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Nach dem Roman von Shumona Sinha · Deutsch von Lena Müller
Reutlinger Nachrichten, 17. Oktober 2019
(von Jürgen Spieß)
"Gesellschaftspolitisches Theater kann zynisch und hintergründig sein. Vor allem, wenn es um ein so brisantes Thema wie die Unzulänglichkeit des europäischen Asylsystems geht."
Wie kann man europäische Asylpolitik auf die Bühne bringen? Eine Antwort darauf versuchte die Regisseurin Pia Richter zu geben, indem sie den vieldiskutierten Roman „Erschlagt die Armen!“ von Shumona Sinha als perfide Dreieckskonstellation zwischen Beamtin, Dolmetscherin und Asylant inszeniert hat. Unlängst feierte die zornige Abrechnung mit der europäischen Asylpolitik am LTT Premiere.
In der Pariser Asylbehörde geht es zu wie in einem Taubenschlag. Ein Asylant nach dem anderen betritt das ungemütliche Befragungszimmer, das durch Lamellenvorhänge (Bühne und Kostüme: Julia Nussbaumer) hierarchisch unterteilt ist, und muss sich einer absurden Verhörsituation stellen. Es geht um die Gründe, weshalb der Antragsteller seine Heimat verließ und im gelobten Europa Asyl beantragt. Es geht darum, dass verzweifelte Menschen vor der Not fliehen, aber Armut kein Grund für Asyl ist. Viele Antragsteller wissen das und jeder auf dem Amt weiß, dass sie das wissen. Dass aus diesem Grund gelogen wird, was das Zeug hält, liegt auf der Hand. Gleichzeitig kann man die Hoffnungen jedes einzelnen Asyl-Antragstellers verstehen, der einfach auf der Suche nach einem besseren Leben ist. Im Mittelpunkt der Inszenierung stehen aber weder der Antragsteller noch die Beamtin, die den wahren Grund für die Flucht aus dem Asylanten herauszukitzeln versucht. Im Mittelpunkt steht die Dolmetscherin, die der Beamtin zuarbeitet und einst selbst von Indien nach Frankreich flüchtete. Sie sitzt förmlich zwischen den Fronten: auf der einen Seite die Antragsteller, mit denen sie Hautfarbe und Herkunftsland teilt, auf der anderen Seite die Beamtin, welche „die französische Gesellschaft verkörpert, zu der sie unbedingt gehören will“. Eigentlich fühlt sie sich jedoch nirgendwo zugehörig, was durch die Ablehnung ihrer ungeschickten Annäherungsversuche gegenüber der Beamtin noch verstärkt wird.
Wie dies die Regisseurin Pia Richter und Dramaturgin Laura Guhl in der Romanbearbeitung der 1973 in Kalkutta geborenen Shumona Sinha inszeniert haben, trifft es nicht nur den Nerv der Zeit, sondern bietet auch sozialen Sprengstoff, wie ihn das Leben nicht unbarmherziger schreiben könnte: Denn Richters Verdichtung von Sinhas’ Text ist ein schonungsloses und entlarvendes Psychogramm von einer Verzweifelten, die die Lügengeschichten der asylsuchenden Bittsteller durchschaut, aber gleichzeitig Empathie für sie empfindet. Schließlich ist sie mit deren Schicksal wohl vertraut, da sie es am eigenen Leib verspürt hat: Da sind die männlichen Flüchtlinge, die es kaum ertragen, den Fragen einer Frau antworten zu müssen und da ist auf der anderen Seite eine Behörde, die ihre Macht ausspielt und sich strikt an das Gesetz hält, das Wirtschaftsflüchtlingen kein Asyl gewährt.
Dieses Machtgefälle stürzt die Übersetzerin in eine schwere Identitätskrise. So beginnt und endet das Stück auch mit einem extremen Gewaltausbruch, bei der sich die Wut und der Frust, resultierend aus ungerechtfertigten Vorwürfen, Anschuldigungen und Missachtungen, in einem Mord der Dolmetscherin an einen Asylsuchenden entlädt. In der Pariser Metro zertrümmert sie eine Weinflasche auf dem Kopf eines Migranten, weil der sie körperlich bedrängt hat. Die drei Schauspieler Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin und Rinaldo Steller, die sich in ihren Rollen als Asylsuchender, Dolmetscherin und Beamtin abwechseln, führen in rasantem Tempo durch die frustrierenden Verhöre und grotesken Interviewsituationen. Es wird gebrüllt, peinlich lange geschwiegen und die beiden Beamtinnen werden regelmäßig von Lachkrämpfen geschüttelt.
Das 70-minütige Stück zeigt: Gesellschaftspolitisches Theater kann zynisch und hintergründig sein. Vor allem, wenn es um ein so brisantes Thema wie die Unzulänglichkeit des europäischen Asylsystems geht. Diese wird mit einem Satz auf den Punkt gebracht: „Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.“
Schwäbisches Tagblatt, 8. Oktober 2019
Wenn Empathie in Aggression umschlägt
(von Peter Ertle)
Regisseurin Pia Richter kippt die Szenerie am LTT aus einem realistischen Setting ins Künstlich- Alptraumhafte, Klaustrophobische
Stechend gelbes Licht, aseptische Einrichtung: Es ist kein angenehmer Raum (Bühne: Julia Nussbaumer), in dem diese Verhöre stattfinden, Identitätsüberprüfungen zur Feststellung, ob Asyl gewährt wird. Es geht hauptsächlich um Flüchtlinge aus dem indischen Raum, und es spielt in Paris, übrigens irgendwann vor 2011. Hierzulande ist der Roman der indisch-französischen Schriftstellerin Shumona Sinha allerdings so richtig populär erst geworden, als nach 2015 der Flüchtlingszuzug zum alles beherrschenden Thema wurde.
Sinha selbst kam unter ganz anderen Umständen nach Frankreich, aus gutem Hause und zum Studium. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse wurde sie Dolmetscherin der Asylbehörde. Und „spuckte“ eines Tages diesen Roman aus, wie sie selbst formulierte. Der fiktive Monolog einer fiktiven, ebenda arbeitenden Dolmetscherin, der damit beginnt, dass sie selbst verhört wird. Zu einem Tathergang. Sie soll auf einen Migranten mit einer Weinflasche eingehauen haben.
So auch im LTT – wo nach dieser Szene der Rückblick-Monolog auf die Arbeit der Angeklagten auf drei Personen aufgespalten wird. Das ist naheliegend, denn es gibt ja stets: einen Asylbewerber, einen Dolmetscher und einen Befrager und Asyl-Entscheider. Die Rollen wechseln zwischen Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin und Rinaldo Steller, jeder ist mal Flüchtling, Dolmetscher, Befrager. Der Zuschauer hört und sieht die hanebüchenen Lügen der Asylbewerber, die Kälte und den Spott der Beamten. Wobei sich hier schon mal fragt, ob die wirklich alle so waren, so sind. Es sieht schon sehr nach Klischee aus. Auch auf der Seite der Dolmetscherin gibt es viel Verachtung und Wut für die Selbsterniedrigung ihrer Landsleute, aber auch deren patriarchales Männerbild. Ansatzweise blitzt auch etwas Mitgefühl auf – aber erstaunlich wenig.
Da sitzt eine zwischen den Stühlen ihrer Herkunft und dem Land ihrer Wahl, trägt beides in sich und ist beidem fremd geworden, zumindest dieser inhumanen Prozedur. Das sollte wohl sichtbar werden. Aber dafür steht sie – zumindest in dieser Inszenierung – doch allzu deutlich, wenn auch frustriert (aber das sind hier alle), auf Seiten der Behörde, für die sie arbeitet.
Aber wo sehen wir die (unterdrückte?) Anteilnahme für die Flüchtlinge, wo sind die Ressentiments ihrer Figur gegen diese Asylverfahrens-Prozedur, die ihrem verletzten Stolz, ihren auf die Flüchtlinge umgeleiteten Ressentiments die Waage halten? Kommen sie auch im Roman nicht vor? Oder nur hier? Haben wir sie schlicht übersehen? (Wäre sie keine aus Indien stammende Dolmetscherin, man würde rassistische Motive diagnostizieren. Und hier?)
Regisseurin Pia Richter kippt die Szenerie am LTT aus einem realistischen Setting ins Künstlich- Alptraumhafte, Klaustrophobische. Verstärkt diesen Zug später sogar mit Masken, wohl um den automatenhaften Zug zu akzentuieren. Schwer tut man sich hier allerdings, um die Erschöpfung der Mitarbeiter und die ins Private, bis in den Sex hineinstrahlende Anonymität beziehungsweise Dissoziierung der Dolmetscherin zu bespielen, die Fremdheit, die sie der Behörde gegenüber und im Kontakt mit ihren Kollegen erfährt.
Die hier angepeilte Umsetzung als Verbiegung und tragikomische Farce bleibt meist bemüht komisch und harmlos. Nur die von Lisan Lantin gespielten Annäherungsversuche an ihre Kollegin machen da eine Ausnahme – weil sie psychorealistisch nachvollziehbar sind. Ob die Psychologie dabei in signifikantem Zusammenhang zu ihrer Hautfarbe und/oder ihrer konkreten beruflichen Tätigkeit steht, ist indes ungewiss. Warum aber sollte es sonst gezeigt werden? Um im Gegenteil zu sagen, dass sie so tickt wie alle heute?
Dafür spräche, dass die Herkunft der Dolmetscherin in dieser Inszenierung nicht dauernd thematisiert wird. Aber Grundvoraussetzung, ja zentrales Motiv des Romans und des Stücks ist sie und die damit einhergehende, gesteigerte, am Ende umschlagende Empathie ja doch. Haben wir sie gesehen im LTT? Kaum. Mehr hochgespannter innerer Zwiespalt, mehr Liebe in der Hassliebe – als Kontrast zu ihrem Spott und ihrem Genervtsein – wäre gut gewesen. Und mehr Mut zu gelegentlichem Scheißverhalten seitens der Flüchtlinge. Hier aber gerät der Zuschauer in eine gut aufgeräumte Welt überforderter, unsympathischer Behördenleute inklusive der Dolmetscherin – und Flüchtlingen, mit denen man halt Mitleid hat. So bleibt am Ende nur eine Aussage: Wir brauchen eine bessere Asylgesetzgebung.
Das stimmt. Und ist das Wichtigste. Aber wir hätten die Folgen der schlechten Gesetzgebung gern konfliktreicher am Psychodrama der Dolmetscherin abgelesen.
Schwarzwälder Bote, 8. Oktober 2019
Steriles Spiel in nüchterner Atmosphäre am Landestheater
(von Christoph Holbein)
„Erschlagt die Armen!“ im LTT-Oben offenbart sich als wütend-poetische Anklage
Es ist eine sterile, ja fast eine Krankenhausatmosphäre, in der Regisseurin Pia Richter ihre drei Protagonisten beim Schauspiel „Erschlagt die Armen!“ nach dem Roman von Shumona Sinha im LTT-Oben am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen agieren lässt. Zumeist eingetaucht in gelbes oder grelles Licht, gekleidet in Kostümen, die ein bisschen wie die Uniform von Pflegern anmuten, und in einem kahlen Bühnenbild, in dessen Hintergrund ein Verpflegungs- und Getränkeautomat dominiert – für Bühne und Kostüme ist Julia Nussbaumer verantwortlich – winden sich Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin und Rinaldo Steller durch den wütend-poetischen Text. Es geht um eine junge Frau, die in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft sitzt, weil sie am Vorabend in der Métro einem Migranten eine Weinflasche auf dem Kopf zertrümmert hat. Im Polizeiverhör sucht sie – selbst aus Indien nach Frankreich eingewandert und Dolmetscherin in der Asylbehörde - nach einer Erklärung für ihren Gewaltausbruch und rekapituliert Szenen aus ihrem Pariser Alltag.
Pia Richter gießt das in ein Sammelsurium von Einzelsequenzen, lässt ihre Schauspieler hinter und vor Lamellen-Vorhängen - welche die Akteure immer wieder auf- und zumachen oder auf Durchsicht stellen - sprechen, sitzen, stehen, laufen, wüten, laut denken und pantomimisch sich bewegen. Das nimmt mitunter skurrile Züge an, schwört für die Figuren unangenehme Situationen herauf und nimmt durch seine Intensität und den immer wieder hervorbrechenden Zynismus gefangen. Dabei gelingt es der Regisseurin, manche Szenen mit einer gewissen satirischen Ironie zu würzen. So schwankt die Szenerie zwischen bedrohlich und leise humorvoll. In den langen stillen Sequenzen offenbart das Schauspieler-Trio ein starkes Mienenspiel voller authentischer Mimik. Die insgesamt kurzen Parts sind ausgereizt und fast quälend ausgespielt. Und ein wenig Theaterpädagogik ist untergemischt, wenn Jennifer Kornprobst einen Hund mimt oder Lisan Lantin entgegen der Geschlechter-Klischees ihn, Rinaldo Steller, statt er sie auf den Armen trägt.
Liebesakte geraten da zu grotesker Akrobatik, Texte kommen aus dem Lautsprecher, Musik untermalt, die losen Szenen finden ihr Bindeglied in den immer wieder eingestreuten Befragungen der Migranten, die entsprechend choreografiert fast absurde Sinnbilder produzieren für die Hilflosigkeit der Befragten und in der Stille oder Eruption der Gefühle symbolisieren, wie Übersetzer, Beamte, Richter und Ärzte als Rädchen das Getriebe der europäischen Abschottungspolitik am Laufen halten.
Das soll die Botschaft sein, die allerdings in der schnellen Folge der Szenen, die ein wenig den roten Faden vermissen lässt, und im ständigen Rollentausch der drei Protagonisten, was das Nachspüren und Sich-darauf-einlassen nicht einfacher macht, etwas verloren geht, ein bisschen verhuscht. So wirkt die Inszenierung dann doch ein wenig zusammengebastelt. Masken, zerhackte Stimmen, Tanz, sexuelle Befriedigung – alles überschwemmt in dem stoßweisen Rhythmus des collagenartigen Spiels das Bühnengeschehen bis hin zur starken Steigerung hinein in die chorisch untermalte Szene, in der die Frau dem Migranten die Weinflasche auf den Kopf schlägt. Am Ende mündet alles in das frenetische und begeisterte Absingen der französischen Nationalhymne. Und es bleibt die bittere Erkenntnis, dass in dem bürokratischen Asyl-Apparat, in diesem menschenverachtenden System das Abstumpfen oder Eskalieren die einzigen Möglichkeiten sind, denn „es ist aufregender, alle zum Schweigen zu bringen, die eine Stimme haben“.