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Schauspiel von Nikolas Hoppe
Uraufführung
Gäubote Herrenberg, 10. Oktober 2015
Der Familie entkommt man nicht
(von Thomas Volkmann)
Die vom 28-jährigen Autor Nikolas Hoppe angegebenen drei Handlungsorte hat Regisseurin Marlene Anna Schäfer auf einen Spielort verdichtet. Das Wohnhaus des Paares und ihrer neunjährigen Tochter, das gegenüberliegende Elternhaus und die Zweizimmerwohnung, in die Jörg nach dem Verkauf des Hauses zieht, sind auf der Bühne identisch. Der zweite Kniff: die vier Erwachsenen sind, ob sie in einer Szene nun mitwirken oder nicht, trotzdem physisch anwesend, kommentieren gelegentlich sogar, was da über die Entwicklungen und Verwerfungen untereinander so preisgegeben wird. Die Aussage dahinter ist so simpel wie genial umgesetzt: der Familie entkommt man nicht.
Auch wenn’s am Rande ein Ehedrama (oder auch derer zwei, denn auch bei den Eltern scheint nicht immer alles im Einklang zu sein) ist, so interessiert sich das „Nach Korfu“ doch mehr für die Zwischentöne und Gefühle der Figuren und wie sie es hinbekommen, der Verantwortung gegenüber der eigenen Familie und dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gerecht zu werden. „Die Mama möchte nicht so werden wie ihre Eltern“, versucht Jörg seiner Tochter über zu begründen, warum deren Mutter andere Wege geht - und hofft dabei selber auf Trost. Eine Herausforderung ist zudem, die chronologisch nicht aufeinanderfolgenden Szenen und was sie über die Familienmitglieder (und ob sie wie der Opa überhaupt noch leben oder nur in Erinnerungen herumgeistern) aussagen und wie bei einem Puzzle zusammenzusetzen.
Als LTT-Urgesteine sorgen Hildegard Maier und Gotthard Sinn für immer wieder komödiantische Momente, Jennifer Kornprobst überzeugt als aus der Normalität ausbrechende junge Frau, der man durchaus anmerken kann, dass ihr dieser Schritt und die Trennung von der Tochter nicht so leicht fallen wie sie vorgibt. Raphael Westermaier hat in diesen Familienaufstellungen den fast schwierigsten Part. Er durchlebt in diesem sensiblen Stück die wohl größte Hölle.
Schwäbisches Tagblatt, 28. September 2015
(von Peter Ertle)
Keiner entkommt: Im LTT wurde Nikolas Hoppes Familienstück "Nach Korfu" feinfühlig uraufgeführt
(...)
Nikolas Hoppes Stück schaut abwechselnd in die Zweizimmerwohnung, ins Einfamilienhaus und ins Elternhaus. Betrachtet die Ängste, die Verzweiflung, das Wundenlecken, das Stichesetzen, die kleinen und größeren Lügen, die verkappten oder offenen Sehnsüchte, das schlechte Gewissen, den Trotz, den Alltagstrott. Ein Familienstück der anderen Art. Der ganz normalen Art. Trennungen dürften statistisch so häufig sein wie Zusammenbleibungen, und auch in diesem Stück haben wir ja beides parallel: Eine Trennung (die Jungen), eine Zusammenbleibung (die Alten). Wir wagen angesichts der vorgeführten Beispiele nicht zu sagen, was besser ist.
"Ein Familienhaus. Eine 2-Zimmer-Wohnung. Ein Elternhaus." So lauten die Ortsangaben. Regisseurin Marlene Anna Schäfer legt alles in einen einzigen Raum, in dem alle vier Figuren immer anwesend sind. Diejenigen, die laut Stück gerade nicht da sind, dürfen die Szene gelegentlich sogar anteilnehmend kommentieren.
Es ist die räumliche Umsetzung einer wesentlichen Erkenntnis dieses Stücks: Seiner Familie entkommt man nicht - nie. Das spiegelt sich auch im unchronologischen Zeitraum. (...)
Oder ist hier sowieso alles erinnert? Wer spricht hier eigentlich? Vordergründig natürlich die vier Personen, klar. Aber ... Das wären interessante Fragen für Germanisten. Aber auch Theaterzuschauern könnte ab und zu die Idee kommen, dass es sich beim Vis à Vis der Häuser von (Schwieger)Eltern und Kindern - "derselbe rote Klinker, dasselbe schwarze Dach" - in erster Linie um ein in Stein gesetztes Symbol eben dieser Big Brother-Familienbande handelt. Überhaupt sind die spiegelbildlichen Anordnungen und Déjà Vus in diesem Stück zahlreich und es nimmt kein Wunder, dass es eine Fensterscheibe ist, die leitmotivisch im Mittelpunkt steht: Sie trennt, sie schützt, durch sie sieht man hinüber, in ihr sieht man sich selbst, auch der Zuschauer sieht sich letzten Endes in ihr - in einem Spiegel am Bühnenhintergrund. Ein Medium. Man kann sogar auf sie schreiben: "Hallo Mama!"
Wem dieses von der kleinen Lena geschriebene "Hallo Mama!" nicht das Herz bricht, da legen wir uns jetzt mal fest, ist ein Unmensch. Überhaupt Lena: Protestkackt in den Schrank, fährt mit dem Bus zu ihrem alten - dem elterlichen und jetzt Mamas - Haus und springt dort heimlich auf dem Trampolin. Lena selbst ist die einzige der vier Personen, die nicht selbst auf der Bühne ist, die nur durch die Erzählungen der vier anderen vergegenwärtigt wird. Lena personifiziert, Lena ist: das wunde Herz dieser Familie.
An "Nach Korfu" merkt man wieder, was für einen großen Vorteil kammerspielartige Stücke mit überschaubaren Personen bieten: Vier Personen können psychologisch ungleich differenzierter gebaut werden als ein Dutzend - es ist einfach eine Frage der zur Verfügung stehenden Probenzeit geteilt durch die Personen. Immer vorausgesetzt, man hat einen guten Regisseur und famose Schauspieler. Beides ist hier der Fall. Der Mikrokosmos der Gefühle, die Brüche und Ambivalenzen, das Inventar innerer Regungen und das zugehörige, manchmal widersprüchliche Alphabet, in dem diese ausgedrückt werden - darin ist Marlene Anna Schäfer groß. Sie ist 27. Der Autor 28. Lebenserfahrung? Na ja, sie waren auch mal Kinder. Lena winkt.
(...)
Das alles ist sehr realistisch, in der Inszenierung ist aber kein Filmrealismus am Werk, vielmehr baut die Regisseurin auf die genuinen Möglichkeiten des Theaters. Wenn Jörg seine Kathrin mit einem Turm aus Umzugskisten "zuscheißt", wenn er sich ein ander Mal Schritt für Schritt an sie heranpirscht, wenn beide schließlich auf der Bühnenmitte liegen, sich an den Händen halten, umarmen: Das ist unmittelbar einleuchtende Körpersprache und Übersetzung in einem.
Jennifer Kornprobsts Kathrin standhaft kühl, einmal doch bis zur Träne überwältigt, Raphael Westermeiers Jörg etwas schluffig in deutlich schwächerer Position. Gotthard Sinn und Hildegard Meier als traurig psychorealistische Weiterentwicklung der kauzigen Alten aus dem Komödienarsenal. Auch davon lebt dieses Stück: Dass wir uns wiedererkennen, (...).
Veronika Sophie Bischoff hat alles in ein Umzugsambiente gestellt, das Leben ein Transitort zwischen Verlassen und Ankommen.
(...)
Übrigens: Am Düsseldorfer Schauspielhaus gewann dieses Stück 2010 den Publikums- und Jurypreis des Autorenlabors. Warum es Amelie Niermeyer danach nie aufgeführt hat? Wissen wir nicht. Jetzt hat es Tübingen. Ein Gewinn.
Reutlinger Generalanzeiger, 28. September 2015
(von Miriam Steinrücken)
Die Uraufführung von »Nach Korfu« zeigt am LTT den Konflikt von Freiheit und sozialer Verantwortung
»Liebe ist wie Sauerstoff. Kriegst du zu viel, bekommst du einen Rausch. Zu wenig, stirbst du«, singt die Band »The Sweet«. Zum Disco-Sound der 70er-Jahre tanzen vier Figuren ausgelassen. Das harmonische Familienbild wird von kreischenden Störgeräuschen zerrissen. Verstört löst sich die Gruppe auf.
Der Song bringt das Dilemma der Liebe auf den Punkt: Zu viel davon ist genauso zerstörerisch wie zu wenig. Dieses Thema zieht sich durch das Stück »Nach Korfu« von Nikolas Hoppe (...).
70 Minuten lang ringen die Figuren um die Balance zwischen Verantwortung und individueller Freiheit.
Im Zentrum von Hoppes Debüt steht Kathrin. Der erste Freund war gleich die große Liebe. Hochzeit gefeiert, Haus gebaut, Kind gekriegt – Familienidyll im Eigenheim. Das war vor acht Jahren. Heute fühlt sich Kathrin erdrückt von zu viel Nähe. Deshalb bricht sie den Kontakt ab, will einfach nur weg, nach Korfu, um sich im utopischen Anderswo als eigenständige Person wiederzufinden.
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Doch die Familie lässt sich nicht einfach beiseiteschieben. Tochter Lena duscht und spricht nicht mehr. Mit ihrer Erziehung ist Ehemann Jörg (Raphael Westermeier) heillos überfordert. Mutter Rosemarie (Hildegard Maier) verschläft den ganzen Tag, während Vater Helmut (Gotthard Sinn) aus dem Fenster starrt.
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Überzeugend spielt Kornprobst die strenge, herrische Kathrin, die nach außen Haltung bewahrt, während sie innerlich zerbricht.
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Die Abwärtsspirale wird durch komische Momente unterbrochen. Zum Beispiel, wenn Helmut auf einem Stuhl steht und Rosie erschrocken kreischt: »Ich ruf einen Krankenwagen!« Woraufhin Helmut nüchtern erwidert: »Die kommen nicht im Voraus. Nur, wenn was passiert ist.«
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Die Figuren stehen auf einer Abdeckplane. Um sie herum stapeln sich Umzugskartons. Der Raum, in dem sie sich befinden, wird renoviert – ebenso wie ihr Leben rundum erneuert wird. Veronika Sophia Bischoff hat die Bühne nur mit dem Nötigsten ausgestattet, um nicht von den Figuren abzulenken.
Die scheinen in ihren Alltagskleidern der Wirklichkeit entnommen zu sein, nah dran am Zuschauer, der sich in ihnen wiedererkennt. Er fragt sich: Gelingt Kathrin der Neuanfang in Korfu?