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Schauspiel von Tennessee Williams · Deutsch von Helmar Harald Fischer
Schwäbisches Tagblatt, 26. Juni 2023
(von Moritz Siebert)
Wie wichtig ist uns unser Bild in der Öffentlichkeit? Was verbergen wir? Und wo beginnt die Fantasiewelt? Das LTT zeigt eindrucksvoll, wie gut Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ in unsere Zeit passt.
Es ist eine Welt wie ein Spielzimmer: das Haus aufklappbar, beliebig verschiebbar, mit tollen Funktionen wie einem Ausklappbett und einer Veranda als Optionsbaustein. Darüber der Schriftzug „Desire“ im Disney-Stil, passend die Figuren, alles unangenehm künstlich, ihre Gespräche oberflächlich. Bis zum ersten hysterischen Gelächter muss man nicht warten, um zu merken, dass hier etwas faul ist. Da ist schon allein das Rosarot in dieser Fülle verdächtig genug.
Tennessee Williams thematisiert in seinem Erfolgsstück „Endstation Sehnsucht“ von 1947 die Veränderung sozialer Verhältnisse durch die Industrialisierung, die Lebenswirklichkeit der Menschen unterschiedlicher Schichten, ihre gescheiterten Träume, ihre Hoffnungen. Und was hat das heute mit uns zu tun? In der Inszenierung des Dramas von Regisseur Daniel Foerster am LTT wird deutlich: erschreckend viel. Premiere war am Freitag.
Blanche DuBois (Franziska Beyer), einst Südstaatenschönheit, zieht in diesen rosaroten Alptraum aus zwei Zimmern, Küche und Bad ein, als sie ihre kleine Schwester Stella (Emma Schoepe) besucht. Stella lebt hier – unter ihrem Stand – mit Ehemann Stanley (Justin Hibbeler), einem Sohn polnischer Einwanderer, der dominant, vulgär und gewalttätig ist. Dass Blanche aber keinesfalls besser dran ist als die Schwester, wird schnell klar. Sie hat das Familienanwesen und ihren Job als Lehrerin verloren, sie ist mittellos und, nach Stanleys Recherchen (er hat viele Freunde und Kontakte), in der Heimat geächtet.
Dass das Leben, das Tennessee Williams zeigt, das Gegenteil von Disney und Barbies Traumhaus ist, ist bekannt. Diese Welt ist brutal, morbide und trostlos. Stanley schlägt seine schwangere Frau, ähnlich Verhältnisse herrschen in der Beziehung des befreundeten Paars Steve (Dennis Junge) und Eunice (Julia Staufer). „Hat sie die Polizei geholt?“ – „Nein, sie holt sich etwas zu trinken.“ – „Ist auch viel praktischer.“ Und in der nächsten Szene ist alles wieder vergessen. Selfie!
Williams’ Figuren sind angreifbar und alle auf ihre Weise total am Ende. Sie sind bemüht, ihr eigenes Bild in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, es geht um Selbstdarstellung, um Beliebtheit, Status und Bestätigung – „Sag ihr, dass sie gut aussieht!“ ¨– und um die Verdrängung der bitteren Realität.
Da ist der Schritt raus aus der Südsaaten-Tristesse der späten 1940er Jahre rein in unsere Lebensrealität plötzlich ganz klein. Daniel Foerster und Mariam Haas (Bühne und Kostüme) statten die Figuren mit Smartphones als wichtigste Accessoires aus. Aufgesetzt wirkt das nicht, sondern merkwürdig selbstverständlich. Eher fragt man sich, ob nicht umgekehrt diese Leute ohne Handy unwirklich wirkten. Gefilmt und fotografiert wird jedes vermeintlich wichtige Ereignis. Wenn Steve Eunice eine Kette schenkt, wird das genauso festgehalten wie das Anbandeln des Protagonistenpaars. Wenn Stella und Stanley zusammen mit Blanche deren Geburtstag feiern, der selbstverständlich nicht der 25. Geburtstag ist, starren alle drei bloß auf ihre Smartphones. Und nichts könnte das Verhältnis in dieser Konstellation besser beschreiben. Und die Follower? Sie lauern wie Geister und beobachten von außen, kommen beklemmend nahe, drehen erbarmungslos an der Zeit und vergegenwärtigen den unerträglichen Stillstand, die Isoliertheit und Gefangenschaft der Protagonisten in ihrer eigenen Welt. Die wechselnden Stimmungen und die Kontraste zwischen düsterer Realität und Fantasiewelt unterstützen Licht und Musik, meist dezent.
Trotz ihrer betont künstlichen Erscheinung kommt man den Figuren immer näher, und, so hart das ist, man kann nicht anders, als sich mit ihnen zu identifizieren. Sie sind stereotyp, selbstverständlich durchschauen wir ihre Entwicklung und ihr Handeln. Die Tragödie, in der das alles endet, ist vorhersehbar. Und dennoch fesseln sie, jede Figur auf ihre Weise. Das funktioniert in der Inszenierung so gut, weil das Ensemble – ob Wutausbruch, Depression oder oberflächlicher Austausch – sehr glaubwürdig und überzeugend spielt.
Sie lassen die Zuschauer rankommen – und überraschen dann doch immer wieder. Sie erzeugen ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit, ein beklemmendes Widerspiel zwischen der ungeheuren Tragik der Geschichte und humoristischen Momenten wie den Annäherungsversuchen zwischen Blanche und Mitch (Stephan Weber). In dreieinhalb Stunden Spielzeit wird es keine Minute langweilig, diese Charaktere zu beobachten. Wie Franziska Beyer der Grat zwischen Wahn und Fassung, zwischen Fassade und Realität gelingt, wie sie nach manischen Momenten sofort wieder zurück in die Rolle der taffen Lady findet, die ihrem Umfeld glaubhaft machen möchte, dass sie diejenige ist, die die Oberhand in Beziehungen und Konflikten hat, das ist großartig. Man weiß oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Es bleibt die Sehnsucht – nach was auch immer.
Unterm Strich
Daniel Foerster gelingt eine überzeugende Verbindung der Geschichte mit der gegenwärtigen Lebensrealität und eine definitiv sehenswerte Inszenierung. Das Ensemble um eine herausragende Franziska Beyer als Blanche spielt fesselnd und sorgt trotz der Vorhersehbarkeit der Charaktere für permanente Spannung. Von dreieinhalb Stunden Spielzeit sollte man sich nicht abschrecken lassen.
Reutlinger Generalanzeiger, 26. Juni 2023
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT inszeniert Tennessee Williams’ Stück »Endstation Sehnsucht« als bunte Farce mit stillen Momenten
Die Ironie ist unverkennbar: 72 Jahre sind vergangen, seitdem Filmregisseur Elia Kazan Vivien Leigh, Marlon Brando, Kim Hunter und Karl Malden in einen Käfig aus Schatten und Licht sperrte, in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel an einer Straßenbahnlinie, die den Namen »Desire« trug. Am LTT nun sperrt Theaterregisseur Daniel Foerster sein Ensemble in ein rosarotes »Tiny House«, ein zuckriges Puppenhaus, über dem derselbe Name in kindlich-kommerzieller Barbie-Schrift geschrieben steht. Aber auch dort toben Leidenschaften, auch dort muss das Ende ein böses sein.
Tennessee Williams’ »A Streetcar Named Desire« gilt als bedeutendstes US-amerikanisches Stück der unmittelbaren Nachkriegszeit, Kazans Film ist ein Monument. Es geht darin um mehr als nur um gescheiterte Lebensentwürfe – da prallen Gesellschaftsschichten aufeinander, Zukunft, Vergangenheit und eine fragwürdige Moral. Im LTT bleibt davon eine Studie häuslicher Gewalt und Repression in Bonbonfarben, die in einem Spiel, das sich gut drei Stunden Zeit nimmt, durchaus an Kraft gewinnt.
Gespielt wird eine neuere Übersetzung von Helmar Harald Fischer; der Titel jedoch, unter dem das Stück in Deutschland berühmt wurde, wird beibehalten: »Desire« mit »Sehnsucht« zu übersetzen war ein Affekt der prüden deutschen Nachkriegszeit, unterschlägt eine stark sexuelle Konnotation. Im Stück selbst geschieht das nicht mehr – da erinnert Stanley seine Gattin Stella gerne daran, wie schön sie es noch trieben, ehe Blanche sich einnistete im kleinen Haus.
Blanche ist Stellas ältere Schwester, eine Lehrerin und Südstaatenschönheit am Ende ihrer guten Tage, innerlich längst zerbrochen. Sie klammert sich fest an ihren Träumen, verfehlt mehr und mehr die Wirklichkeit, nimmt dem Paar den Raum, lässt die Situation eskalieren.
Bemerkenswert an Daniel Foersters erster Regiearbeit für das LTT ist, wie eng sie sich an Tennessee Williams’ Original hält. Den Versuch, das Drama in einen zeitgenössischen Kontext zu überführen, unternimmt er nicht: Es bleibt bei New Orleans, Blanche bleibt die »Southern Belle«, mondän, fordernd, verloren gespielt von Franziska Beyer. Mariam Haas dagegen schuf das Barbie-Haus, kleidete das Ensemble in Kostüme zwischen grellem Retro-Schick und bunter Gegenwärtigkeit: Stanleys Kumpane tragen Sportswear, Anorak und kurzes Männerröckchen, die Frauen Plateauschuhe in Rosa oder Silber. Blanche räkelt sich alldieweil in der rosa Badewanne. Man verabredet sich per Smartphone; ein Selfie muss sein vor der Geburtstagstorte aus Pappe.
Das traute Zuckerheim lässt sich öffnen, gibt den Blick frei auf rosa Innenräume oder wird zur Falle, in der sich Stanley Blanche nähert: »Dieses Rendezvous hatten wir von Anfang an miteinander«, sagt er. Bedrohlich die Szenen, in denen das Ensemble mit halbmenschlichen Masken auftritt und das Häuschen umherwirbelt.
Justin Hibbeler ist Stanley, schmal und eitel, brutal und doch nicht dumm, ein Arbeiter, der sich für einen König hält. Emma Schoepe spielt Stella so grell, wie es sich gehört für eine Seifenoper, der nur das eingespielte Gelächter fehlt. Franziska Beyer ist Blanche, Stephan Weber ist Mitch. Er, der feinfühligere unter Stanleys Freunden, könnte ihre Rettung sein. Aber er wendet sich ab, als er von ihrer Vergangenheit erfährt. Die Szenen zwischen dem schüchternen großen Mann und der gefallenen Schönheit sind die intensivsten des Stückes. Da beginnt Blanche, zuvor herrisch und eitel, sich zu öffnen, spricht leise und traurig von ihrem Leben, Mitch lauscht ihr unbeholfen.
Solche Momente ruhiger Eindringlichkeit würde man dem Stück des Öfteren wünschen – aber letztlich will »Endstation Sehnsucht« in Tübingen Kritik des schönen Scheins sein. Dass finster wummerndes Sounddesign eingesetzt wird, um Spannung zu erzeugen, ist möglicherweise dem Zeitgeschmack geschuldet.
Zuletzt bleibt das Bild einer Kleinfamilie, im Rampenlicht erstarrt. »Das Leben muss weitergehen. Egal, was passiert, du musst weitermachen«, sagt ihre Freundin Eunice. Eine neue Hölle hat begonnen, in allerschönstem Rosa.