Jugendstück von Nino Haratischwili · 10+
Reutlinger General-Anzeiger, 3. März 2025
Ein Stofftier verbindet Welten
(von Verena Völker)
Das Jugendstück »Löwenherzen« von Nino Haratischwili feiert am Jungen LTT Premiere. Im Zentrum: ein Plüschtier
Schwäbisches Tagblatt, 3. März 2025
Schnee und ganz viel Schokolade
(von Dorothee Hermann)
Unterm Strich:
Wirkt über die Handlung hinaus sehr stark durch die fantasievolle, vor Ideen sprühende Gestaltung. Wie vor einem Computerbildschirm öffnen sich immer wieder neue Fenster auf die Welt, und Figuren können holterdiepolter die Realitätsebene beziehungsweise das Spiel-Level wechseln, so abrupt, wie Alice durch das Kaninchenloch ins Wunderland hinabrauschte.
Die Bühne sieht ein bisschen merkwürdig aus, wie ein überdimensionierter alter Röhrenbildschirm, ein bisschen wuchtig, nach hinten schmaler, und völlig entkernt, damit das Theater dort einziehen kann wie auf einer klassischen Guckkastenbühne. Aber vorne am Rand steht eine Figur, die gerade aus einem Computerspiel oder aus einem Film herausgetreten sein könnte. Ein bisschen ist es wie früher, als manche Leute glaubten, die Stimmen aus dem Radio kämen von winzigen echten Menschen in den Apparaten.
Klein ist der Typ nicht, eher leicht vergrößert. Er könnte ein künftiger, vorerst noch ziemlich junger Superheld sein. Ob die auf einmal in echt vor einem stehen können? Und was sucht der im Theater, und was hat er vor? So fängt das Jugendstück „Löwenherzen“ von Nino Haratischwili an. Am Freitag war Premiere am Jungen LTT, dem Kinder- und Jugendensemble am Landestheater Tübingen (LTT). Regie führte Mia Constantine.
Während man noch überlegt, ob das Power-Kid vielleicht Werbung für eine Spielekonsole macht oder doch zu einem richtigen Theaterstück gehört, stellt er sich vor als Anand, der Magier (Yaroslav Somkin, noch in sechs anderen Rollen). Er kann wirklich zaubern, wie bald zu sehen ist, lebt aber in einem Slum von Dhaka (das ist die Hauptstadt von Bangladesch) und muss tagaus, tagein in der Fabrik Kuscheltiere nähen. Die bekommen Kinder in Europa, wo es Schnee gibt und ganz viel Schokolade. Weil er weiterarbeiten muss, schafft es Anand selbst nicht nach Europa. Deshalb gibt er seinen Brief an den Gott von Europa einem Spielzeug-Löwen aus der Fabrik mit. Was dem Stofftier auf der Reise alles begegnet, zeigt eine Abfolge turbulenter Stationen, die Kinder schon durch das Kuscheltier als heimliche Hauptfigur ansprechen dürften. Zahlreiche Premierengäste hatten selber Kuscheltiere mitgebracht.
In Bewegung bleibt auch die Bühne, auf die kreisrunde Öffnungen in unterschiedlichen Größen führen oder auch wieder hinaus ins Unbekannte. Sind sie geschlossen, flimmern Lichtflecke über diese Öffnungen und gleichen einer beweglichen Benutzeroberfläche, auf der ein Bild schnell durch ein anderes abgelöst oder von einem anderen überlagert werden könnte.
Doch dann zwängt sich ein Mädchen durch eine ziemlich enge, runde Öffnung in der Decke, um herunter auf die Bühne zu gelangen. In dem beengten und an ein technisches Gehäuse erinnernden Raum wirkt es überdimensioniert wie ein Riesenbaby. Es ist Emma (Sophie Aouami). Sie ist dabei, den riesigen Haufen ihrer Spielsachen, Klamotten und Geräte daraufhin durchzusehen, was sie als Spende weggeben kann. Ihre Eltern, jeweils symbolisiert durch ein übergroßes Auge aus Pappe, überwachen und kommentieren, was das Mädchen aussortiert. Als es auch den Löwen trifft, verschwindet er durch ein großes schwarzes Loch in der Wand, das sich auf einmal aufgetan hat wie ein Müllschlucker, und nach einem kurzen bangen Moment doch nicht das Ende des Löwen bedeutet, sondern ihn an den nächsten Schauplatz transportiert. „Alice im Wunderland“ fällt einem ein, die durch ein Kaninchenloch fällt und in eine seltsam verdrehte Nebenwelt gelangt.
Die phantasievoll-anspielungsreiche Gestaltung macht das Stück über die Geschichte des Löwen hinaus zu einem visuellen Wunderwerk (ganz großes Kompliment an Johann Brigitte Schima für Bühne und Kostüme). Wie bei Alice gibt es das Spiel mit Verkleinerung und Vergrößerung, und statt sprechender Tiere, Spielkarten und Fantasiewesen geleitet eben ein sprechendes Kuscheltier durch das Stück.
Die Löcher in der Wand und in der Decke erinnern an eine weitere technische Errungenschaft von früher: die Nachrichtenübermittlung per Rohrpost. Doch inmitten seiner visuellen Brillanz spricht das Stück auch eigentlich einfache, aber herzzerreißende Kinderwünsche an: „Wo willst du denn hin?“, fragt der Junge mit dem Whopper-Bike (Michael Mayer), und das Mädchen mit den vielen Haaren antwortet: „Wo die anderen mit mir spielen.“