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Nach dem Roman von Virginia Woolf · In einer Fassung von Annette Müller
Schwäbisches Tagblatt, 4. Oktober 2022
Stillgestellte Emotionen, magisch abstrakt beleuchtet
(von Peter Ertle)
"ein sehr formalisiertes, ironisches [...] Traumspielmärchen aus einem Spielzeugzimmer, en miniature"
Aus Prosa Theaterstoff zu machen ist heute normal. Nimmt man sich dabei vor, möglichst nur Originaltext zu übernehmen, bedeutet das, dass das Ensemble in Szene setzt, was die Erzählerstimme sagt, allenfalls kommt es zu ein paar aus indirekter Rede in direkte Rollenprosa transformierte Passagen. Gewöhnliches Theater ist das nicht. Aber die Kunst liebt ja das Außergewöhnliche, und aus jeder formalen Besonderheit lässt sich ein spezieller künstlerischer Reiz gewinnen.
Das zu den Voraussetzungen des Stücks Orlando in der Inszenierung Annette Müllers am LTT. Der künstlerische Reiz springt allerdings lange Zeit nicht so aufs Publikum über. Denn dieses muss sich auch noch an eine Ästhetik aus spezieller Langsamkeit, Reduktion und Formalismus gewöhnen. Immer, wenn sich Orlando verliebt, zittern ihm die Knie: Schön. Liebesszenen sehen stets so aus: Gemeinsames Dreirundenwälzen auf dem Boden, als wären’s zwei zusammengebundene Puppen, leblos. Warum die Figuren, wenn sie stehen, wie leicht bewegte Kegel kreisen müssen, warum jemand wie ein Pferdchen auf die Bühne hopsen muss, oder mal ansatzweise Balletttaugliches eingestreut wird? Schwer zu sagen. Man sieht ungefähr, wo es hinwill, es wird aber keine rechte Sprache draus. Apropos: Sprachlich hörte man am LTT selten so viele Ministolperer, kleine Textunsicherheiten, wie Haarrisse ziehen sie sich durch die Aufführung.
Aber unter den Kostümen (Bühne und Kostüme: Oliver Kostecka) gibt es Eindrucksvolles, zum Beispiel das Reifrockuntergestell für den zur Frau gewandelten Orlando. Und es gibt den Text Virginia Woolfs mit seiner eleganten Ironie, dem einen oder anderen Witz, den die Inszenierung auch bespielt. Und ein kurzes Lächeln huscht übers Gesicht der Zuschauer.
Davon abgesehen ist hier alles museal stillgestellt, als wäre es nur die Erinnerung an ehemals starke Emotionen – auch eine Strategie, das Leben zu bändigen – vorgetragen von einer cool distanzierten „Biographin“. Und genau so ist es ja wohl auch. Insofern könnte man sagen: Trefflich! Und, ja, mit der Zeit stimmt man sich ein auf diesen Ton, hört den wechselnden Erzählern dieses stillen Märchens zu, kann Justin Hibbelers Orlando und Insa Jebens’ Orlanda manches abgewinnen, sieht Franziska Beyer und Neuzugang Lucas Riedle in anmutig-kecken Liebhaberrollen einer russischen Prinzessin oder einer rumänischen Herzogin, begleitet Orlando nach Istanbul, bestaunt den riesigen Bouffanten von Andreas Guglielmettis Queen Elizabeth. Und wenn im großen Frostwinter tote Vögel vom Himmel fallen, zaubern sie diese Stimmung auch auf die Bühne, nicht zuletzt aufgrund der famosen Lichtstimmung. Dieses von Leuchtkanten umrandete Quadrat auf dem Boden, die Spielfläche an der Decke gekontert, jede Szene in einer anderen Lichtfarbe: Konkrete Kunst. Sorgt im Verbund mit der superleisen, suggestiven Musik (Malik Diao) für meditative, melancholische Grundstimmung. Sie ist das eigentliche Ereignis dieser Inszenierung. Und dann gibt’s doch noch ein Hallowach-Moment am Schluss, weil die Woolfsche Analyse der Welt der 20er Jahre so sehr unserer heutigen Welt 100 Jahre später gleicht. Auch weil ihre Beschreibung von Mensch und Welt den Charakter eines Glaubensartikels bekommt, dem unbedingt zuzustimmen ist (obwohl er in der Pauschalität auch wieder banal klingt): Wir sind, ein jeder ist: Vieles. Und was Leben, was Liebe, was Wahrheit ist: Wir wissen es nicht.
Gewiss: Ihr Orlando war ein weiterer Versuch, Antworten auf solche Fragen zu finden, diesmal, indem sie ihr eigenes und das Leben ihrer Freundin spielerisch verfremdete, 20 Lebensjahre in eine 300-Jahre-Reise verpackte. Am LTT wurde sie in knapp zwei Stunden magisch abstrakt beleuchtet, ein sehr formalisiertes, ironisches, irgendwie schläfriges Traumspielmärchen aus einem Spielzeugzimmer, en miniature, das Erzählte unter einem Wattebausch aus Sanftmut und Ironie leicht narkotisiert, den Akzent auf die Verwandlung Orlandos vom Mann zur Frau setzend, überhaupt auf die Vielfalt und Unbestimmtheit der Geschlechter, und drumherum die verschieden tickenden, darauf unterschiedlich reagierenden Zeitalter.
Könnte es sein, dass es doch mehr Prosastoff ist als Theater? „Jetzt interessiert mich aber doch mal das Buch“, hört man beim Verlassen der LTT-Werkstatt. Na, dann hat es sich ja irgendwie gelohnt.
Unterm Strich
Sehr formalisiert (dafür aber wieder nicht streng genug), mit Theater eine Erzählung illustrierend, ironisch-museal, manche Eigenheit des gleichnamigen Romans für die Bühne umsetzend. Die Ästhetik wirkt aber nicht stimmig genug, das Stück zu wenig belebt.
Reutlinger General-Anzeiger, 4. Oktober 2022
Vier Jahrhunderte im Spiegel einer Seele
(von Thomas Morawitzky)
"kleinste Gesten werden zu großen Ereignissen"
Durch vier Jahrhunderte führt diese Reise, durch Liebe, Kunst und Politik, von einem Leben als Mann zu einem Leben als Frau. Freilich: Orlando entstammt dem Adel, ist privilegiert, ist auch in dieser Hinsicht Ausnahme. Gerade deshalb jedoch ist er (oder sie) eine ideale Kunstfigur.
Virginia Woolf schrieb »Orlando« vor nahezu hundert Jahren; ihr Buch ist Entwicklungsroman eines idealisierten Menschen und zugleich ein Zeitbild, das die Moden und Meinungen der Jahrhunderte voller Ironie spiegelt. Nun hat Annette Müller »Orlando« für das Landestheater Tübingen inszeniert – und bleibt dabei sehr nahe am Buch, bringt Virginia Woolf als kondensierten Text auf der Bühne.
Diese Bühne (Oliver Kostecka, auch Kostüme) ist ein leuchtendes Spielfeld, meist in blassem Grün, mit weißer, blauer, roter Umrandung. Wenige Utensilien werden eingebracht – ein bizarres kastenförmiges Kleid, das Königin Elisabeth (die Erste) tragen wird, ein Reifrock, andere Kleider für den verwandelten Orlando.
Die Figuren im Spiel sind die Schauspieler – Franziska Beyer, Andreas Guglielmetti, Justin Hibbeler, Insa Jebens, Lucas Riedle. Sie werden ihre Rollen tauschen, so wie Orlando. Sie schreiten geschlossen dem Publikum entgegen, verteilen sich dann. Ihre Bewegungen wirken oft wie ein langsames Ballett, ein höfischer Tanz. Die Gesichter der Schauspieler spechen, kleinste Gesten werden zu großen Ereignissen. Ein leise schwirrender Ton liegt über dem Geschehen.
»Er, denn es konnte keinen Zweifel über sein Geschlecht geben, auch wenn die Mode der Zeit einiges tat, um es zu verhüllen« – so beginnt der Roman, so beginnt das Stück. Insa Jebens tritt hier auf, als Sprecherin, Justin Hibbeler ist Orlando, der auf den Kopf eines Mauren einsäbelt, längst tot, abgeschlagen schon von einem kriegerischen Vorfahren: ein junger Mann, keine Frage. Franziska Beyer wird bald zu Natasha werden, einer russischen Gräfin, seine erste Liebe und Enttäuschung. Auch die Rolle des Erzählers kreist. Gedichte werden zitiert, John Donne zum Beispiel: »No man is an Island.«
Angeklagt als Frau
Orlando, enttäuscht von Liebe und Dichtung, zieht als Botschafter nach Konstantinopel, schläft sieben Tage lang, erwacht, derselbe Mensch in anderem Körper, mit kleinen Gedächtnislücken. Insa Jebens spielt ihn nun, mit Perücke. Der junge Adelige, der zur Frau wurde, lernt, welch unsinnige Hindernisse die Welt ihm in den Weg stellt in dieser Rolle. Die Verwandlung selbst nimmt er als Selbstverständlichkeit. Aber er – nun sie – sieht sich angeklagt: »Erstens, dass Sie tot sind, zweitens, dass Sie eine Frau sind.«
Annette Müller zeigt »Orlando« am LTT als einen poetisch schillernden Text, ausdrucksstark gesprochen von allen Darstellern, mit fein gesetzten überraschend humoristischen Momenten, verwandelt in sehr schlichte, aber eindringlich klare Bilder. Malik Diaos leise changierende Musik verleiht dem Stück einen schwebenden, von der Zeit gelösten Charakter.
Orlando langt an im 20. Jahrhundert, mit den Erfahrungen von Mann und Frau und vier Jahrhunderten. Auch Jonathan Green, der eitel-rückwärts gewandte Schriftsteller, dem sie vor Zeiten begegnete, ist noch da, ein unsterblicher Typus auch er.
Irgendwann sitzt Orlando als preisgekrönte Schriftstellerin in einem Automobil, unterwegs in eine Zukunft. Das Stück, das seine/ihre Geschichte erzählt, endet als heitere Meditation über das Wesen des Menschen, der immerzu versucht, die vielen Persönlichkeiten, die in ihm wohnen, zu versöhnen. Und der verstummt, sobald ihm dies gelungen ist.