Große Wäsche. Tübingen 1914.

Ein Theaterspaziergang - Generationentheater Zeitsprung

Beginn am Brunnen hinter der Jakobuskirche, Altstadt Tübingen


Schwäbisches Tagblatt, 17. Juni 2024

Die Stimmen der Unterdrückten

(von Anja Kries)

Es geht um Frauenrechte, Weltgeschichte und den Alltag in der Tübinger Unterstadt im Jahr 1914: Das Tübinger Generationentheater Zeitsprung zeigt das Stück „Große Wäsche“ als Theaterspaziergang.

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cul-tu-re.de, 16. Juni 2024

Waschtag – Am Vorabend des Kriegs

(von Martin Bernklau)

Sommer 1914 – LTT und Generationentheater Zeitsprung luden am Samstag zu einem historischen Theaterspaziergang durch die Tübinger Altstadt ein

Es ist das, was dem Lindenhoftheater in den 90-ern mit Hölderlin und Rathgeb weltweite Beachtung brachte: Theaterspaziergänge. Das machte das Tübinger Generationentheater Zeitsprung in Zusammenarbeit mit dem LTT jetzt nach. Die frauenstarke Truppe vom Schulalter an weit hinauf widmete sich, von drei Männern verstärkt, als Waschfrauen einem brandaktuellen historischen Datum im Juli vor 110 Jahren, dem Vorabend des ersten großen Weltkriegs: „Große Wäsche, Tübingen 1914“ hieß das von Angelika Bachmann recherchierte und geschriebene, von Helga Kröplin geleitete Stück, das am Samstagabend Premiere hatte.

Die Waschweiber ratschen und waschen in der proletarisch-weinbäuerlichen Unterstadt am Brunnen der Jakobskirche. Ein Hölderlin umschwebt sie schon mit lyrischen Fingerübungen im Hohen Ton. Es geht um Frauen. Und Kindergeschichten, um Klatsch und Tratsch, um die Männer, die Studentle, aber auch um Politik: Eine von ihnen ist bei den Sozis, schwärmt für Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, mahnt Widerstand um soziale Gerechtigkeit an, aber auch den Frieden. Denn es droht Krieg. An der Peripherie, in Serbien, da gärt und brodelt es.

Ein Mädle ist mit dem Roller gestürzt, es muss in die Klinik. Bis zum Bürgerheim gesellen sich der fleißig-munteren Truppe am Rand ein nachdenklicher Professor mit dem klangvollen Namen Bohnenberger bei und ein von Kriegslust vibrierender Verbindungsstudent namens Albus. Vorm „Löwen“ in der Kornhausgasse, bis in die Nazizeit hinein Versammlungslokal der Linken, kommen zwei feinere Damen aus der Oberstadt hinzu, Witwe und Altjungfer, die aber sozial und für die Volksbildung engagiert sind.

Am Marktplatz hängen schon die Mobilmachungs-Plakate aus. Auch in der Garnisonsstadt Tübingen wird die männliche Jugend zu den Waffen gerufen. Der Russe droht. Und der Franzos‘. Es geht weiter übers Faule Eck am Stift, zum Karzer und vor die Alte Aula, wo längere Berichte übers Dienstbotendasein, Ausbeutung, Missbrauch, über Vergewaltigung, „gefallene Mädchen“, Schwangerschaften und Abtreibungen mit Stricknadel und Kleiderhaken zu hören sind. Das zweimalige Läuten zur Stiftskirchen-Motette zwingt die Truppe und die Schar von rund 80 Zuschauern (ausverkauft!) zum Innehalten.

Über Stiftskirchen-Terrasse – dort mahnt der weise Professor den kriegstrunkenen Studenten, sich lieber um das geschwängerte Mädchen und sein Kind zu kümmern, als sich für Kaiser und Vaterland totschießen zu lassen – und über die Bursagasse mit Hölderlinturm und Alter Burse, wo die Klinik der Universität war und später die Philosophen (auch Melanchton lehrte da einst schon) geht es hinab zum Zwickel.

Im Garten des Hauses von Schreinermeister Ernst Zimmer, dessen Familie (vor allem Tochter Lotte) dort den weggetretenen Dichter umsorgte, steigt das Finale. Beim Wäschetrocknen geht es auch um Bildung, Frauenrechte, um Judenhass – ein jüdisches Mädchen ist vor Pogromen aus Polen geflohen – und noch einmal auch um Krieg und Frieden. Vor allem der im Juli 1914 erst drohende, dann blitzschnell zur europaweiten Kampfbegeisterung („Weihnachten sind wir zurück!“) und binnen Monaten zur Weltkatastrophe explodierende Krieg hätte angesichts der im Sommer 2024 kaum weniger brisanten Weltlage und rasanten Militarisierung vielleicht mehr im Mittelpunkt stehen dürfen.

Drunten vom „heilignüchternen“ Wasser grüßen laut und fröhlich ganze Stocherkahn-Besatzungen herauf. Droben im Garten wird zum Akkordeon und zum jiddischen Lied „Donna, donna“ (das Joan Baez und Donovan zur Folk-Hymne machten) gesungen, getanzt und gelacht – mit den einstigen Aktivistinnen aus der Oberstadt, dem weisen Professor, dem kriegshitzigen Studentle und mit dem fröhlich träumenden Hölderlin. Und vor dem großen Beifall gibt es noch ein Kampflied, das eigentlich erst zur 68-er-Bewegung und auch zum Beginn der jüngsten Frauenbewegung als Feminismus populär wurde: „Unterm Pflaster liegt der Strand“.

 


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