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Schauspiel von Lot Vekemans
Schwäbisches Tagblatt, 21. April 2015
(von Peter Ertle)
Unter den Brettern (!) hatte "Ismene, Schwester von" Premiere
Die Zuschauer nehmen den Bühnennebeneingang vom Foyer aus, steigen Treppen hinunter, enge Gänge, teils müssen sie den Kopf etwas einziehen - und landen in jenem Raum, dessen Decke die Dielen des Bühnenbodens im großen LTT-Saal sind. Hier sind wir also auf der Bühnen-abgewandten Seite der Geschichte und gleichzeitig in einem Hades-ähnlichen Verließ des Vergessenwerdens. Hier lebt, vegetiert, wartet, hadert seit tausenden von Jahren Ismene, Schwester von Antigone. Und es ist nicht klar, ob die Strichliste an den Wänden die gezählten Tage oder die Zahl der erschlagenen Stechfliegen auflistet.
Wer so lange allein war und obendrein familiengeschichtlich traumatisiert, ist logischerweise ein bisschen seltsam, sie hat etwas von Ophelia und Kaspar Hauser und vom wahnsinnigen Gretchen, dieses Wesen, dem die Zuschauer dort begegnen. In sich versponnen, monologisierend, selbst zur Kreatur geworden, horcht sie auf das Jaulen der Hunde, ja sie ist selbst auf den Hund gekommen. Da hat sie uns schon, die Schauspielerin Jennifer Kornprobst und gleich auch den ersten ganz großen Moment, diese Irritation, als ihr plötzlich dämmert - ja, dieses Dämmern ist großartig ¨- dass tatsächlich Zuschauer da sind.
Ismene beziehungsweise Autor Lot Vekemans tut es im Verlauf des Stücks (zum besseren Verständnis der Zuschauer), wir tun es ihm gleich (zum besseren Verständnis der Leser) und erinnern: Antigone ist jene berühmte Dramenfigur, die ihren zum Staatsfeind gewordenen Bruder gegen das Gebot des Königs Kreon beerdigte, Ismene tat nicht mit. Antigone wurde zur tragischen Heldin, Ismene zur braven, angepassten Kontrastfigur, nach der kein Hahn krähte. Beide Schwestern übrigens aus einer Familie, in der (teils schon vor, und dann massiv nach dieser Tragödie) Inzest (der Vater ist gleichzeitig der Bruder), Machtstreben, innerfamiliärer Mord (der eine Bruder den anderen), Gefängnis (die Schwester) sowie mehrere Selbstmorde (die Mutter, die Schwester, deren Verlobter, schließlich Kreons Sohn) locker ausreichen, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben.
Glücklich ein Land, das keine Helden braucht? Insofern wäre die Welt eine glückliche, dürfte es lauter Isemenes geben. Die kämpft hier unten, im eine Stunde lang beleuchteten Out-of-time-Dunkel um ihre späte Rechtfertigung - was so noch zur Hälfte falsch formuliert ist. Denn vollständig im Recht wähnen sich ja nur die Helden, die Verbohrten. Ismene beklagt und verteidigt gleichermaßen ihre Feigheit, ihre Unentschlossenheit, sie will die ganze Geschichte erzählen. Sie will es wissen, immer noch. Das ist vielleicht ihre einzige Radikalität, eine eher philosophische, zugleich lebenszugewandte Radikalität. "Man kann sagen, dass ich Angst hatte, ja, Angst zu sterben, ja. Aber kann man mir das vorwerfen?"
Dass sie stets mehrere Seiten der Medaille sieht, verleiht ihr Weisheit. Ihr Leitstern, das Lebensprinzip, macht sie menschlich. Dass sie am Ende noch den großen Antipoden und Machtmenschen Kreon in seiner Hinfälligkeit pflegt, prädestiniert sie nahezu zum perfekten Ideal christlicher Nächstenliebe - aber das war in der griechischen Göttervielfalt kein Ideal, steht auch in modern westlicher Welt meist bloß auf dem Papier, wird nur beachtet, wenn es sich Gandhi- oder Mutter Theresa-gleich selbst wieder mit den alten Idealen übermenschlichen Heldentums vollsaugt. Welcher Platz bleibt da für eine wie Ismene?
Die Regie von Tobias Schindler ist dem Text sehr aufmerksam und genau auf der Spur, setzt öfters kleines Innehalten und großes Erschrecken, etwa bevor Ismene den Namen ihrer Schwester - na dann eben doch nicht ausspricht, denn das hat sie sich vorgenommen, sondern ihn - umschreibt.
In solchen Momenten sehen die Zuschauer der Protagonistin beim Denken zu, kehrt sich ihre Gefühlswelt nach außen. Schön werden plötzliche Brüche und Ausbrüche gesetzt, wird vernünftiges Räsonieren in ein fulminantes "ICH HASSE SIE" gestürzt. Bei alledem tigert Ismene in ihrem Käfig auf und ab, hantiert mit den Würfeln des Schicksals und einer rostigen Kanne, das ehemalige Götterkind, wie ein Primat im Zoo, dem man ein paar Gegenstände zur Beschäftigungstherapie hinterlassen hat, sorgt mit wütenden Handschlägen für Lichtwechsel und Fliegentod. Mitunter rutscht sie in zarte Erinnerungssequenzen, einmal in Form einer kleinen, ergreifenden Binnengeschichte, der Parabel vom Bussard und dem Kaninchen.
Das ist ein weiter Bogen und Jennifer Kornprobst schreitet ihn versiert aus, auf und ab vor den in einer Reihe ums Eck gesetzten Zuschauern, immer wieder einzelnen Blickkontakt suchend.
"Alle in meiner Familie konnten sich entscheiden. Leider hat sich nie jemand für mich entschieden. Meine Mutter nicht. Mein Bruder nicht. Meine Schwester nicht. Ich zählte scheinbar nicht mit", erzählt sie. Und hofft, dass sich nun die Zuschauer als Stellvertreter der Geschichte für sie entscheiden werden, endlich, aufgrund guter (Vor-)Führung.
Wenn sie einen Augenblick ihres Lebens wiederholen dürfte, sie würde den Augenblick wiederholen, in dem sie am allerglücklichsten hätte sein können, damit sie wieder spürt, wie das ist - sagt es, geht hinaus und macht die Tür hinter sich zu.
Welcher Augenblick das wohl war? Es ist ja unwichtig. Wichtig ist, dass sie sich am Glück orientiert. Und nicht, wie die anderen, an der Ehre, der Macht, letztlich dem Tod. Die Tür fällt zu. Der erste klatscht. Dann langer Beifall. Fazit: Rehabilitation für Ismene. Blumen für Jennifer Kornprobst.
Unterm Strich
Antigone beerdigte ihren Bruder, den Staatsfeind, gegen den Willen des Königs und wurde zur Heldin. Ismene traute sich nicht. Und interessiert heute niemand mehr. Schade, dachte sich Lot Vekemans und rehabilitiert sie in seinem Stück. Fein inszeniert in der Theatergruft unter dem Bühnenboden mit Jennifer Kornprobst als großer Tragödin.