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Beginn am Brunnen hinter der Jakobuskirche, Altstadt Tübingen
Schwäbisches Tagblatt, 17. Juni 2024
(von Anja Kries)
Es geht um Frauenrechte, Weltgeschichte und den Alltag in der Tübinger Unterstadt im Jahr 1914: Das Tübinger Generationentheater Zeitsprung zeigt das Stück „Große Wäsche“ als Theaterspaziergang.
Die Tübinger Altstadt ist voller Leben an diesem Abend im Frühsommer. Die Cafés sind voll, aus der offenen Tür einer Gitarrenwerkstadt dringt Musik auf die Straße, auf den Bänken vor der Jakobuskirche sitzen Touristen. Und auf dem Hof hinter der Kirche sammelt sich eine Gesellschaft, die in eine lang vergangene Zeit versetzt: Frauen und Mädchen in schwarzen Röcken, mit weißen Kopftüchern und Spitzenblusen sind unterwegs. Um den Brunnen stehen Waschzuber.
Das Generationentheater Zeitsprung mischt sich am Samstagabend in das abendliche Stadtleben mit seinem neuen Stück „Große Wäsche“. Regisseurin Helga Kröplin hat mit ihrem Ensemble nach einem Text von Andrea Bachmann Szenen einstudiert, die den Tübinger Alltag im Jahr 1914 zeigen. Im Laufe der Vorführung wechseln die Schauplätze: von der Jakobuskirche zum Innenhof des Bürgerheims, zum Marktplatz, zur Stiftskirche, zur Alten Burse und schließlich zum Hölderlinturm.
Im Mittelpunkt stehen Tübinger Waschfrauen aus der Unterstadt, die bei der Arbeit über ihr Leben erzählen. Es geht um harte Schicksale und Ungerechtigkeiten. Die Frauen beklagen den Mangel an Gesundheitsversorgung, die nur Reichen wirklich zugänglich ist. Sie erzählen von Gewalt und Machtmissbrauch durch Männer. Als herauskommt, dass die unverheiratete Lotte (Annika Oesterhelt) schwanger ist, wird, ohne die Betroffene zu fragen, über Abtreibung in Eigenregie diskutiert.
Wer in der Armut Vorteile gegenüber anderen erlangt hat oder zu aufmüpfig wird, ist trotz des geteilten Schicksals Ziel von Eifersucht und Sticheleien. Witwe Judith (Helena Zajadacz), die lukrative Waschaufträge bekommen hat, muss dies erleben, genauso wie Angriffe auf ihren jüdischen Glauben. Marlene (Lara Amodio) wird von den anderen argwöhnisch beäugt, weil sie als Fotomodell gutes Geld verdient. Clara (Constanze Schaefer) verteilt unterwegs Flugblätter für das Frauenwahlrecht und fordert politische Lösungen für die Probleme der Frauen. Rosine (Susanne Feifel) findet diese „umstürzlerischen Gedanken“ gefährlich.
Auf der Schmiedtorstraße trifft das Publikum das erste Mal auf den Juraprofessor Bohnenberger (Axel Koesters) und seinen Studenten Alber (Fabian Kuhn). Alber hält den Krieg, der sich ankündigt, für ein großes Abenteuer. Bohnenberger hat als Kind bereits Krieg erlebt und versucht, den jungen Mann zu warnen. Beim Löwen-Laden unterhalten sich zwei feine Damen aus der Oberstadt. Die beiden kennen die Waschfrauen und ihre Schicksale. Mehr und mehr beginnen sie, sich mit den Ärmeren zu solidarisieren.
Am Rathaus verkündet ein Plakat den Kriegsausbruch. Student Alber freut sich. Professor Bohnenberger kann das nicht verstehen: „Ich habe um diesen historischen Moment nicht gebeten, der mein kleines Gelehrtenleben umkrempeln wird!“. Er hat aber vor allem auch Angst um seine Studenten.
Eine weißgesichtige Erscheinung des Dichters Hölderlin (Moritz Bauer) kommentiert unterwegs das Geschehen. Beim Rathaus sinniert er, ausgestattet mit einem Stahlhelm, über Suppe: „Ein Festessen für fahrende Soldaten!“ Er kocht eine Steinsuppe. „Man muss natürlich gut umrühren, damit die Steine ihr volles Aroma entwickeln.“ Die Waschfrauen schenken ihm schließlich Kartoffeln, Möhren und Gewürze dazu. Zum Abschluss bittet Hölderlin in den Garten seines Turms am Neckar. Die Frauen hängen ihre Wäsche auf. Es herrscht Aufruhr, als deutlich wird, dass bald alle Männer eingezogen werden.
Judith, aufgefordert, ein jiddisches Lied zu singen, intoniert „Donna, Donna“. Hölderlin merkt an, dass das Lied vom Kälbchen, das zur Schlachtbank geführt wird, eigentlich erst im nächsten Krieg geschrieben werde, aber auch schon vorher gelte. Alle Frauen, arm und reich, wollen sich schließlich in Aussicht auf eine schwere Zeit verbünden und träumen von einem Neuanfang.
Das Stück gibt, von den Darstellenden meist sehr souverän vorgetragen, Menschen eine Stimme, die den Mächtigen ausgeliefert sind. Das sind Frauen, die unter Armut, Gewalt und männlicher Unterdrückung leiden. Es sind aber genauso auch Männer, die zum Spielball der Weltpolitik werden.
In einer Zeit polarisierter Diskussionen und eines neuen Kriegs in Europa stellt das Stück Fragen: Wie ist es um die Gleichberechtigung heute wirklich bestellt? Was bedeutet ein heraufziehender Krieg für das Leben des Einzelnen? Sind Menschen dem Lauf der Geschichte ausgeliefert?
cul-tu-re.de, 16. Juni 2024
Waschtag – Am Vorabend des Kriegs
(von Martin Bernklau)
Sommer 1914 – LTT und Generationentheater Zeitsprung luden am Samstag zu einem historischen Theaterspaziergang durch die Tübinger Altstadt ein
Es ist das, was dem Lindenhoftheater in den 90-ern mit Hölderlin und Rathgeb weltweite Beachtung brachte: Theaterspaziergänge. Das machte das Tübinger Generationentheater Zeitsprung in Zusammenarbeit mit dem LTT jetzt nach. Die frauenstarke Truppe vom Schulalter an weit hinauf widmete sich, von drei Männern verstärkt, als Waschfrauen einem brandaktuellen historischen Datum im Juli vor 110 Jahren, dem Vorabend des ersten großen Weltkriegs: „Große Wäsche, Tübingen 1914“ hieß das von Angelika Bachmann recherchierte und geschriebene, von Helga Kröplin geleitete Stück, das am Samstagabend Premiere hatte.
Die Waschweiber ratschen und waschen in der proletarisch-weinbäuerlichen Unterstadt am Brunnen der Jakobskirche. Ein Hölderlin umschwebt sie schon mit lyrischen Fingerübungen im Hohen Ton. Es geht um Frauen. Und Kindergeschichten, um Klatsch und Tratsch, um die Männer, die Studentle, aber auch um Politik: Eine von ihnen ist bei den Sozis, schwärmt für Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, mahnt Widerstand um soziale Gerechtigkeit an, aber auch den Frieden. Denn es droht Krieg. An der Peripherie, in Serbien, da gärt und brodelt es.
Ein Mädle ist mit dem Roller gestürzt, es muss in die Klinik. Bis zum Bürgerheim gesellen sich der fleißig-munteren Truppe am Rand ein nachdenklicher Professor mit dem klangvollen Namen Bohnenberger bei und ein von Kriegslust vibrierender Verbindungsstudent namens Albus. Vorm „Löwen“ in der Kornhausgasse, bis in die Nazizeit hinein Versammlungslokal der Linken, kommen zwei feinere Damen aus der Oberstadt hinzu, Witwe und Altjungfer, die aber sozial und für die Volksbildung engagiert sind.
Am Marktplatz hängen schon die Mobilmachungs-Plakate aus. Auch in der Garnisonsstadt Tübingen wird die männliche Jugend zu den Waffen gerufen. Der Russe droht. Und der Franzos‘. Es geht weiter übers Faule Eck am Stift, zum Karzer und vor die Alte Aula, wo längere Berichte übers Dienstbotendasein, Ausbeutung, Missbrauch, über Vergewaltigung, „gefallene Mädchen“, Schwangerschaften und Abtreibungen mit Stricknadel und Kleiderhaken zu hören sind. Das zweimalige Läuten zur Stiftskirchen-Motette zwingt die Truppe und die Schar von rund 80 Zuschauern (ausverkauft!) zum Innehalten.
Über Stiftskirchen-Terrasse – dort mahnt der weise Professor den kriegstrunkenen Studenten, sich lieber um das geschwängerte Mädchen und sein Kind zu kümmern, als sich für Kaiser und Vaterland totschießen zu lassen – und über die Bursagasse mit Hölderlinturm und Alter Burse, wo die Klinik der Universität war und später die Philosophen (auch Melanchton lehrte da einst schon) geht es hinab zum Zwickel.
Im Garten des Hauses von Schreinermeister Ernst Zimmer, dessen Familie (vor allem Tochter Lotte) dort den weggetretenen Dichter umsorgte, steigt das Finale. Beim Wäschetrocknen geht es auch um Bildung, Frauenrechte, um Judenhass – ein jüdisches Mädchen ist vor Pogromen aus Polen geflohen – und noch einmal auch um Krieg und Frieden. Vor allem der im Juli 1914 erst drohende, dann blitzschnell zur europaweiten Kampfbegeisterung („Weihnachten sind wir zurück!“) und binnen Monaten zur Weltkatastrophe explodierende Krieg hätte angesichts der im Sommer 2024 kaum weniger brisanten Weltlage und rasanten Militarisierung vielleicht mehr im Mittelpunkt stehen dürfen.
Drunten vom „heilignüchternen“ Wasser grüßen laut und fröhlich ganze Stocherkahn-Besatzungen herauf. Droben im Garten wird zum Akkordeon und zum jiddischen Lied „Donna, donna“ (das Joan Baez und Donovan zur Folk-Hymne machten) gesungen, getanzt und gelacht – mit den einstigen Aktivistinnen aus der Oberstadt, dem weisen Professor, dem kriegshitzigen Studentle und mit dem fröhlich träumenden Hölderlin. Und vor dem großen Beifall gibt es noch ein Kampflied, das eigentlich erst zur 68-er-Bewegung und auch zum Beginn der jüngsten Frauenbewegung als Feminismus populär wurde: „Unterm Pflaster liegt der Strand“.