Abonnieren Sie unseren WhatsApp Newsletter!
Um zu starten, müssen Sie nur die Nummer +49 1579 2381622 in Ihrem Handy abspeichern und diesem neuen Kontakt eine WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Start" schicken.
Jugendstück von Nino Haratischwili · 10+
Reutlinger General-Anzeiger, 3. März 2025
Ein Stofftier verbindet Welten
(von Verena Völker)
Das Jugendstück »Löwenherzen« von Nino Haratischwili feiert am Jungen LTT Premiere. Im Zentrum: ein Plüschtier
Bei der Premiere von Nino Haratischwilis »Löwenherzen« beim Jungen LTT Tübingen am Freitagvormittag waren zahlreiche Schulklassen zu Gast – viele Schüler mit eigenen Stofftieren im Arm. Ein passendes Bild, denn im Zentrum steht ein Stofflöwe, der eine weltumspannende Reise antritt. Die Inszenierung von Mia Constantine nimmt das Publikum mit auf eine bewegende Reise, die kindliche Perspektiven auf globale Themen in den Fokus rückt. In verschiedenen Rollen sind Yaroslav Somkin, Sophie Aouami und Michael Mayer zu sehen.
Die Geschichte beginnt in einer Fabrik in Bangladesch, wo der achtjährige Anand den Löwen näht. Überzeugt, dass Gott in Europa lebt – dort, wo es Smartphones, Schokolade und Geschenke zu Weihnachten gibt – versteckt er einen Brief in dem Stofftier. Der Löwe soll ihn an Gott überbringen. Doch bevor Anand den Brief vorlesen kann, wird er vom Fabrikbesitzer, dargestellt durch einen riesigen Pappfuß und eine Stimme aus dem Off, angetrieben, den Löwen fertig zu nähen.
So beginnt die Reise des Stofflöwen um die Welt. Durch übergroße Pappfiguren (Ausstattung: Johann Brigitte Schima) wirkt die Welt der Erwachsenen unnahbar und bedrohlich. Die Kinder stehen im Zentrum des Stücks. In der nächsten Szene lernt das Publikum Emma kennen. In einem Brief erklärt sie ihre Gefühle. Früher war die Familie glücklich, bis sie umgezogen sind, die Mutter die Arbeit verlor, die Eltern sich entfremdeten. Durch den Brief wird den Eltern bewusst, dass Emma ihren Zwist mitbekommen hat; sie entschließen sich, miteinander zu reden.
Die Situation, dass sich Eltern streiten und auch trennen, kennen viele Familien; aus der kindlichen Perspektive wirkt das noch schmerzhafter. Durch Emmas Spende landet der Löwe im Senegal. Dort fungiert er für ein Mädchen als Mutmacher, das ihn an Kiano weiterschenkt, der Angst vor seinem Vater hat.
Kiano verschenkt ihn an Amari, der mit seiner Familie auf einem Boot nach Euro flieht. Auf dem Schiff begegnet er Vanya, die einen Stoffelefanten dabeihat. Die beiden spenden sich gegenseitig Mut. Als beide Stofftiere ins Meer fallen, verlieren sie einen wichtigen Begleiter – doch sie gewinnen eine neue innere Stärke. Hier erinnert die Inszenierung daran, dass sich hinter den oft anonymen Bildern von Flüchtlingsbooten in den Nachrichten wahre Schicksale verbergen.
In Frankreich wird der Löwe zum Glücksbringer der jungen Pianistin Louise. Ihre Begegnung mit dem Fotografen Alex offenbart eine weitere Facette: den Umgang mit der medialen Darstellung von Kindern. Alex versucht, Louise aus der Reserve zu locken, doch sie bleibt distanziert – bis sie die Rollen tauschen und sie von ihrem Stofflöwen erzählt, der ihr Sicherheit gibt. Es wird klar: beide sind nicht glücklich. Louise würde lieber zu Rockmusik tanzen; Alex ist traurig, weil seine Freundin und er keine Kinder bekommen können. Louise schenkt Alex den Löwen, der ihr die Kamera mit den Bildern von ihr darauf. Sie soll selbst entscheiden, was mit den Bildern passiert.
In der folgenden Szene sieht man Aouami auf der Bühne. Rechts von der Bühne stehen Michael Mayer und Yaroslav Somkin in Astronauten-Anzügen. Sie unterhalten sich als Föten, die in drei Wochen geboren werden sollen. Es stellt sich heraus, dass die Frau auf der Bühne die Mutter von Anand ist, die wiederum die Leihmutter von Alex und seiner Freundin ist. Dieser hat ihr neben Geld und Geschenken auch den Stofflöwen gegeben. So kehrt der Stofflöwe am Ende zu Anand zurück. Der Junge freut sich, seinen Löwen wiederzusehen, und fragt ihn nach der Antwort Gottes auf all seine Fragen. Trotz Happy End bleibt ein bitter-süßer Nachgeschmack.
Schwäbisches Tagblatt, 3. März 2025
Schnee und ganz viel Schokolade
(von Dorothee Hermann)
Unterm Strich:
Wirkt über die Handlung hinaus sehr stark durch die fantasievolle, vor Ideen sprühende Gestaltung. Wie vor einem Computerbildschirm öffnen sich immer wieder neue Fenster auf die Welt, und Figuren können holterdiepolter die Realitätsebene beziehungsweise das Spiel-Level wechseln, so abrupt, wie Alice durch das Kaninchenloch ins Wunderland hinabrauschte.
Die Bühne sieht ein bisschen merkwürdig aus, wie ein überdimensionierter alter Röhrenbildschirm, ein bisschen wuchtig, nach hinten schmaler, und völlig entkernt, damit das Theater dort einziehen kann wie auf einer klassischen Guckkastenbühne. Aber vorne am Rand steht eine Figur, die gerade aus einem Computerspiel oder aus einem Film herausgetreten sein könnte. Ein bisschen ist es wie früher, als manche Leute glaubten, die Stimmen aus dem Radio kämen von winzigen echten Menschen in den Apparaten.
Klein ist der Typ nicht, eher leicht vergrößert. Er könnte ein künftiger, vorerst noch ziemlich junger Superheld sein. Ob die auf einmal in echt vor einem stehen können? Und was sucht der im Theater, und was hat er vor? So fängt das Jugendstück „Löwenherzen“ von Nino Haratischwili an. Am Freitag war Premiere am Jungen LTT, dem Kinder- und Jugendensemble am Landestheater Tübingen (LTT). Regie führte Mia Constantine.
Während man noch überlegt, ob das Power-Kid vielleicht Werbung für eine Spielekonsole macht oder doch zu einem richtigen Theaterstück gehört, stellt er sich vor als Anand, der Magier (Yaroslav Somkin, noch in sechs anderen Rollen). Er kann wirklich zaubern, wie bald zu sehen ist, lebt aber in einem Slum von Dhaka (das ist die Hauptstadt von Bangladesch) und muss tagaus, tagein in der Fabrik Kuscheltiere nähen. Die bekommen Kinder in Europa, wo es Schnee gibt und ganz viel Schokolade. Weil er weiterarbeiten muss, schafft es Anand selbst nicht nach Europa. Deshalb gibt er seinen Brief an den Gott von Europa einem Spielzeug-Löwen aus der Fabrik mit. Was dem Stofftier auf der Reise alles begegnet, zeigt eine Abfolge turbulenter Stationen, die Kinder schon durch das Kuscheltier als heimliche Hauptfigur ansprechen dürften. Zahlreiche Premierengäste hatten selber Kuscheltiere mitgebracht.
In Bewegung bleibt auch die Bühne, auf die kreisrunde Öffnungen in unterschiedlichen Größen führen oder auch wieder hinaus ins Unbekannte. Sind sie geschlossen, flimmern Lichtflecke über diese Öffnungen und gleichen einer beweglichen Benutzeroberfläche, auf der ein Bild schnell durch ein anderes abgelöst oder von einem anderen überlagert werden könnte.
Doch dann zwängt sich ein Mädchen durch eine ziemlich enge, runde Öffnung in der Decke, um herunter auf die Bühne zu gelangen. In dem beengten und an ein technisches Gehäuse erinnernden Raum wirkt es überdimensioniert wie ein Riesenbaby. Es ist Emma (Sophie Aouami). Sie ist dabei, den riesigen Haufen ihrer Spielsachen, Klamotten und Geräte daraufhin durchzusehen, was sie als Spende weggeben kann. Ihre Eltern, jeweils symbolisiert durch ein übergroßes Auge aus Pappe, überwachen und kommentieren, was das Mädchen aussortiert. Als es auch den Löwen trifft, verschwindet er durch ein großes schwarzes Loch in der Wand, das sich auf einmal aufgetan hat wie ein Müllschlucker, und nach einem kurzen bangen Moment doch nicht das Ende des Löwen bedeutet, sondern ihn an den nächsten Schauplatz transportiert. „Alice im Wunderland“ fällt einem ein, die durch ein Kaninchenloch fällt und in eine seltsam verdrehte Nebenwelt gelangt.
Die phantasievoll-anspielungsreiche Gestaltung macht das Stück über die Geschichte des Löwen hinaus zu einem visuellen Wunderwerk (ganz großes Kompliment an Johann Brigitte Schima für Bühne und Kostüme). Wie bei Alice gibt es das Spiel mit Verkleinerung und Vergrößerung, und statt sprechender Tiere, Spielkarten und Fantasiewesen geleitet eben ein sprechendes Kuscheltier durch das Stück.
Die Löcher in der Wand und in der Decke erinnern an eine weitere technische Errungenschaft von früher: die Nachrichtenübermittlung per Rohrpost. Doch inmitten seiner visuellen Brillanz spricht das Stück auch eigentlich einfache, aber herzzerreißende Kinderwünsche an: „Wo willst du denn hin?“, fragt der Junge mit dem Whopper-Bike (Michael Mayer), und das Mädchen mit den vielen Haaren antwortet: „Wo die anderen mit mir spielen.“