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Märchen-Dramedy zum Klimawandel von Svenja Viola Bungarten · 14+
Schwäbisches Tagblatt, 15. April 2024
„Garland“: Hoffnung? Hier? Vergiss es!
(von Moritz Siebert)
Somewhere over the Rainbow – da geht die Welt zu Grunde. Das LTT zeigt „Garland“, ein Stück zum Klimawandel, das an die Geschichte „Der Zauberer von Oz“ angelehnt ist. Echt sehenswert.
Am Ende, wenn die zwei letzten Überlebenden in die Ferne blicken und über ihr gemeinsames Filmprojekt sinnieren, flammt ganz kurz Hoffnung auf, diese Geschichte könnte doch noch irgendwie gut ausgehen. Das Gefühl hält, wenn überhaupt, maximal eine Sekunde. Ein flammender Tornado, Sand fällt vom Himmel, wieder kein Regen: Hoffnung, heißt es im Stück, das sei ja eine Genrefrage. Und das hier, was auch immer es ist (die Selbstbeschreibung Märchen-Dramedy ist unbefriedigend), gehört in ein Genre, in dem die Hoffnung ganz einfach verloren ist.
Das Stück „Garland“ von Svenja Viola Bungarten ist an das Filmmusical „Der Zauberer von Oz“ angelehnt. Am LTT inszeniert es die Regisseurin Maike Bouschen. Und so viel vorweg: Es ist, mit der Musik von Caio de Azevedo, der Ausstattung von Valentina Pino Reyes und einem überzeugend spielenden Ensemble, unbedingt sehenswert.
Judy Garland an der Tanke
Die Handlung im Groben: Dorothee Sturm (Solveig Eger) steht unter Verdacht, ein Kinderheim angezündet zu haben. Sie streunt durch eine Endzeit-Welt und trifft auf Farmer (Jennifer Kornprobst und Andreas Guglielmetti), die zwar so heißen, aber keinesfalls die liebevollen Tante Em und Onkel Henri aus der Vorlage sind, bei denen die Film-Dorothy aufwächst. Sie trifft auf den Trucker Gus Brandt (Jonas Hellenkemper), der keiner ist und eigentlich gerne Polizist wäre. Und auf dessen Bruder Salvatore Brandt (Dennis Junge), der als erfolgloser Filmemacher das Ende der Welt, wie es die Akteure hier erleben, dokumentiert. Und dann gibt es noch die verrückte Phantomtruckerin, die alle totfährt. Es könnte sich dabei um die Tankstellenbetreiberin (Franziska Beyer) handeln, die wiederum die Mutter von Dorothee sein könnte. Sie stellt sich jedenfalls als Judy Garland vor. Überraschung? Nein, nur ein weit verbreiteter Name in der Gegend.
Welche Gegend überhaupt? Kansas, USA, das in unserem Fall in Penig, Mittelsachsen liegt. Eine Fernsehshow, in der alle mal zu Gast sein dürfen, versucht das Ganze zu rahmen, moderiert von Lorna Luft (Justin Hibbeler). Verwirrend? Tja, so ist der Zustand der Welt an ihrem Ende eben. Häuser fackeln reihenweise ab, Kinderkriegen ist längst aus der Mode gekommen. Weniger der Weltuntergang selbst quält die Leute, sondern das Warten darauf. Alle haben sie ihre Probleme, sind gescheitert oder haben einfach nur einen massiven Schaden.
„Garland“ ist an die berühmte Vorlage angelehnt, aber nicht einfach als eine aktualisierte Version zu lesen. Man kann Zitate erkennen, Parallelen zu Figuren finden, und sicher stellt das Stück auch Fragen, die sich auf die Vorlage beziehen. Zum Beispiel, was eigentlich die berühmte Rolle mit der Darstellerin Judy Garland gemacht hat, oder warum Dorothy die Traumwelt verlassen möchte. Vor allem aber bietet das Märchen eine Fläche, um mit Realitäten zu spielen, zu irritieren, Motive aufzugreifen, um sie kunstvoll zu zerstören.
Das Regie-Team schafft eine dystopische Endzeitatmosphäre. Die reduzierte Bühne, die viel im Barbie-Rosa gehalten ist, spiegelt den Kontrast zwischen Tristesse und Kunstwelt. Elemente aus Roadmovie, Horror, und dunkler Komödie mischen sich. Die Grenzen zwischen den Welten, zwischen Traum, Show, Realität und dem, was in den Köpfen der Leute passiert, verschwimmen.
Das slapstickhafte und überspielte der Figuren festigt sich zum Glück nicht als Stil, sondern entpuppt sich bald als Mittel. Die Regisseurin demontiert das nach und nach, lässt die theatrale Welt an die Wand krachen. Wenn sich Revue-Charakter andeutet, kehren es die Beteiligten ins Groteske. Seinen einstudierten Satz „Wir haben alles verloren, erst die Würde, dann den Rest“ wiederholt Farmer Henri so oft, dass irgendwann Humor und Tragik unangenehm verschwimmen. Judy Garland, deren Verrücktheit wiederum Franziska Beyer großartig lakonisch spielt, haucht nach einem Song der Moderatorin Lorna Luft – eine Paraderolle für Justin Hibbeler – noch den Satz „Ich hab dich lieb, Lorna“ ins Ohr, da schwenkt die Regie schon zurück ins Inferno. Die einzelnen Figuren versammeln die Krisen der Welt auf sich, sind in ihrer Tragik aber sehr eigenständig und folgen auch keinem humoristischen Gesamtdesign.
Solveig Eger gelingt es, die 13-jährige Klimaaktivistin Dorothee glaubwürdig zu spielen – gerade bei dieser Figur ist die Gefahr ja groß, sie entweder zu stark anbiedernd oder umgekehrt zu lächerlich zu machen. Dorothee ist auf der einen Seite der Klugscheißer, der den Erwachsenen die Welt erklärt und auch gerne mal küchenpsychologische Ratschläge aus dem Revoluzzer-Ratgeber gibt, hat auf der anderen Seite aber auch etwas Undurchschaubares, eine Verrücktheit, dass man ihr die Pyromanin gerne zutraut.
Das Stück handelt die vielen Konflikte und Krisen ab, die die Gesellschaft beschäftigt, im Vordergrund Klimakrise und der damit verbundene Generationenkonflikt. Gegen die Gefahr, dabei aufgesetzt zu wirken, agieren Text und Regie erfolgreich mit Selbstironie, ansonsten sind die Themen geschickt in die Handlung verwoben. Ihnen habe Dorothee auch das Leben gerettet, stellt das Farmerpaar fest. Aber, ganz klar: „Wir schulden ihr nichts.“
„Es geht nicht darum, jemand zu sein, es geht um das nackte Überleben“, sagt der Filmemacher. Die Tante: „Das bloße Existieren ist keine Existenz.“ Und Judy Garland: „Wenn es mich nicht mehr gibt, kann man mich nicht mehr verurteilen.“ So ist das Befinden der Bewohner dieses Albtraums einer Welt. Die Welt, die Dorothee retten möchte. Und warum noch gleich wollte Dorothy zurück ins triste Kansas?
Reutlinger General-Anzeiger, 15. April 2024
(von Thomas Morawitzky)
Ein US-Musicalfilm als Steilvorlage für schrille Klimakritik: Premiere von »Garland« in Tübingen
Tante Emily und Onkel Henry sind Heimat für Dorothy, die durchs Wunderland wandert, in das sie von einem Wirbelsturm getragen wurde. »Der Zauberer von Oz« ist der amerikanischste aller Märchenfilme, entstanden 1939, Judy Garland spielt darin die Hauptrolle. Nun stehen Emily und Henry auf der Bühne des Landestheaters, von Dorothy keine Spur, sie sehen aus wie schlecht gealterte Touristen: Tante Em und Onkel Henri heißen sie hier, hocken in der Wüste und versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Er (Andreas Guglielmetti) spaziert in kurzen Hosen, mit langen Haaren und Sandalen umher; sie (Jennifer Kornprobst) tobt mit aufgedonnerter Frisur und Zigarette. Der Versuch, sich gegenseitig zu erschießen, scheitert an beiderseitiger Feigheit; stattdessen trifft die Kugel eine der Wolken, die am glasklaren Himmel hängen, und das federleichte Gasgebilde donnert schwer wie ein Sack auf den Bühnenboden.
»Garland« heißt das Stück, so wie die Hauptdarstellerin des Märchenfilms. Svenja Viola Bungarten hat es geschrieben; die Uraufführung fand 2021 am Schauspielhaus Graz statt. In Tübingen führte Maike Bouschen Regie und Valentina Pino Reyes gestaltete das Bühnenbild. Das ist, wieder einmal, Pink in geradezu surrealem Ausmaß. Es wirkt, als habe Salvador Dalí in Eiscreme gemalt, wartet tatsächlich auf mit einer Tankstelle, die einem Becher voller Softeis gleicht. Ansonsten: weite Ebene, endloser Himmel und eine Kugel aus Stroh als Originalzitat, die vom Wind vorübergeweht wird.
Außerdem: Justin Hibbeler als Dragqueen Lorna Luft, die diese schrille Show moderiert. Sie sitzt zur Linken, greift in die Tasten, fegt mit Cocktailglas und Abendkleid über die Bühne. Dort öffnet sich ein türkisglitzernder Vorhang im schnellen Takt zwischen den Bildern. Hinterm Vorhang jauchzt der Ensemblechor wie in den guten alten Fernsehzeiten den Titel: »Garland!«
Svenja Viola Bungarten hat in ihrem Stück sehr dicht mehrere Ebenen übereinandergelegt: die hochironisch-postmoderne Beschäftigung mit dem »Zauberer von Oz«; die ebenso ironische Auseinandersetzung mit dem Mythos Amerika; das Ende aller Märchen; Kindergeschichten; ein seltsam kaputtes Road-Movie; und die meist implizite Kritik an einer Zivilisation, die der Klimakatastrophe entgegensteuert. Denn eines ist klar: Der Schauplatz des Stückes ist nicht wirklich die amerikanische Wüste, sondern das Hier und Jetzt.
Justin Hibbeler spricht es aus, hämmert mit Pathos aufs Klavier ein und singt zur Melodie von »Over the Rainbow«: »Die Wiesen, auf denen wir spielten, sind nicht mehr. Schau dich um, hier im Ländlein alles Sand, mit Glück siehst du noch verdorrte Maultaschen am Straßenrand. Geier kreisen verloren über Städten, Spätzle wirbeln im Wind. Selbst das Remstal liegt nun still. Wo einst Hölderlins Türmchen stand, ist heute alles abgebrannt.«
Dorothy heißt nun Dorothee Sturm und wird gesucht als Brandstifterin – Solveig Eger spielt sie. Sie schleicht sich mit Häschenmaske in Pink an die Tankstelle an und befüllt ihren Kanister. Franziska Beyer betreibt die Tankstelle und heißt Judy Garland. Jonas Hellenkemper spielt einen Trucker auf der Suche nach Benzin, der eigentlich lieber ein Polizist wäre.
Außerdem dabei: Dennis Junge als Salvatore Brandt, genannt Toto, der Bruder des Truckfahrers. Er tritt schon früh auf, als versehentlicher Gast in Lorna Lufts Revue, und entpuppt sich als gescheiterter Filmemacher, der in seinen Werken alle Figuren sterben lässt, auch die Kinder, was ihm keiner verzeiht. Mit schwarzem Vollbart und Lederjacke schlendert er zu Beginn der Vorstellung durchs Publikum auf die Bühne.
In einer Wüste also, die einst Deutschland war, steht eine Tankstelle, die aussieht wie eine Portion Speiseeis. Es ist heiß, Dorothee irrt umher, sucht den Sinn des Lebens und zündelt. Sie ist 13 alt, trägt Schuhgröße 42, hat keine Zöpfe, zieht das Unglück an und fordert mit bissiger Stimme die Absetzung von Präsidenten, die Abschaffung der Massentierhaltung, die Veränderung aller Infrastrukturen. Judy Garland haust sarkastisch im Innern der Eiswaffel, singt »Life is just a bowl of cherries«, einen Schlager der 1930er-Jahre, und steckt sich eine Zigarette an, gleich neben der rosa Tanksäule. Schleichwerbung für Kfz-Versicherungsanstalten wird angelegentlich verboten. Eine Bodenklappe springt auf, die Brüder Brandt und die flüchtige Dorothee schauen heraus, silbernes Konfetti wirbelt durch die Luft.
»Garland« ist ein Stück, das wenig Handlung aufweist, vielmehr eine Gesellschaft schriller und bedeutsamer Charaktere in einer bunten Unwirklichkeit nebeneinanderstellt. Ein Stück, in das sich das Tübinger Ensemble mit größter Freude hineinwirft. Die Musik von Caio de Azevedo verstärkt dessen Stimmung auf eigentümliche Weise, verwendet kuriose Klangeffekte, sorgt für gewitzte Momente in der amerikanischen Eiscreme-Apokalypse am Rande der schwäbischen Alb.