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Komödie von William Shakespeare · Deutsch von Thomas Brasch
Schwarzwälder Bote, 16. April 2019
Tiefer Griff in das prall gefüllte Füllhorn der Dramatik
(von Christoph Holbein)
Die Premiere von Shakespeares „Maß für Maß“ am LTT Tübingen ist trotz seiner Länge kurzweilig
Eines lässt sich Regisseur Nick Hartnagel nicht vorwerfen, dass es ihm an Ideen und Einfällen mangelt. Und so greift er bei seiner Inszenierung der Komödie „Maß für Maß“ von William Shakespeare tief in die Funduskiste der dramaturgischen Mittel. Die Premiere am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen ist deshalb trotz ihrer Länge von zwei Stunden und 45 Minuten bis zum Schluss kurzweilig. Das liegt auch an der Spielfreude des gesamten Ensembles, das sich für keinen Klamauk, für keine Albernheit, keinen Slapstick und keine Frivolität zu schade ist.
Im leichten Dunst des Theaternebels entwickelt sich ein buntes, schrilles, flottes, manchmal in seiner Mimik und Gestik überkandideltes Treiben voller Verstellung, Verkleidung und Verwechslung in einer Welt, die beherrscht wird von korrupten und selbstgerechten Figuren. Denen hauchen die bestens aufgelegten Schauspielerinnen und Schauspieler sprachlich schön artikuliert und akzentuiert mit zügellosem Spiel pointiert Leben ein. Dabei unterstützen sie die skurrilen und plakativen Kostüme von Tine Becker, die auch für ein Bühnenbild in Wild-West-Manier mit schwingender Salon-Flügeltür und Blockhütten-Mentalität sorgt. Breiten Raum nimmt das Stilmittel des Regisseurs ein, viele und lange Szenen per Live-Video auf großer Leinwand wie in einem Kinofilm mit konsequenten und ungeschönten Nahaufnahmen und mitunter direktem Spiel in die Kamera vor den Augen des Publikums ablaufen zu lassen. Das alles ist untermalt mit dramatisch auf die Spitze treibender Musik, für die Lukas Lonski verantwortlich zeichnet.
„Sagt, was Ihr wollt, meine Falschheit wird Eure Wahrheit übertrumpfen“: In Shakespeares Werk geht es um das schmutzige Geschäft des Regierens. Regisseur Hartnagel schöpft aus dem Vollen und übersetzt „Maß für Maß“ in ein frivoles und grelles Treiben mit allen nur möglichen Mitteln bis hin zum Mummenschanz, bei dem die Akteure gutturale Laute ausstoßen und mit aufgesetzten Schwellköpfen in Babykopfform das Volk mimen. Da schwingt der Erfüllungsgehilfe der Macht mit Cowboy-Hut auf dem Kopf mit der Peitsche, da ist der gefangene zum Tode verurteilte Claudio mit Klebeband an eine Matratze gefesselt, da robben die Akteure über die Bühne, was alles zu amüsanten Slapstick-Einlagen führt. Hartnagel setzt beim Zeichnen dieser durch eine männlich dominierte Führungsriege charakterisierten Gesellschaft auf plakative Bilder und Gesten. Damit schafft er trotz der bei aller Ironie und Satire im Grunde tragisch-traurigen Melodie im Werk Shakespeares einen witzig-komödiantischen Unterton.
Der Regisseur bedient sich dabei verschiedener technischer Mittel, lässt die Töne durch das Sprechen ins Mikrofon variieren und die Akteure auch mal Österreichisch und Sächsisch sprechen. Manches verkommt dabei zu Klamauk. Manche Figur könnte auch im Kintopp auftreten. Manches wirkt überbetont künstlich. Manches kindisch, wenn die Protagonisten lautmalerisch wiehernd und mit Babykopf im Kniehebelauf über die Bühne traben. Der Zuschauer erhält viele Eindrücke serviert, die bis in kleine Details komponiert sind. Da ist auch mal ganz kurz ein nackter Hintern zu sehen. Wie ohnehin Hartnagel zwischendurch immer mal wieder eine gewisse Körperlichkeit von seinen Schauspielern abverlangt.
Das ermöglicht dem Ensemble ein variables und damit starkes Spiel bis hin zum Schießen mit dem Gewehr auf leere Blechbüchsen. Die Akteure nutzen das für eine kraftvolle, manchmal schrille Darstellung der Figuren. Sie tanzen Menuett, singen Schlager, küssen wie wild den Bühnenboden, spritzen mit der Wasserpistole und schwingen theatralisch das Henkerbeil. Das ist verbunden mit viel Tempo und ungewohnten Einblicken per Live-Video auch hinter die Kulissen.
Wenn auch manche Szene etwas pathetisch daherkommt und einiges ein bisschen zu viel des Guten ist, Hartnagels Inszenierung am LTT trifft den Nerv und interpretiert Shakespeares dunkle Komödie, die 1604 am englischen Königshof uraufgeführt wurde, modern, aber nicht modernistisch, findet also insgesamt das richtige Maß.
Reutlinger Nachrichten, 16. April 2019
Der Aufstieg und Fall des „Richter Gnadenlos“
(von Kathrin Kipp)
Tragisch, blumig, unterhaltsam: „Maß für Maß“ feiert am LTT Premiere
„Lieber eine Axt in der Hand, als das Beil auf dem Kopf“. Ein bisschen Wild West, #Metoo und Gentrifizierung, ein bisschen Maskentheater, Filmkunst und Perspektivwechsel, ein bisschen Experiment, Lehrstück, viel Rhetorik und die Diskussion darüber, was Macht aus einem Menschen macht, was Mensch und was Amt ist und wo dabei die Moral bleibt. „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, heißt es in der Bergpredigt und Shakespeare liefert mit „Maß für Maß“ eine blumig ausformulierte Parabel zum Thema, direkt aus dem Zentrum der Macht. Zu sehen derzeit in einer noch blumigeren Version von Regisseur Nick Hartnagel, der das bumsfidele, teilweise aber auch sehr tragische Stück alles andere als maßvoll, aber dafür ziemlich unterhaltsam aufbereitet und alle möglichen Themen, Effekte und Tänzchen reingepackt hat. Damit aber auch fürs Auge einiges bietet, nicht nur, wenn abgehackte Köpfe durch die Luft fliegen. Und so wird nicht nur viel diskutiert, sondern es passiert auch ständig was auf der Bühne und sei es auch noch der allergrößte Unfug. Aber das Volk will es so. Das Volk will am liebsten auch eine eher lasche Handhabung von Strafgesetzen. Und dann, grad, wenn’s am schönsten ist, ruft es wieder nach einem starken Führer.
Was heute Umfragen erledigen, muss in Shakespeares Satire der Staatschef noch selbst erforschen: In Wien ist (mal wieder) Dekadenz angesagt, deshalb setzt Herzog Vincentio einen rigiden Statthalter ein, damit der ein bisschen durchgreift. Er selbst mischt sich unters Volk, um zu schauen, was dabei rauskommt. Solche Experimente mit dem Volk sind an sich schon fragwürdig. Auch die LTT-Inszenierung spielt mit dem Volk und lässt es mit großen Kohlkopfmasken herumgrölen, im Western-Swingerclub, in den das Publikum nur mithilfe einer Kamera hineinspicken kann: Daniel Holzberg ist im Stück nicht nur der wienernde Strizzi, sondern auch der Live-Kameramann, der für Nahaufnahmen, doppeltes Spiel auf Leinwand und Bühne und für den Perspektivwechsel sorgt, den der Herzog auch beim strengen Stellvertreter Angelo für sein Lehrstück durchzuexerziert. Nicolai Gonther als weiß gestriegelter Angelo ist Marke Richter Gnadenlos, der später selbst zu Fall kommt. Gilbert Mieroph als Herzog wiederum hängt zunächst als Glamrocker und Zuhältercowboy im Swingerclub ab und pafft dicke Zigarren. Später will er vor allem debattieren und dozieren. Angelo verurteilt im ersten Regierungsrausch Claudio (Stephan Weber) zum Tod per Köpfung, wegen sexueller Verfehlung. Claudios Schwester, die Novizin Isabella, bettelt um Gnade, wird aber von Angelo erpresst: Sex gegen Begnadigung. Ein echtes Dilemma: Geht sie darauf ein, macht sie sich vor ihrem Gewissen schuldig, wenn nicht, stirbt ihr Bruder. Da hilft nur der Griff in die Trickkiste: Der als Mönch verkleidete Herzog schickt Angelos verschmähte Verlobte Mariana in Angelos Bett, und weist ihm dasselbe Verbrechen nach, das er verurteilt hat. Und wird letztendlich zum Richter in eigener Sache: „I did not have sexual relations with that woman“. Zitiert wird nicht nur Clinton, sondern auch noch Peter Fox und Sido: „Meine Stadt, mein Viertel, mein Zuhause“. Dieses befindet sich in ein paar dunklen Wildwestschuppen (Ausstattung: Tine Becker), wo der Mann noch Mann sein darf. Und wo nur die Kamera Licht in die „dunkle Komödie“bringt, als die „Maß für Maß“gerne mal etikettiert wird. Jens Lamprecht ist der Sheriff, der die Befehle von oben mit Peitsche und Beil ausführt, aber durchaus Gefallen am Foltern findet. Rolf Kindermann als Escalus mit Perlenbadekappe, Lisan Lantin als Prostituierte kommen zu Wort, haben aber nichts mehr zu melden. Rinaldo Steller als Lucio steckt in mittelalterlichen Junkerpluderhosen in Lack und Leder und schimpft am liebsten über die verkommene Elite. Angelo ist scharf auf Isabella, gerade weil sie so heilig und unantastbar ist. Zwischendurch darf Isabella zwar auch ein wenig mit der Flinte rumballern, ist am Ende aber wieder die Dumme, die vom Herzog angegrabscht wird. Denn auch wenn die Machtmänner ausgetauscht werden, das sexistische System bleibt dasselbe.
Reutlinger General-Anzeiger, 13. April 2019
Greller Tanz in schlechter Gesellschaft
(von Thomas Morawitzky)
Shakespeares »Maß für Maß« in der Inszenierung von Nick Hartnagel am Landestheater Tübingen
Wüst geht es zu in Wien, ein bisschen wie im Wilden Westen. Nick Hartnagels Inszenierung von Shakespeares »Maß für Maß« beginnt mit dem Blick auf ein nebelverhangenes Haus, vielleicht eine Sauna. Drinnen drängen sich die Leiber. Eine Kamera, auf dem Theater zuständig dafür, Blicke in verborgene Räume, private Sphären zu eröffnen, wirft es auf die Bildwand, die rechts über der Bühne hängt: Menschen in grotesken Pappmasken, Brüste, quietschend groß wie Luftballone, und alles drückt und drängt dort drinnen, die restlos verkommene Gesellschaft.
Unter ihr der Herr von Wien, Herzog Vincentio. Gilbert Mieroph spielt ihn; sein Bild saugt an einer Zigarre. Vincentio spricht mit Escalus, dem Stadtrat und Gehilfen – ihn gibt Rolf Kindermann als wunderbar skurrile Randfigur mit Kimono und Haube. Ellbogen heißt treffend ein übereifriger Ordnungswächter, der mit Cowboyhut und Peitsche umgeht – Jens Lamprecht spielt ihn, glatt, fanatisch, nicht sehr hell.
Ellbogens Peitsche trifft vor allem Claudio (Stephan Weber), den Bruder der Isabella, der bei seinem ersten Auftritt auf eine Matratze gefesselt ist – man ahnt sein Verbrechen. Rinaldo Steller als Lucio ist ein geckenhafter Wüstling; Daniel Holzberg als Pompejus Herrensteiß darf im irrealen Wien herzhaft ölig wienern (ein netter Einfall dies) und Lisa Lantin gibt sowohl die lüstern grelle Madame Overdone als auch Mariana, die Frau, die der tugendhafte Angelo (Nicolai Gonther) sitzen ließ. Alle halten sie ihr Fähnchen tapfer in den Wind, reden schlecht über den Herzog, sobald er erst einmal zur Tür hinaus ist.
Und alle diese Figuren sind grell gezeichnet und verpackt, tragen Kostüme aus Kunststoff und Latex, turnen herum in gefälliger Obszönität inmitten eines seltsamen Vergnügungsparks: »Vienna City«. Tine Becker, die die Kostüme, die Bühne ersann, lässt Salontüren schlagen; Holzbauten werden in der Pause umgruppiert. Viele Szenen spielen im Abseits, auf der Bilderwand; Lukas Lonskis minimalistische Musik dramatisiert manch eine Szene gewaltsam. Gefangene werden in Glaskästen auf die Bühne gefahren; Ellbogen zappelt als Clown an der Sackkarre. Es findet hier und dort ein Tänzchen statt in diesem Wien, es gibt makaberen Slapstick mit Henkern, fliegenden Köpfen, Rauferei, Grimassen, kleine Seitenhiebe: Nick Hartnagel inszeniert »Maß für Maß«, eine böse Komödie, mit einem deutlichen Übermaß an Klamauk.
Die Handlung, die Shakespeares Vorlage bietet, ist überschaubar: Herzog Vincentio sieht die Wiener Sitten verroht, setzt deshalb den vermeintlich tugendhaften Angelo als seinen Stellvertreter ein, zieht sich zurück, geht inkognito als Mönch auf der Szene um, beobachtet. Angelo indes erweist sich nicht nur als verführbar. Claudio, der mit seiner Verlobten verkehrte vor der Eheschließung, soll nach dem Gesetz sterben – Angelo nutzt diesen Umstand, um sich Claudios Schwester gefügig zu machen, hält zuletzt auch nicht Wort, will den Bruder doch hinrichten lassen. Vincentio aber kehrt zurück, deckt die Doppelmoral seines Stellvertreters auf.
Isabella sieht das Publikum zum ersten Mal als Videobild; sie liest. Florenze Schüssler gibt ihr eine seltsam distanzierte Verletzbarkeit, oft auch Wut und Empörung. Angelo, der Weiß trägt, so wie sie, wird sie grob vergewaltigen. Vincentio, verkleidet in weißer Robe, manipuliert, fädelt ein – Gilbert Mieroph spielt ihn windig, flüssig, fabelhaft. Ihm und Schüssler verdankt der oft etwas zu alberne Sündenzirkus seine lohnenden Momente. Wenn der verkleidete Vincentio Isabelle zuflüstert »Schweige und dulde!«, dann scheint kurz tatsächlich die Zeit stillzustehen.
Dass jener Vincentio selbst in engen Latexhosen durch die Szene tänzelt, lässt den Herrscher, der die Unmoral beklagt, von Anfang an nicht sehr seriös wirken. Kein Wunder, dass er seine Hand zuletzt weit unten hinten bei Isabella anlegt: Auch dieser Obere ist nicht rein, hatte immer eine übergriffige Absicht. Mit einem letzten vielsagenden Blick von Florenze Schüssler endet das Stück.
Schwäbisches Tagblatt, 13. April 2019
(von Peter Ertle)
Aber genau gesetzt: Shakespeares dunkle Komödie "Maß für Maß" mit bösen Clowns, zwielichtigen Tollpatschen und einer sehr ernsten Heldin zeigt sich am LTT in großer Spiellaune. Ähnlichkeiten mit heutigen Zeitläuften nicht ausgeschlossen.
Ist es Donaunebel? In diesem Wien sind Bühne und Teile der Zuschauerränge schon in Dunst gehüllt, als die Zuschauer auf ihre Plätze gehen. Aber es war ja nur ein imaginäres Wien, für Shakespeare, heute ist es erst recht nirgendwo und überall, von Fall zu Fall. Und sogar der Nebel mutet uns recht heutig an: Nichts klar zu erkennen, viel Schleier, viel (Alp)traum, viele Gespenster, viel Nacht mit existentieller Bedrängnis: Der eine wartet auf seine Hinrichtung, die andere ängstigt sich um ihren Bruder und zittert vor dem politischen Machthaber, der ihr an die Wäsche will und wiederum schlotternd erkennen muss, wie sein gesamtes Lebensideal von seiner eigenen Begierde zerfetzt wird. Um nur drei Beispiele zu nennen. Und, ja: Der Machthaber schlottert nur kurz und gibt dann zügig und sehr willig nach.
Jedenfalls: Ganz schön viel Psychodrama für eine Komödie. Und ein Ende, als wollte Shakespeare seinen Figuren eine reinhauen. Höchststrafe: Verwünschung. Tit for tat. Unmaß für Unmaß. Gerade dieses Ende, der böse, surreale Hochzeitsreigen, ist Komödie par excellence, wenn auch hier in Form ihrer Travestie. Schon vorher sparte Shakespeare nicht mit Komödientopoi: Von der unbemerkt vertauschten, untergeschobenen Liebhaberin bis zum unerkannt sich unters Volk mischenden Herrscher (zwei weitere Vernebelungen).
Dunkel, irrational, übergeschnappt - mit einer korrespondierenden Sehnsucht nach einem Ende des ganzen Spuks, nach Abstrafung, Durchgreifen, Klarheit und Konsequenz. Shakespeare sorgt am Ende bitter und ironisch dafür. Der junge Machthaber Angelo sorgt im Stück dafür, indem er aufräumen will mit all dem Laster, der Inzucht, dem Sittenverfall.
Und wir 2019 leben in einer Welt, in der es die ungeduldigen Aufräumer rechts wie links gibt. Die Inszenierung greift das beizeiten auf, spielt damit, einmal zu deutlich, indem zu viel aktualisierender Fremdtext in Form einer Stadtbeschreibung aufgenommen wird. Wäre nicht nötig gewesen. Die minimalinvasiven Texteinschübe oder Aktualisierungen der Brasch-Übersetzung reichen völlig, die Parallelen liegen auf der Hand. Es ist auch schon die einzige Kritik an dieser Inszenierung Nick Hartnagels, die ein Leander Haußmann nicht besser hätte auf die Bühne stellen können: Ein Ensemble mit ungebremster, aber auf den Punkt kommender Schauspiellust, eine Inszenierung, die diese Punkte zu setzen weiß. Und die auch mit der zweiten Ebene, dem Video, klug umgeht, heißt: Dort die Bilder bringt, die die Bühne nicht zeigt. Perspektivwechsel, Innenräume, Zooms. Und, am Ende: Als alle nach vorn zu den Zuschauern stehen, von hinten: Vincentios Hand auf Isabellas Po, dann Isabellas zurückblickendes Gesicht: Großaufnahme. Es ist das Gegenstück zum bekannten "was bisher geschah", ein "Was morgen geschehen wird", es ist das Vermächtnis dieser Inszenierung, das Ethos dieses Abends, seine klare Positionierung gegen die Macht. Und es ist schön, dass vorher auch die Gralshüter des moralisch unanfechtbaren Benehmens genügend auf den Latz bekamen.
Nicolai Gonthers Wandlung vom Nachtmahrskrupulösen zum Vergewaltiger in spe ist ein Höhepunkt, das gesamte Spiel zwischen ihm und Isabella (Florenze Schüssler), den beiden in Weiß gewandeten Reinheitsantipoden (Kostüme, Bühne: Tine Becker) ein Hingucker. Isabella ist die einzige reine Tragödienfigur, ernst durch und durch. Ins Lachen und in scheinbar erotische Anwandlung verstrickt nur als Momentfacette ihres Konflikts, auch ein Zeichen ihrer Wehrhaftigkeit: Ich zeige dir meine Waffen.
Genau da erfährt diese schlichte Heilige Tiefe, Innenleben. Ihre Überlegungen zum Thema Ehre, ihrer eigenen und der ihres Bruders (heute würde man eher von Selbstwertgefühl und Achtung sprechen), auch ihr überraschendes Freispruchplädoyer für Peinsack Angelo am Ende - da steckt viel zeitlos psychologisch-philosophischer Gehalt drin.
Grandios beschränkt um nicht zu sagen großartig bekloppt Isabellas Bruder Claudio, den Stephan Weber erst an eine Matratze gekettet, später im Glaskäfig so spielt, dass Komödiantentum und ans Herz gehende Todesangst keinen Widerspruch bilden. Gilbert Mieroph legt in der Doppelrolle des Machthabers und Paters eine schlitzohrige und schmierig-patronale Performance aufs Parkett, phasenweise mag man ihn für den guten Onkel und weisen Strippenzieher im Auftrag des Autors halten, allein, seine Weisheit ist diabolisch und seine Schlechtigkeit qua Durchblick die umfassendste. Auch er darf sich in etlichen komischen Nummern ausleben.
Daniel Holzbergs (auch live-Kamera) gemütlich-genüsslicher Ausbund an Wiener Schmäh und Lebensart ist so leiwand, dass man sich nicht daran satt sehen kann. Rinaldo Stellers Lucio, ein grotesk frivoler Commedia dell'arte-Schlaks bringt viel Pepp und liefert sich sprühende Duette mit Vincentio. Rolf Kindermann gibt den Escalus mit viel Wiedererkennungswert als typischen Überallmitmacher und Überallbremser. "Ellbogen" Jens Lamprecht wiederum schleppt seine Verhafteten mit einer ins Dumpfe gekippten Note chaplinesker Tollpatschigkeit an. Wäre aber genauso gut in einem Film der Coen-Brüder vorstellbar.
Und Lisan Lantin ist sowohl als Madame Overdone wie auch als Mariana das komische enfant terrible. Vor allem: Man musste sich im Programmheft versichern, dass sie es wirklich ist. Für ihren Beruf kein schlechtes Zeugnis.
Unterm Strich
Ein alter Machthaber, der die Zügel schleifen ließ, nimmt eine Auszeit und bedient sich eines jungen Radikalinskis, um hernach dessen Früchte zu ernten. Wie immer auf Kosten der kleinen Leute, nicht zuletzt: Der Frau. Das LTT inszeniert das Spiel mit der Doppelmoral blendend und mit viel Situationskomik, während es das Psychogramm und die Mechanismen von Macht und Verführbarkeit ausleuchtet.
nachtkritik.de, 12. April 2019
(von Steffen Becker)
Nick Hartnagel situiert Shakespeares Dark Comedy zwischen Western Saloon und Sci-Fi
Würden Sie lieber in einer amoralischen oder in einer hypermoralischen Gesellschaft leben? Kommt wahrscheinlich auf die Perspektive an – als Mitglied einer privilegierten Oberschicht, die ungehemmt nehmen kann, was sie will, hat Variante 1 sicher ihre Vorteile. Die Protagonisten der Shakespeare’schen Dark Comedy "Maß für Maß" genießen sie auf der Bühne des Landestheater Tübingen jedenfalls in vollen Zügen. Sie drücken ihre Latex-Bodies und Fake-Titten in die Kamera. Die projiziert die Kopulationen in Großaufnahme.
Ihre Köpfe verschwinden allerdings unter überdimensionierten Spaßmasken, die sowohl Folge als auch Verhöhnung von Gesetzen, die das Treiben eigentlich verbieten. Dem Herrscher dämmert, dass diese Ausschweifungen Folgen haben. Zwar lobt ihn das Volk für sein Engagement für uneheliche Kinder, aber die Kosten wachsen ihm langsam über den Kopf. Also verlässt er die Stadt und überträgt die Verantwortung seinem tugendhaften Stellvertreter Angelo – als Testballon fürs Aufräumen und Blitzableiter für den Ärger, den das verursacht.
Von dem gibt es auch im realen Tübingen genug. Deutschlands bekanntester Provinz-OB Boris Palmer hat als Inbegriff des Klischees vom rechthaberischen Oberspießer mehrere "Auftritte" in der Inszenierung von Nick Hartnagel. Der etwas tumbe Wachtmeister (Jens Lamprecht) parodiert bei der Verfolgung einer Dirne den Palmer‘schen Versuch, die Personalien eines missliebigen Studenten aufzunehmen ("Ich bin Leiter der örtlichen Polizeibehörde!"). Später wird ein Besen geköpft, den "Die Partei" als Gegenkandidat zu Palmer aufbauen wollte. Arg viel politischer wird es allerdings nicht auf der Bühne. Die schwankt zwischen einer Ausstattung als Western Saloon (Recht des Stärkeren!) und einem cleanen Sci-Fi-Look der Hauptfiguren (Recht und Ordnung!).
Das will nicht so ganz passen zur Gegenüberstellung eines alten dekadenten Systems und einer als zwar rigiden, aber willkürlich dargestellten Alternative. Auch einen Link zur aktuellen politischen Lage mag die Inszenierung nicht in Shakespeare hineinlesen. Das Programmheft betont zwar die Sehnsucht nach einem "starken Mann" als Bezugspunkt. Doch der Hardliner Angelo wird von Nicolai Gonther als ein auf blutleer geschminkter, gehemmter Pedant gezeigt, der schnell an den eigenen Ansprüchen scheitert – und gerade nicht als Macho-Berserker, als den sich Populisten heute inszenieren. Die #Metoo-Anspielungen machen in einer Welt, in der Männer Macht (und am Ende auch Frauen) verteilen, durchaus Sinn. Sie bleiben in der Inszenierung aber nicht mehr als bloßes Zitat.
Weit weniger oberflächlich bleibt "Maß für Maß" in der Charakterzeichnung. Die Komödie hätte auch Knallchargen hergegeben (und es gibt sie in Tübingen auch). Aber gerade die Figur des Herrschers gelingt Gilbert Mieroph bei allem Klamauk überraschend vielschichtig. Gewandet in goldene Leggings und Vokuhila-Perücke ist er sympathisch und widerwärtig, einfühlsam und rücksichtslos – der Inbegriff eines Manipulators. Funktioniert auch in Richtung Publikum: Er setzt die Stimmung der Szenen.
Gegen den historischen Strich bürstet die Inszenierung die weibliche Hauptfigur Isabella. Statt einer naiven Novizin, die um das Leben ihres Bruders bitten muss, steht da eine abgeklärte Frau, die sich eigentlich angewidert von dieser Gesellschaft abwenden wollte. Florenze Schüssler spielt sie mit der Lakonie einer Frau, die ahnt, dass die Männergesellschaft sie am Ende übervorteilen wird. In den Nebenrollen stechen hervor: Rolf Kindermann als Escalus, Mann der zweiten Reihe, der souverän zeigt, wie man politisch immer irgendwie durchkommt. Sowie Lisan Lantin, die als verstoßene Fastfrau des Angelo eine Inkarnation von Nina Hagen zum Besten gibt. Als Abend für Schauspieler*innen funktioniert "Maß für Maß" durchaus. Aber als Polit-Stück wird es wahrscheinlich nur dann zünden, wenn Boris Palmer sich darüber auf seiner Facebook-Seite aufregt.