Nach der Gothic Novel von Mary Shelley · 14+
Schwäbisches Tagblatt, 18. Juni 2024
(von Peter Ertle)
Wie der Praxisbeweis einer Theorie eine leidende Kreatur erschafft, zum Mörder macht und einen ehrgeizigen, aber verantwortungslosen Forscher böse einholt: Frankenstein am Landestheater.
Frankensteins Arbeitsplatz ist im LTT alles andere als ein Hig-Tech-Labor. Die Digitalisierung wird in irgendeiner Ecke mit einem betont alten Bildschirm plus Tastatur zitiert, sonst ist es eher Werkstatt, Rumpelkammer, Gartenhäuschen, etwas eigenartig, okay, irgendwo liegt eine Hand rum oder ein Gedärm, naj a so isses halt. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Nur der Goldglitzervorhang im Hintergrund bringt etwas anderes rein, macht den Ort zur Manege, zum Varieté der Zauberkunst.
Vielleicht gab es so eine Werkstatt auch in Lord Byrons Anwesen am Genfer See, wo der Hausherr im Sommer 1817 während stabil verregneter Tage seine Freunde zu einem Contest selbstgeschriebener und gegenseitig vorgelesener Schauerstücke einlud, den die „20-jährige Frau des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley“ gewann, wie eine Ausgabe von Kindlers Literaturlexikon weiß. Nun ja: Den Mann der Frau kennt heute eigentlich niemand mehr.
Mary Shelley nun weiß eine ganze Menge vom Menschen, kennt das Motiv des Zauberlehrlings, die Tücken der aus der Hand gegebenen, menschlichen Weiterungen, die heute mit dem Durchbruch der KI wieder so auf der Hand liegen, dass sie im LTT nicht extra bespielt werden, zu nah, zu offensichtlich, zu ernst. Shelley kennt auch unsere Liebesbedürftigkeit und die psychologischen Mechanismen der Ausgrenzungen. Und sie kennt die Dynamik von Forschergeist, Entgrenzungslust und Eitelkeit. Der Mensch tut immer, was er kann und weil er kann. Frankenstein will ja auch gar keinen Helfer oder Übermenschen, auch groß Geld zu verdienen, ist kein Thema. Er will in der Praxis beweisen, dass seine Theorie stimmt. Verantwortung für sein Geschöpf? Fehlanzeige. Risikoabwägung? Fällt ihm erst ein, nachdem sein Bruder (Jonas Hellenkemper) schon hingemurkst wurde und er sich von seiner Kreatur genötigt sieht, ein zweites Exemplar als Gefährten zu basteln.
Das Ganze ist sehr parodistisch, eine Art komisches Grusical, halb gesungen. Wenn Dominik Günther inszeniert, geht es meist in diese Richtung und meist nicht schlecht. Leo Schmidthals hat das Musikkostüm besorgt, aus den unterschiedlichsten Genres. Das letzte Lied zieht einem die Socken aus, so ergreifend ist diese Zwiesprache Frankenstein/Kreatur. Alle Lieder haben textlich diese kindliche Unschuld, als habe man improvisierend den erstbesten Einfall genommen, ohne zu glätten. Aber doch schräg ins Schwarze getroffen.
Und sonst: Adaptionen, Anspielungen, running gags wie das kü-hü-hünstliche Leben, von dem der Meister immer singsangt. Sein alter Lehrer Professor Waldmann (Gilbert Mieroph) reckt den Kopf durch den Vorhang und spricht wie ein Fisch, der im Aquarium das Plankton von der Scheibe rupft. Passagenweise hat das Revue-Charakter, wenn immer wieder die Eingangsmusik ertönt, die Schauspieler ihr frankensteiniadisches Tanzbesteck auspacken, oder sich wie auf einer Bauernguckkastenbühne mehrmals von rechts nach links verfolgen, um abermals rechts aufzutauchen. Oder sich Nachrichten hin und herschicken. Abschickungston: Schhhhb. Ankommenston: Bling.
Bei Rosalba Salomon (Frankensteins Geliebte Elisabeth) wundert man sich in jeder Inszenierung, wie präsent und anders sie wieder ist. Franziska Beyer erkennt man nach ein paar Minuten an ihrer Sprache. Als sie zum Applaus mit freigelegtem Privatkopf erscheint, stoßseufzt jemand: „Die Arme! Die wird froh sein!“ Als Ganzkörperkostüm eines hautlosen Fleisch- und Muskelpakets stampft sich ihre Kreatur durchs Stück, ungeliebt, einsam – gewinnt aber durch ihre Rolle, ihr Spiel eine dazu kontrastierende, große Zartheit und Verletzlichkeit. Der Regisseur hat ihr ein paar Hickser und Stöhner mit auf den Weg gegeben, Betriebsfehler neuer Technik.
Besonders grusliglustig ist das Geräusch brechenden Rückgrats ihrer Opfer, wenn die Kreatur mal wieder aus kraftstrotzender Ungeschicklichkeit falsch zupackt. Leid tut sie einem. Dennis Junge als Frankenstein erfüllt die junge Heldenrolle, die doch in so manchem auch die eines naiv losstürmenden Tollpatsch ist – wie auch großer Überheblichkeit, Missachtung.
Interessant: Auch seine Elisabeth will in dieser Inszenierung mehr von ihm haben, will leben, weg von diesem Forschungszeug. Da passt es, dass ausgerechnet sie neben dem Blinden die Einzige ist, die keine Angst vor der Kreatur hat – eben weil sie nicht ihr Äußeres, sondern ihr Inneres sieht. Wird aber auch – knack – weggemurkst, halb Versehen, halb Berechnung. Dieses Menschenporzellan ist aber auch sehr empfindlich, darfste gar nicht rankommen.
Der hiesige Oberbürgermeister würde jetzt vermutlich auf Facebook schreiben: „Schon wieder ein Angriff, immer das gleiche Muster. Ich habe es ja vor Jahren in meinem Buch schon prophezeit, damals wollte mir keiner glauben.“ Oder so.
In diesem Stück erwägt die Kreatur gleich selbst, zusammen mit einem erhofften, noch zu kreierenden Gefährten, auf eine einsame Insel auszuwandern, eine Art sicheres Drittland, könnte man sagen. Sachsen käme dafür nicht in Frage. Dort, in Ostdeutschland, fühlen sich ja offenbar auch viele als neue, ungeliebte Kreaturen und malen deshalb gern Monster an die Wand oder wählen entsprechend.
Sage keiner, diese unterhaltsame Revue hätte nichts mit uns zu tun.
Unterm Strich
Ein parodistisches Grusical mit mehr Komik als Grusel, aber auch mit jeder Menge Tragik und zeitloser Moral, die man sich in dieser Form gerne gefallen lässt – auf der Grundlage des alten Mary-Shelley-Stoffs, zigmal erzählt, verfilmt, parodiert, längst zum Klassiker geworden. Gute Unterhaltung!
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