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Nach dem Roman von Jonathan Swift
Schwarzwälder Bote, 21. Juni 2023
Das Ensemble lebt seine Spielfreude voll aus
(von Christoph Holbein)
Gulliver geht im Landestheater Tübingen auf Reisen und kommt dabei bis in die Zukunft. Die Inszenierung geizt nicht mit Ideen und Einfällen. Zur passenden Atmosphäre tragen auch das Bühnenbild und die Kostüme bei.
Eines lässt sich der Inszenierung des Schauspiels „Gullivers Reisen“ nach dem Roman von Jonathan Swift am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) nicht nachsagen: mit Ideen gegeizt zu haben. Viel mehr sprüht die Regie von Wolfgang Nägele voller vieler Einfälle und Assoziationen, vielleicht sind es sogar phasen-weise zu viele Eindrücke, da wäre eventuell weniger mehr gewesen. Vom Barock bis an das Ende der Welt Es ist ein Trip der Protagonisten vom Barock bis in die ferne Zukunft ans Ende der Welt. Zur passenden Atmosphäre tragen das Bühnenbild und die Kostüme von Valentina Pino Reyes und die pointiert treffende Musik von Benno Heisel bei. Inszenierung mit viel Pantomime. Regisseur Nägele arbeitet in seiner Inszenierung viel mit Pantomime. Das ist mitunter fast ballettartig synchron choreographiert. Vielsagend und ausgefeilt sind Mimik und Gestik der Schauspieler, wobei Insa Jebsen, Konrad Mutschler, Emma Schoepe und Susanne Weckerle als Lemuel Gulliver eine skurril-plakative Performance par excellence abliefern. Sie verrenken ihre Körper, jonglieren durch die Szenerie auf spitzen Füßen und treiben ihre Spielweise affektiert auf die Spitze, wenn beispielsweise Gulliver das Feuer im in Flammen stehenden papierenen Miniatur-Schloss pinkelnd löscht. Allerdings sind manche Szenen auch etwas langatmig geraten, ließen sich sicherlich straffen, ohne an Wirkung und Aussagekraft zu verlieren. Erfrischend ist das Spiel der Protagonisten, wenn sie aus dem Publikum aus agieren. Textlich ist das gut erarbeitet. Wenn Gulliver nackt und bloß bei den Riesen ist, wie ein Äffchen am Gängelband der Krawatte vorgeführt, abgerichtet und mit überdimensionalem Popcorn gefüttert wird, dann sind das plastische Bilder, die Nägele produziert, ironisch und gut artikuliert. Schwerelos im Parforceritt durch die Zeiten Eine Parodie ist auch die Szene mit den Wissenschaftlern in der Zukunftsakademie zur Rettung der Welt, die mit Themen wie Klimawandel – ein bisschen in der Manier von Dürrenmatts „Physikern“ – aktuelle Fragestellungen in den Blick nimmt. Da lebt das Ensemble seine hohe Spielfreude aus. Am Ende agieren die Protagonisten in Raumfahrtanzügen in der Schwerelosigkeit und mit Zeitlupen-Bewegungen, haben sich von der Originalsprache Swifts weit entfernt und sinnieren über akute Problemfelder wie den Krieg – eine starke Szene. Der Schluss ist dann ein wenig textlastig. Wie gesagt, Regisseur Nägele geizt nicht mit theatralischen Reizen und Inhalten, ein wenig Sparsamkeit hätte dennoch nicht geschadet, um das Geschehen auf der Bühne zu komprimieren.
Reutlinger General-Anzeiger, 2. Mai 2023
(von Thomas Morawitzkiy)
Wolfgang Nägele schickt Jonathan Swifts »Gulliver« im Landestheater Tübingen auf eine Zeitreise
Am Anfang ist da ein Raum, weiß ausgekleidet, nahezu barock, mit dazu passender Musikberieselung, gedämpft. Grelles Licht trifft das Publikum. Ein Mann in höfischer Kleidung, mit turmhoher Puderperücke tritt auf. Er trägt viele Häuser, klein, aus weißem Papier, er lässt sie fallen, verteilt sie auf der Bühne – wieder blendet weißes Licht das Publikum, und plötzlich sind es zwei Männer mit Perücken, dann drei, dann vier. Sie alle sind Lemuel Gulliver, Arzt auf einem britischen Schiff; es verschlägt ihn in ferne Länder, in denen Menschen oder Pferde leben, auf ganz unwahrscheinliche Weise. Doch: Wer ist Lemuel Gulliver?
Ein ziemlicher Macho scheint es, ein echter Großtuer. Das fällt nicht schwer in Liliput, in das es ihn zuerst verschlägt, denn dort sind alle anderen sehr klein. Als Gulliver erwacht, schiffbrüchig an den Strand gespült, ist er zuerst gefesselt. Das Zwergenvolk hat ihn mit Stricken festgebunden, es ist ein Leichtes für ihn, sich zu befreien. Später wird er, ganz generös, einen Hausbrand in der kleinen Stadt mit seinem Urin löschen: Ein Held.
Und einer, der rasch mit sich selbst im Zwist liegt, denn jeder der vier Gullivers, die in Wolfgang Nägeles Inszenierung unterwegs sind zu neuen Welten, will der bessere sein: »Meine Augen sind grün, ich rieche gut und bin wunderschön!«, tönt der eine – »Ich habe die strammsten Waden von Nottinghamshire!«, ruft der andere. »Ich kann extrem gut backen!«, behauptet einer, und schließlich dies: »Ich habe ganz Irland umschwommen!« – »Ich spreche 39 Sprachen, von denen ich sechs selbst erfunden habe!« – »Ich habe die Bibel geschrieben!« Mit der Hybris ist es bald vorbei, denn es verschlägt Gulliver nach Brobdingnag, und dort ist er der Zwerg, alle anderen sind Riesen.
Jonathan Swifts Roman »Gullivers Reisen« erschien 1726, ist heute noch bekannt als Kinderbuch, in stark gekürzter Form, war seinerzeit gedacht als bitterböse Satire, ist eines der frühesten Beispiele für das Genre der Science-Fiction. Wie könnte man die Welten, die Gulliver bereist, auf eine Bühne bringen? Fliegende Städte, Riesen, Zwerge? Sprechende Pferde?
Wolfgang Nägele, so scheint es zunächst, möchte all diese Geschichten dort einfach erzählen lassen, von seinem vierfachen Gulliver. Insa Jebens, Konrad Mutschler, Emma Schoepe und Susanne Weckerle – drei Frauen also, nur ein Mann?– spielen den Reisenden, erstatten zänkisch, grell und komisch Bericht von seinen Abenteuern. Doch dann kommt ein Wind, die Gullivers fegen mit einem Laubbläser die kleinen Häuser weg – und einer von ihnen, Konrad Mutschler, liegt plötzlich, reichlich nackt, neben einem riesenhaften Apfel – genialer Einfall von Valentina Pino Reyes, die Bühnenbild und Kostüme des Stückes schuf.
Gulliver will erst einmal seine Blöße bedecken, flüchtet sich zum Vorhang, neckt einen neugierigen Scheinwerfer, indem er mit Socken wirft, darf sich schließlich ankleiden, springt als possierliche Kuriosität im Businessanzug umher in einem Käfig, der auf dem Jahrmarkt ausgestellt wird. Die anderen Darsteller haben im Publikum Platz genommen, necken ihn. »Kleiner als eine Feldmaus!« – »Ob er wohl schon ausgewachsen ist?« – »Haben Sie schon mal ein Embryo mit Bartwuchs gesehen?«
Nächste Station: Laputa, die fliegende Insel, bewohnt von Wissenschaftlern. Dort kippen Aktenordner um wie Dominosteine, die Gelehrten tanzen Polonaise, der Kopierer spricht mit sanfter Stimme.
Wolfgang Nägele hat aus Gulliver einen Zeitreisenden gemacht – und seine Inszenierung gespickt mit Anspielungen an bekannte Motive der Science-Fiction. Wenn Gulliver sich in einer Zeitschleife multipliziert, darf man vielleicht an Stanislaw Lem denken, bei anderen Szenen an Stanley Kubrick – schließlich taumeln die vier Gullivers in Raumanzügen schwerelos über die Bühne. Als die sanfte Stimme des Rechners nachzudenken beginnt und von der Erkenntnistheorie zur Bibel kommt, dann allerdings ist John Carpenter an der Reihe. Ruft der Rechner schließlich »Es werde Licht«, fliegt aber nicht das LTT in die Luft – nur der Kopierer beginnt zu qualmen. Trotzdem: Alles versinkt im Chaos.
Zuletzt begegnet Gulliver einem Vertreter der Houyhnhnms, kluger Pferde, die die Menschen als Nutztiere halten. Obschon: Esel, sagt das Pferd, seien doch eigentlich die nützlicheren Tiere. Gulliver, der Mensch der frühen Neuzeit, wurde gerade mal durch Länder, Epochen, geschleudert, hat die Relativität seiner eigenen Bedeutung gründlich erfahren – und doch noch immer nichts als Krieg im Sinn.
Jonathan Swift soll ein Menschenfeind gewesen sein – seine Einsichten sind bitter, aber urkomisch auf der Bühne: »Gullivers Reisen« ist ein Stück, das mit boshaftem Witz zum Lachen reizt und eine fantastische Geschichte sehr einfallsreich erzählt.
Merkur.de, 2. Mai 2023
Das LTT zu Gast in Landsberg mit „Gullivers Reisen“
(von Susanne Greiner)
Was sehen Sie, wenn Sie an „Gullivers Reisen“ denken? Wahrscheinlich den gefesselten Gulliver auf Liliput. Dass hinter Jonathan Swifts Roman aber mehr als ein Kinderbuch steckt, bekam das Publikum im Stadttheater letzte Woche zu sehen: in einer schrillen und nicht leicht bekömmlichen LTT-Inszenierung unter der Regie des Landsbergers Wolfgang Nägele.
„Travels into several remote Nations of the World in four Parts“ lautet der Originaltitel von Jonathan Swifts satirischem Roman. Vier Teile, von denen die ersten beiden, die Reise nach Liliput und ins Land der Riesen, bekannt sind. Denn die schafften es in die Kinderbuchausgabe. Die beiden anderen Teile – derb, wild, sozialkritisch – fehlten. Und in denen kommt der Mensch nicht wirklich gut weg: Fanatismus, Raffgier und Kriegsbesessenheit schreibt ihnen der irische Schriftsteller zu. Weit entfernt davon, die Krone der Schöpfung zu sein. Letztendlich, lässt er seine Pferde-Protagonisten sagen, wäre die Welt mit Eseln besser dran.
Nägele startet im Barock: schrille Farben vor weißem Guckkasten (Kostüm und Bühne: Valentina Pino Reyes), Turmperücken, Schnabelschuhe und knallrote Kussmündchen, dazu Barockmusik mit unheimlichen Untertönen (Benno Heisel). Die Figuren, die dazu in einer Art barockem Tanz mit einer Spielzeugstadt spielen: Lemuel Gulliver – in vierfacher Ausführung. Er ist der Erzähler im Roman und der Protagonist seiner Erzählung. Und deshalb ist alles, was zu hören und zu sehen ist, Ausgeburt seiner Fantasie. Weshalb Nägele keine weiteren Figuren benötigt. Im Stück schlüpft jeweils einer der vier Lemuels in die Rolle dessen, der erlebt, die anderen drei spielen Liliputaner, Riesen oder Pferde und Nerds.
Nerds und Pferde? Ja. Wie gesagt, es gibt vier Teile in „Gullivers Reisen“. Der Dritte spielt auf der „schwebenden Insel“, ein Moloch irrer Wissenschaftler, die sich in Erklärungen der magnetischen Insel-Steuerung verlieren – auch die Wissenschaft seiner Zeit fand Swift fragwürdig. Und die Pferde, Houyhnhnms genannt: Wesen, die kein Wort für das Böse kennen und Lemuel – und mit ihm der Menschheit – die Leviten lesen.
Die Inszenierung Nägeles startet in den ersten beiden Teilen unterhaltsam, bildgewaltig und in lustvollem Zynismus: Die barocken Gullivers überhöhen sich, in Vertretung der gesamten Menschheit, passend zu ihren Frisuren ins Unermessliche, auch wenn sie offensichtlich nur kindische Clowns sind. Im zweiten Teil darf Lemuel mit einem übergroßen Apfel interagieren, vorgeführt von seinen Dompteuren, die vor der Bühne spielen – was den Größenunterschied perfekt illusioniert. Teil drei und vier wirken hingegen zerfasert. Ein Labor, in denen Wissenschaftler mit der Künstlichen Intelligenz MP C2003 kämpfen. Und ein Nirgendwo, fernab von Zeit und Raum – weshalb der Guckkasten von den Technikern auf offener Bühne in seine Einzelteile zerlegt wird. Dort berichtet Lemuel von seiner Begegnung mit den klugen Pferden.
Nägele packt viel in die (zu lange) zweite Hälfte: nicht nur das, was Swift schon vorlegt – eine ganze Menge –, sondern auch noch eine KI, die wie der Mensch an der Existenzfrage verzweifelt, und die Klimakrise. Das überfrachtet und lässt den Zuschauer rat- und orientierungslos im Saal zurück. Erst im abschließenden Dialog Lemuels mit dem Pferd kann man wieder ‚aufsatteln‘: Dann, wenn der Houyhnhnm überlegt, statt der so unsympathischen Menschen doch lieber Esel als Sklaven zu züchten.