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Komödie nach dem gleichnamigen Film von Magnus Vattrodt
Schwäbisches Tagblatt, 25. März 2021
Leben heißt aus den Fugen geraten
(von Peter Ertle)
„Ein großer Aufbruch“ lässt die Zuschauer an einem Abendessen teilnehmen, bei dem die wenigsten Appetit haben. Dafür bekommt man Einblick in die hier versammelten, schicksalhaft ineinander verwobenen Leben. Der Tod? Ach so, ja: Kommt morgen!
Holm nennt Marie einen freudlosen kalten Fisch. Marie schüttet ihm daraufhin ihren Rotwein übers Hemd. Heiko ruft entsetzt: „Das war jetzt aber nicht der Barolo!“ Wenig später wird Katharina auf dem Tisch stehen und mit einer Pistole wild um sich fuchteln. Charlotte kollabiert und muss mit einer Spritze vor dem drohenden Tod durch Zwiebel-Allergieschock gerettet werden.
War das schon gespoilert? Drei tumultuarische Höhepunkte dieses Stücks. Um mit Holm zu sprechen: „Der Abend ist ein bisschen aus den Fugen geraten.“
Das soll er auch. „Ein großer Aufbruch“ ist eine Komödie. Es geht gar nicht um Sterbehilfe. Oder nur am Rande. Im Ernst: Wie in jedem guten Stück über Tod und Sterben geht es ums Leben. Das aber sehr spaßig. Es geht um Beziehungen, Familienstrukturen, Lügen. Der Schleier wird weggerissen, alles kommt auf den Tisch.
Ein Tisch, besser gesagt eine Tafel ist auch das zentrale Bühnenelement. Er wird oft umeinandergeschoben an diesem Abend, symbolische Aktionen: Mit dem Tisch wird Leben umgewälzt. Auch mit dem Hintergrund der Bühne (Bühne und Kostüme: Dietlind Konold) wird so umgegangen: Nicht jene Vitrine mit Geschirr, die der Autor vorgesehen hatte. Nein, dort steht Wein, in schon karikierenden Mengen. So wird die Hauptfigur charakterisiert. Theater hat eben mehr mit der Zeichenhaftigkeit der Welt zu tun als mit der Realitätsmimikry von Film und Fernsehen – wo Autor Magnus Vattrodt zuhause ist. Er schrieb das Drehbuch für die Verfilmung von Juli Zehs „Unterleuten“, auch etliche Tatort-Skripte. Sein „Ein großer Aufbruch“ wurde prominent besetzt gedreht.
Vattrodt kann Dialoge schreiben, letztlich zu geschmiert, gerade zu Beginn muss der Dialogwitz das noch Nicht an Stück strecken. Wie überhaupt der Anfang darunter leidet, dass die Gäste dieses Abendessens einen Wissensvorsprung über Holm haben, den der Zuschauer nicht hat. Weshalb der sich fragt: Warum nimmt Holm keiner ernst?
Im Laufe des Stücks wird es klarer, jetzt sind auch die Witze nicht draufgestreut sondern schießen wie Pilze aus dem Mycel der Beziehungen, zugespitztes Tiefengebrodel. Gerade die Wandlungen, die die Figuren im Kopf des Betrachters nehmen, machen nun den Reiz des Stücks aus. Am Ende sind ausgerechnet Ella (Sabine Weithöner), die als Rabenmutter und Ex-Drogenwrack denkbar schlecht eingeführt wird und Heiko (Konrad Mutschler), der als aalglatter Kanzleischnösel zunächst alles gegen sich hat – mächtig aufgewertet.
Hauptfigur Holm (Andreas Guglielmetti), den man anfänglich für einen zwar schnorrenden, dem Leben dabei aber mutig ins Auge schauenden Abenteurer und Genussmenschen hält, wird am Ende zurechtgestutzt: Ein Realitäsverweigerer, der sich nicht mal genau mit seinem geplanten Ableben auseinandergesetzt hat und seinen Töchtern einen Schuldenberg hinterlassen wird, ohne sie vorher darüber zu informieren. Ja, jetzt versteht man auch die traumatisierte Tochter Marie (Jennifer Kornprobst) besser, auch wenn die in ihrem Hass selbst zur Unsympathin des Abends wird. Als sie am Schluss zurückkehrt und still ihren Mantel aufhängt – es ist die zu Herzen gehendste Szene.
Holms beste Freunde, das Paar aus Adrian (Rolf Kindermann) und Katharina (Susanne Weckerle), bekommen irgendwann expressis verbis jene psychologische Motivierung, die man implizit vorher schon sah: Das bewundernde Beta-Pärchen zum Alphapaar Holm/Ella.
Bliebe noch Charlotte (Hannah Jaitner): Menschlich anrührend, offen, aber ein schwach im Leben stehendes Problemkind, das immer noch mit dem Abirucksack durch die Welt zieht. Regisseur Christoph Roos, Spezialist für die Umwandlung von Filmstoffen zu Bühnenstücken, hat, was diese Transformation angeht, wenig zu tun: „Ein großer Aufbruch“ ist ein klassisches Bühnenstück, das zufällig als Film Premiere hatte. Roos kann sich also auf das Kerngeschäft der Regie besinnen: Dialogen und Schauspielern folgen, Figuren akzentuieren, Rhythmus schaffen. Und beispielsweise dafür sorgen, dass eine an sich harmlose Bemerkung wie die Heikos, er habe sich als Kind immer einen Hund gewünscht, stattdessen aber eine Geige bekommen – das trockene Komikpotential bekommt, das der Autor schon im Blick hatte.
In den neunziger Jahren waren Holm, Ella, Adrian und Katharina als Entwicklungshelfer (wie das damals noch hieß) in Afrika. Wollten der Welt helfen (hatten aber hauptsächlich sich selbst im Blick) – und können doch sich selbst nicht helfen. So könnte man es beschreiben. Zumindest mit der Bitterkeit Maries. Der Zuschauer sieht das anders, der Autor auch. Er blättert Leben vor uns auf, ein jedes hat Angriffspunkte und Schwachstellen, aber auch Vorzüge und Linien, denen wir folgen, die wir verstehen.
Am Schluss erinnert sich Holm träumend an eine Autofahrt in Afrika, die Kinder auf dem Rücksitz, Ella neben ihm als „Königin“. Was am Ende bleibt: Das gelebte Leben. Wobei sich Holm da, gemäß seiner Natur, an die schönen, ihn erfüllenden Momente hält. Er nahm es sich, das Leben, das er wollte. Ob er es sich auch am Ende nimmt, spielt dagegen keine Rolle.
Ob es sich wiederum der Autor mit diesem Schluss zu leicht und eindeutig macht und die vorher erzeugte Verstrickung, die labile, jederzeit kippelige Schuld- und Verdienstverteilung zu eindeutig zugunsten einer selbstzufriedenen Hauptfigur aufgibt? Aufhören ist schwierig. Und anfangen.
Unterm Strich
Ein Mann lädt Familie und Freunde zu einem letzten Abendessen und eröffnet, er sei sterbenskrank und fahre in wenigen Tagen in die Schweiz, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Traurig? Nein – nicht nur weil ihm erst mal kaum jemand glaubt. in diesem Stück geht es weniger um Tod und Sterben als um das bisher gelebte Leben, das Beziehungsgeflecht der Gäste – inclusive der gegenseitig zugefügten Verletzungen. Eine dramatische, tragikomische Beziehungskomödie an einer Tafel. Kein bewegtes nature morte, sondern ein quicklebendiges tableau vivant.
Reutlinger Generalanzeiger, 25. März 2021
(von Thomas Morawitzky)
Schwarzer Humor und Barolo: „Ein großer Aufbruch“ über die entgleiste Familienfeier eines Sterbewilligen am LTT
Man trifft sich wieder, nach geraumer Zeit, man hält Abstand, man liegt sich keinesfalls in den Armen: „Ein großer Aufbruch“, inszeniert von Christoph Roos am Landestheater Tübingen, erzählt von Freunden und Verwandten mit Vergangenheit, vom Abgang, den ein launiger Patriarch für sich geplant hat. Wie lange das Stück noch gezeigt werden kann, und wann vielleicht wieder, ist angesichts immer neuer Coronabestimmungen im Moment gänzlich unklar. (...)