Laune: gut, sehr gut sogar.
Pavlov (Alvaro Rentz) hat schon recht. Der Philosoph, Paranoiker und Dandy der Clique lädt die Stunde, diese eine Nacht spirituell zur Osternacht auf: Zwar steht ihnen von nun an die Welt offen, aber „das ist die Nacht, in der wir sterben müssen, vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren“. Es soll etwas mehr steigen als nur eine Party, Abtanzen und Komasaufen, nachdem „der alte Mann“ sie in alphabetischer Reihenfolge entlassen hat. Einen nicht: Bo (Michael Mayer) ist durchgerasselt.
Der Schauplatz ist fantastisch. Sophia Debus hat aus Leuchtgittern, blauen Tonnen und Würfeln sowie einer multifunktionalen Waschtrommel eine Bühne von grafisch-abstrakter Schönheit und hoher Praxistauglichkeit auf dem gewohnt hohen LTT-Level geschaffen. Ihr Quintett hat sie auch sinnfällig kostümiert. Der Dandy Pavlov trägt überm Ärmellosen seinen weißen Anzug, die Klassenschönste und enzyklopädisch über jeglichen Tratsch, auch den ältesten informierte Klatschtante Suse (Anna Golde) führt bauchfrei wattiertes Barbie-Rosa über der edlen Jogging-Hose spazieren. Tolga (Toni Pritschmann) im Prepper-Look und die japanophile „Brille“ Maja (Sophie Aouami) sowie Bo im prollig-rockigen Schwarz komplettieren das Quintett.
Sie bringen alle ihr Päckchen mit aus dem ersten, dem alten Leben und werden ihre Rucksäcke mit in die weite Welt schleppen, bis nach Ghana, Hamburg oder Berlin, nachdem diese Nacht das feste Band um die Clique zerschnitten hat. Pavlov hat als überflüssiger Sohn aus erster Ehe ein Vaterproblem von kafkaeskem Ausmaß und sinnt auf befreiende, zerstörende Rache. Als erstes werden in einem wilden Exzess der Truppe die Familienbilder zerstört, dann klaut die Combo das väterliche Auto. Nur der Triumph, vom verhassten Alten Gewalt zu erfahren, wenigstens eine Ohrfeige, der bleibt ihm versagt.
Um den Vater geht es auch bei Suse, deren Offenheit für alle und alles – später wehrt sie beim Rumgeknutsche einen sexuellen Übergriff von Pavlov rabiat mit einem Knietritt ab – vielleicht von dessen Unfalltod und dem lockeren Umgang der Mutter mit diesem Verlust herrühren mag. Die Spritztour über den Stadtring führt zum nächtlichen Südfriedhof, wo die Freunde überrascht vor Suses Vergangenheit und dem Grab ihres Vaters stehen. Sieh an: Man hat doch nicht alles voneinander gewusst.
Von Tolja erfährt man am wenigsten, weshalb Toni Pitschmann die Rolle auch am wenigsten entfalten kann. Sogar die in Kindertagen mit Maja gemeinsam gebaute Waldhütte „Notausgang“ bleibt als eigentlich dankbares Motiv seltsam ungenutzt. Vielleicht liegt das am Skript. Auch dieser (im Trend liegenden) Dramatisierung eines Romanstoffes macht ein wenig zu schaffen, dass Szenisches zugunsten von Erzählung, ja manchmal sogar Reflexion oder gar deklamatorischer Rede zurücktreten muss.
Beim Bühnensprechen gibt es Unterschiede im Schauspiel-Quintett, was man auf den hinteren Plätzen an der abgestuften Verständlichkeit wahrzunehmen hat: Anna Golde ragt da deutlich heraus, übrigens auch mit ihrer Präsenz. Aber in Lin Verlegers Choreografie sind alle Fünfe eine geschlossen tolle Truppe. Die Musik hat Valentin Schroeteler bis hin zu wüst wummerndem Techno ganz passend zusammengestellt.
Nicht immer völlig authentisch oder zeitgemäß mag die Sprache wirken, obwohl Sarah Jäger ihren Roman erst vor zwei, drei Jahren veröffentlicht hat (sie ist Jahrgang 1979). Heißt die Bildungsanstalt wirklich noch „Penne“? Oder ist das nur der nostalgische Name einer Schülerkneipe? Geht man noch zum „Gyros“-Griechen? Die Traumatisierung von Trennungskindern freilich wird seither nicht seltener oder belangloser geworden sein. Ganz witzig, dass der prollige Bo inzwischen das zwanghafte Gendern veräppeln darf.
Ein wenig weit hergeholt wirken Handlungsdetails wie das Aneurysma im Hirn als Hintergrund für Schulversagen oder die Haiku-Liebe der japanophilen „Brille“ Maja. Auch deren Fälschung einer Schülerrats-Abstimmung bleibt etwas unterbelichtet wie ein paar andere Geschehnisse, Konflikte oder der stellvertretende Weltreise-Sehnsuchtsort Ghana auch. Das gegenseitige Abfilmen der Schauspieler beim Schauspielen, nach dem (teichoskopischen) Einspielen von Videos zum Theater-Trend zwischen Mode und Marotte geworden, aber dramaturgisch sonst nicht immer sinnvoll, hat in dieser Inszenierung schon eine gewisse Schlüssigkeit. Denn es geht um die Generation der Selfie- und Video-Poster auf Instagram, TikTok oder anderen Kanälen.
Diese Generation und gerade die Schulklassen bis zum Abi hin werden das Stück und seine kraftvoll bildstarke Inszenierung lieben. Der standesgemäß trampelnde und johlende Applaus der Schüler bei der Premiere ist da jedenfalls ein gutes Zeichen.