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Political von Gernot Grünewald und Kerstin Grübmeyer
Uraufführung
Reutlinger Generalanzeiger, 16. Februar 2015
(von Veronika Renkenberger)
Selten wurde im Vorfeld einer Theater-Premiere so viel getrommelt und diskutiert, zumindest diesen Aspekt hätte Helmut Palmer wohl gemocht: Das LTT hat ein Stück über ihn, den 2004 verstorbenen Vater des Tübinger Oberbürgermeisters gemacht.
...
modernes Theater voller Kunstgriffe, guter Ideen, kluger Lösungen. Gleich vier breitmäulige, etwa 1,10 Meter große Palmer-Puppen bevölkerten für etwa 100 Minuten die Bühne, die zwischen Obstkistenstapeln diverse Ebenen bot (Bühne und Kostüme: Michael Köpke). Weil man einen Helmut Palmer nicht einfach nachspielen kann, gab es mehrere der anarchischen Stoffgeschöpfe, einen ganzen Palmer-Chor ohne klare Rollenabgrenzung. Respekt für Sabine Effmert: Sie hatte das Puppentraining übernommen für die jungen, mit Puppenspiel unerfahrenen Schauspieler Laura Sauer, Patrick Schnicke, Lukas Umlauft und Raphael Westermeier. Es war sehenswert, wie die vier allein und gemeinsam an den Puppen hantierten, Brüche erzeugten durch die Blicke zwischen Puppen und Menschen oder die Zerbrechlichkeit, die plötzlich da war, wenn eine Palmer-Puppe wie ein Kind getragen wurde. ...
Trotz allem waren die vier Puppen manchmal nicht genug, einfach zu sehr aus einem Holz beziehungsweise Textil. Mankos zeigten sich da, wo echte Gefühle und mehr Tiefe angebracht gewesen wären: Tragik muss man nicht überzeichnen. Trauer und Angst funktionierten schlecht in Verbindung mit Ironiesignalen. Leise Töne wären ohne Pathos und Larmoyanz stärker gewesen. Dass ausgerechnet Helmut Palmer so ganz ohne Schwäbisch daherkam, war sicher nicht anders möglich, blieb aber dennoch seltsam. ...
Am Ende gab es geschlagene fünf Minuten Applaus für die Aufführung. Erika Palmer, die neben ihrem Sohn Boris Premierengast war, verteilte persönlich Blumen ans Ensemble. Hinterher lobte sie die engagierten Theaterleute und das Projekt. „Sie haben den Palmer ja alle nicht gekannt.“
Reutlinger Nachrichten, 16. Februar 2015
(von Kathrin Kipp)
Nach dem Stück ist vor dem Stück: Als der langanhaltende Premieren-Applaus abebbt, hört man aus dem Off immer noch Helmut Palmer, wie er seine Reden schwingt: „Alle, die hier lachen, waren ehemalige Nazis. Denn über diesen Fall kann man nicht lachen.“
Das LTT versucht’s dennoch ein bisschen, aber nicht nur das: Es zieht das „Einzelschicksal“ Palmer nicht nur ins Lächerliche, sondern auch ins Tragische, ins Musikalische, ins Parodistische, ins Bitterernste, ins Ironische, ins Überhöhte, ins Politische, ins Private, ins Psychologische. Und ins Psychiatrische, auch wenn „alle, die Palmer psychiatrisieren mit Hitler selektieren“. Palmer lässt sich offenbar weder kategorisieren noch vereinnahmen. Und so will auch das LTT-Projekt das Phänomen Palmer nicht erklären und bewerten, sondern nur aufdröseln und vorführen. Auch wenn die Auswahl der Texte – man lässt den Remstalrebellen und seine Zeitgenossen selbst zu Wort kommen, mit Auszügen aus Briefen, Reden, Büchern und Anzeigen – mitunter sehr ins Märtyrerhafte, Elegische und Verbitterte gehen.
Trotzdem ist Palmer mit all seinen Widersprüchen nicht richtig zu fassen, weder politisch, noch persönlich. Die Regie macht daraus eine dramaturgische Tugend und vervierfacht ihn einfach, stellt vier multifunktionale Palmer-Puppen mit starken Stimmungsschwankungen auf die Bühne, die in den verschiedensten Palmer-Rollen ihr biografisches Lied singen: Ein Palmer-Porträt als „Puppenoper“, da besteht zwar die Gefahr, dass das Stück leicht überproduziert wirkt, kommt aber trotzdem ganz gut. Schießlich sind Bio-Dokus nicht immer die spannendsten Theatergeschichten, und so ist doch für Auge und Ohr einiges geboten – ganz wie beim Original-Palmer.
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Ein politischer Entertainer, origineller Marktschreier und Aktionskünstler, der permanent erfolgreich scheitert. Oder war er doch nur wie ein kleines gekränktes Kind auf der Suche nach Aufmerksamkeit?
Eins scheint sicher: Seine Gegner haben ihn lieber für verrückt erklärt und mal wieder zu einem Bußgeld verknackt, als sich inhaltlich mit ihm auseinander zu setzen.
Und so zeigt das Stück ständig einen anderen Palmer. Die Regie lässt ihn viel reden (und singen), macht aber die wahre Stimmung über die Musik (Dominik Dittrich), mit der Palmer seine Botschaften in schmissigen, traurigen, selbstmitleidigen, sakral-märtyrerhaften Songs, Rezitativen, Knast-Elegien, Motivationsschlagern oder Yes-We-Can-Cheerliedern an den Mann bringt. Mal ist das Stück Musicalparodie und mal politisches Krippenspiel, in dem Palmer zu sakraler Heilsmusik sein Kreuz gen Hohenasperg schleppt.
Dann zeigt er sich plötzlich wieder ganz pragmatisch und schwäbisch verspießt, als kleingeistiger Moralapostel und intoleranter Toleranzprediger. Inhaltlich durchaus ein Visionär und Vordenker, geht er gegen Plastiktüten, Atomkraft, zu hohe Leitplanken und Bordsteine vor.
Gerne hätte man noch mehr über seine konkreten Visionen erfahren, aber dem Stück geht es mehr um Palmers Persönlichkeiten.
Diese teilen Laura Sauer, Patrick Schnicke, Lukas Umlauft und Raphael Westermeier unter sich auf, singen und agieren dabei ganz hervorragend und gefühlvoll mit ihren ausdrucksstarken Palmer-Puppen, die als Klappmäuler sowohl Comedy als auch Charakterkopf können: Alle vier Palmer schaffen es, unheimlich traurig, zerknittert, verzweifelt dreinzublicken, aber auch mit vollem Körpereinsatz für die gute Sache (und das Land) zu kämpfen, zu singen und zu trommeln, sich als KZ-Häftling oder als Talarträger mit Hakenkreuzbinde auf seinen Marktplatz zu stellen und Generalanklage zu betreiben, zwischen all den Obstkisten, Akten, Flugblättern und Chaos auf der Bühne (Michael Köpke) ihre Wut herauszuschreien, oder auf den Baum zu klettern und den Unterschied zwischen „Führerschnitt“ und „Direkt-Demokratie-Schnitt zu erläutern“: schöne Bilder, auch weil die Puppen sehr wandlungsfähig sind und als Nazi-Richter oder Polizisten ebenfalls tolle Figuren abgeben. ...
Schwäbisches Tagblatt, 16. Februar 2015
(von Wilhelm Triebold)
Ein Stück über die Tragik und Größe des Helmut Palmer – kann das gut gehen? Das Landestheater Tübingen erzählt mit dem Puppensingspiel „Palmer – Zur Liebe verdammt fürs Vaterland“ vom Scheitern
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Wie bringt man eine schillernd gespaltene Persönlichkeit, begabt mit politischem Gespür, aber auch zum steten Ausrasten, auf die Bühne? Regisseur Gernot Grünewald und LTT-Dramaturgin Kerstin Grübmeyer, die aus jeder Menge Palmer-O-Ton eine Fassung zusammengebastelt haben, entscheiden sich für eine weiterführende Frage: „Wer ist er – und wenn ja, wie viele?“ Also zählen sie durch und kommen auf vier Helmut-Palmer-Wesenzüge, die sie gerecht auf ein Schauspieler-Quartett verteilen. Und weil das Vorbild ja oft genug außer sich geriet, wird der ganze Schwerpunkt von der Darsteller-Seele nun dahin ausgelagert, wie laut Kleist sowieso Wahrheit und Grazie wohnen: ins Figurentheater.
Gleich vier Klappmaulpuppen im Helmut-Palmer-Look durchleben und durchleiden nun die Palmer-Mission und Palmer-Passion. Das sind genügend Distanz schaffende Brechungen eines Komplexes, in dem auf Biegen und Brechen (und dabei mehr aufs Brechen als auf Verbogenwerden), doch letztlich trostlos in die Politik gedrängt wird. Vor allem der Mittelteil des eindreiviertelstündigen Theaterabends beschäftigt sich eindrücklich, manchmal sogar ergreifend mit dem tief empfundenen Martyrium, das der unnachgiebige Delinquent Palmer in den Fängen von dumpfem Volk und oberfauler Justiz durchsteht. Schließlich gerät er mit nahezu allen überkreuz und trägt auch sein Kreuz, nur die Ehefrau hält tapfer zu ihm..
Die Vier auf der LTT-Bühne, bestehend aus Laura Sauer, Patrick Schnicke, Lukas Umlauft und Raphael Westermeier, hantieren recht umsichtig und hochkonzentriert mit den Klappmaulpuppen. Singen müssen sie dabei auch, denn das Landestheater kreiert mit der Uraufführung gleich ein neues Genre, das „Political“.
Schwarzwälder Bote, 16. Februar 2015
Helmut Palmer lässt die Puppen tanzen
(von Christoph Holbein)
Theatralische Hommage auf den »Remstal-Rebellen« am LTT gerät zur großen politischen Ein-Mann-Show mit Tempo und Witz
Ein bisschen Polit-Satire, ein bisschen musikalische Revue, ein bisschen Musical und Operette, ein bisschen Kasperle-Theater und vor allem ein bisschen Muppet Show: Die Uraufführung »Palmer – Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland« am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) entwickelt sich in der LTT-Werkstatt zu einem Puppenspiel der besonderen Art. ...
Zehn Jahre nach seinem Tod 2004 entsteht dabei ein Abend in einer eigens dafür entworfenen Form des Theaters: einem neuen Genre in einer Mischung aus Puppenspiel, Musical und politischem Theater.
Wenn der Zuschauer den Raum betritt, empfängt ihn eine Mauer aus Obstkisten – ein Hinweis des Bühnenbilds von Michael Köpke auf den streitbaren Kämpfer für den richtigen Obstbaumschnitt, womit Palmer seit den 1950er- Jahren im Schwabenland auf sich aufmerksam machte. Aus den Lautsprechern tönen Originalaufnahmen Palmers von seinen Reden gegen Behördenwillkür und Beamtentum in der Politik, für direkte Demokratie und gegen das Vergessen der Nazi-Verbrechen. Der Tenor ist dem Publikum sofort offenbart: »Die Welt wäre ein wenig ärmer ohne Palmer.«
Dann erwecken die vier Schauspieler ihre Puppen zum Leben, die sie während des gesamten Abends als Palmer-Alter-Egos mit organischen Bewegungen fein erarbeitet und detailgenau führen, um in der Kombination Mensch und Puppe den Protagonisten zu verkörpern und den leidenschaftlichen Lebensmonolog des Rebellen singend zu erzählen. Der Komponist und musikalische Leiter Dominik Dittrich hat dafür aus den Motiven und Themen die Musik für den Abend gestrickt.
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Das Political ist eine Hommage auf Palmer, die streckenweise komödiantisch und slapstickartig doch sehr einseitig, vielleicht sogar unkritisch, den Rebellen in äußerst positivem Licht zeichnet, vor allem in seinen Opfern, die er auf sich genommen hat. Die Bilder sind plakativ, intensiv, provokativ, brutal – bis hin zur niederknüppelnden, blutigen Polizeigewalt im Gefängnis: »Das ist mein Land, das ich liebe, aber das ist nicht mein Staat.«
»Palmer – Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland« polarisiert: hier der Gutmensch Palmer, dort das die Rechtsskandale zulassende und ihn als Jude, den man vergessen habe zu vergasen, beschimpfende Volk: »Schlimmer als das Verbrechen ist nur die Dummheit.« Das ist wie eine Revue choreografiert, als Klage an das »feige Bürgerpack« eines tragischen Helden, der trotz seiner Aufmüpfigkeit und Rebellion nie zu Gewalt, zu Waffen und Bomben gegriffen hat in der Epoche des RAF-Terrors.
Palmer, ein Mensch, der Anerkennung wollte und sich immer missverstanden fühlte. Das LTT-Stück bezieht politisch eindeutig Stellung – intensiv und mitunter auch anstrengend – eben so widersprüchlich und sperrig, wie Helmut Palmer war.
Waiblinger Kreiszeitung, 16. Februar 2015
Palmers posthumer Theatertriumph
(von Peter Schwarz)
Ein Bühnenstück mit Helmut Palmer als singende, tanzende Puppe in vierfacher Ausfertigung – kann das klappen? Mehr als das: Wer‘s gesehen hat, kann sich’s anders nicht mehr vorstellen. Der Remstalrebell hat am Freitag im Landestheater Tübingen einen posthumen Triumph gefeiert.
Es beginnt mit einem schamanistischen Moment, einem theatermagischen Schöpfungsakt. Vier Schauspieler erwecken einen schlaffen Sack Kleider zum Leben – der Puppenkörper richtet sich auf, reckt und strafft sich, hebt den Kopf. Und Orientierung suchend umher blickt: Helmut Palmer, mit riesig klaffendem Mund, das Gesicht karikaturesk vergröbert und zugleich staunenswert nah am Original.
Was folgt, ist eine theatralische Tour de Force mit blasenden Windmaschinen, fliegenden Äpfeln, Bäumen auf Rädern und übermannsgroßem Hakenkreuz, da wird getrommelt, gesungen und geprügelt – und heraus kommt, man staune, doch nicht bloß ein Spektakel, sondern eine dichte Lebenserzählung mit ganz eigenem Rhythmus zwischen brodelnder Action und – jawohl: – ergreifend stillen Momenten. Vier Schauspieler, drei Männer, eine Frau, lassen die Palmerpuppen tanzen; singen seine in Büchern, Inseraten, Pamphleten niedergelegten Worte; zelebrieren einen furiosen Vierfachmonolog: von der Kindheit als unehelicher Sohn eines jüdischen Vaters über die lebensprägende Begegnung mit der Schweizer Basisdemokratie, den Württembergischen Obstbaukrieg und tosende Wahlkampfschlachten bis hin zu Gerichtsprozessen und Gefängnisqualen.
Manchmal beherrscht nur ein Palmer die Szene, manchmal toben sie sich alle zusammen aus, vier Palmers hacken auf vier Schreibmaschinen ein, verfassen Briefe an Gorbatschow und Kohl, die RAF („Meine Bombe ist die Rede“) und den „Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Blut und Boden – Sie sind die größte Mehrwegflasche von Baden-Württemberg“, und alle vier Palmers führen eine vogelwilde Choreografie auf, zelebrieren einen grandios durchgeknallten Musicalmoment, wenn sie im Chor miteinander singen, mit vierfach erhobener Faust, vierfach wiegenden Hüften, vierfach klaffendem Mund: „Ich bin zur Liebe verdammt fürs Schwabenland!“
Stupender Inszenierungs-Clou: Auch alle anderen Personen werden durchweg nur von den Palmerpuppen dargestellt; die Mitschüler im Geradstetten der 30er Jahre zum Beispiel, die auf Lehrers Frage „Wer ist schuld am Krieg?“ brüllen: „Die Juden!“ Oder Gattin Erika – ein Helmut mit übergestülpter Blondhaarperücke. Ein Palmer im Richtertalar sitzt hoch oben auf einem Obstkistenthron, während tief unter ihm ein Palmer mit Judenstern am Anzug steht. „Adenauerbanditen“, schimpft der unten, 20 Mark Strafe, dröhnt der oben, „Lügenbeutel!“, 30 Mark, „Arschloch!“, 150, „Nazi!“, sechs Monate ohne Bewährung ... Und wenn drei Palmers mit Polizistenmützen den vierten jagen, wenn er mit aberwitzigen Känguru-Sätzen vorauseilt und sie ihm schlagstockschwingend hinterdrein, dann pulsiert das vor Slapstickschwung – und ist zugleich von bedrängender physischer Wucht.
Seine Egomanie und seine Selbstlosigkeit, sein massenhypnotisches Charisma und seine Einsamkeit: All das wird geradezu körperlich spürbar in dieser Inszenierung, die dem Theater-Affen hemmungslos Zucker gibt, ohne sich in bloßer Effekthascherei zu verlieren. Seine pathetische Maßlosigkeit – „alles, was heute Schlechtes geschieht, wäre nach meinen Ideen vermeidbar gewesen, mein Idealismus und meine Opferbereitschaft sind einmalig in Deutschland“ – fehlt ebenso wenig wie sein genial grober Witz: „In Tübingen könnte man alle vier Wochen Volkstrauertag machen vor lauter Dummheit.“
Rauschender Beifall am Ende. ...
Vier singende Puppen? Was zunächst erschien wie die irrste Idee, wirkt im Nachhinein wie die einzig mögliche, um diesem aus allen Nähten platzenden Leben gerecht zu werden. Dieses Stück: Es war von allem zu viel – und deshalb gerade genug; war maßlos übertrieben – und eben darum genau richtig dosiert. Doch, sagt Erika Palmer, stimmt schon: So war er.
dpa/Stuttgarter Zeitung, 14. Februar 2015
"Remstal-Rebell" Palmer an der Strippe
(von Nico Andel)
Obstbauer mit Weitblick oder Weltverbesserer ohne Bodenhaftung? Der „Remstal-Rebell“ Helmut Palmer verkörpert Gegensätze wie kein Anderer. Das Leben und Denken Palmers, der 2004 im Alter von 74 Jahren gestorben war, wird in seiner langjährigen Heimat Tübingen auf der Theaterbühne noch einmal ins Rampenlicht gerückt.
Auch dort polarisiert die Figur des Querdenkers. Die Zuschauer sind hin und hergerissen zwischen Sympathie und Unverständnis für den schwäbischen Biedermann.
Das Schauspiel „Palmer - zur Liebe verdammt fürs Vaterland“ löst bei seiner Familie, darunter auch Tübingens amtierender Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), dagegen viele Erinnerungen und große Gefühle aus. „Ich bin berührt und begeistert“, sagte der Rathauschef im Anschluss an die Premiere am Freitag am Landestheater in Tübingen. Das Stück sei dicht und authentisch erzählt. Das singende Puppen-Quartett, dem vier Schauspieler ihre Stimme und Mobilität verleihen, überzeugt. Jede Puppe verkörpert eine Facette von Palmer.
Das Schauspiel zeigt den parteilosen Helmut Palmer immer wieder von seiner ungemütlichen Seite: als leicht reizbaren Mann, der scheinbar gerne und oft aneckte. Vor allem, wenn er sich missverstanden oder verfolgt fühlt, fährt er die Ellenbogen aus. Und wehe denen, die sich seinem Kreuzzug für Fairness entgegenstellen. Wenn die „Willkür“ der Behörden mal wieder zugeschlagen hat, zeigt sich die Figur Palmers zunächst aufbrausend, dann stellenweise resignierend. Doch dann schlägt der wieder zurück: mit unverhohlener Wortgewalt, mal frech, mal bissig und - dem Ende der Vorführung entgegen - immer häufiger mit Tiraden von Beleidigungen, eine böser als die vorherige.
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„Unruhe ist die erste Bürgerpflicht“, ruft das Palmer-Quartett auf der Bühne energisch im Kanon. Es wiederholt den Spruch, mal verunsichert, mal nachdenklich. Schließlich erklingt das Mantra so kraftvoll, dass den Schauspielern fast die Stimmen versagen. Die Dramaturgie lebt vom inneren Konflikt seiner Hauptfigur, der in der Sprache, der musikalischen Begleitung und nicht zuletzt in der Aufspaltung des Charakters zum Vorschein kommt.
Präzise gelenkt von ihren „Strippenziehern“ entfremden sich die Vier voneinander, plappern durcheinander und wenden sich voneinander ab. Dann formen sie wieder eine Einheit, singen im Chor und tanzen synchron.
In den wenigen Momenten, in den sich die Figur Palmers verwundbar zeigt, tritt Ehefrau Erika, ebenfalls gespielt von einer Puppe, als Stimme der Vernunft auf. Stets einfühlsam und mit erschöpftem Ton appelliert sie inständig an ihren Ehemann.
In feingestrickten Dialogen offenbart die Figur eine nachdenkliche Seite, in der Helmut Palmer zutiefst missverstanden und paranoid dargestellt wird. Die echte Erika beobachtet das Treiben gespannt aus dem Publikum. Bei den vergeblichen Versuchen ihres Bühnen-Ichs, den stoischen Gatten zur Räson zu bringen, scheint sie sich lächelnd wiederzuerkennen.
Nachtkritik.de, 14. Februar 2015
(von Elisabeth Maier)
Das Veredeln eines Obstbaums war für ihn wie ein Liebesakt. In unzähligen Kommunen kandidierte Helmut Palmer als Bürgermeister. In Schwäbisch Hall hätte es der Querkopf mit 40,1 Prozent im ersten Wahlgang fast geschafft, doch dann setzte eine Hetzkampagne ein. Das Landestheater Tübingen (LTT) erinnert nun mit "Palmer - Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland" an den "Remstal-Rebell", der für den richtigen Obstbaumschnitt und gegen das Vergessen der NS-Verbrechen kämpfte. Das "Political" von Gernot Grünewald und Kerstin Grübmeyer berührt zutiefst.
... Mit musikalischem Figurenspiel gelingt der Inszenierung das Kunststück, Dokumenten Leben einzuhauchen. Dem Original täuschend echt nachempfundene Puppen zeigen Palmer als Obstbauern im roten Overall, Staatsmann im Anzug vor Wahlplakaten und Sterbenden. Mit Sabine Effmert haben die Schauspieler gelernt, die fast lebensgroßen Puppen großartig zu führen.
In Michael Köpkes Raum voll gestapelter Obstkisten entfalten sie ein Szenario, das dramaturgisch stimmt. Und das, obwohl der Text über weite Strecken aus Palmer-Zitaten und Texten der Anzeigen besteht, die er in Zeitungen veröffentlichte – die Kosten dafür fraßen das Vermögen der Familie auf. ...
Dominik Dittrichs Musik verknüpft virtuos den "Spätzle-Song", der das Zeug zum Ohrwurm hat, mit dem Finale, das den Rebellen zur Rock-Ikone stilisiert. Grünewald spielt mit Formen des Musicals, ohne die politische Schlagkraft des Stoffs auszudünnen. Dafür sorgen die Schauspieler, die jeweils ihren eigenen Palmer erschaffen. Patrick Schnicke lässt den Staatsmann mit klugen Einsichten in die Kommunal-, Landes- und Bundespolitik um Stimmen ringen. Auf allen politischen Ebenen scheiterte er beim Einzug in Parlamente. Wegen seiner cholerischen Ausbrüche wollten ihn Konkurrenten für verrückt erklären lassen. Raphael Westermeier peitscht seine Puppe in diese einsame Wut hinein. Tiefe Momente gelingen Lukas Umlauft, wenn er Palmer die Maske des Polterers vom Gesicht zerrt. Betörend schön singt Laura Sauer von der Verzweiflung der Ehefrau, deren Lebensglück der Querulant opferte.
Feinsinnig komponiert ist dieses Palmer-Political. Mit Fingerspitzengefühl nähern sich Grünewald und Grübmeyer dem widersprüchlichen Zeitgenossen an. Schaurig-schön sticht ihr kluger Blick von außen ins schwäbische Herz. ...
Die gesamte Kritik können Sie hier nachlesen: nachtkritik.de
Rems-Murr Rundschau / Waiblinger Kreiszeitung, 27. Dezember 2014
(von Peter Schwarz)
Das Landestheater Tübingen bringt den Remstal-Rebellen auf die Bühne: Als singende Puppe in vierfacher Ausfertigung.
Sie hatten ja alle überhaupt keine Ahnung. Der Intendant war noch nie von Palmer als Halbnazi beschimpft worden, die Dramaturgin hatte nie erlebt, wie er den Tübinger Wochenmarkt in eine Volkstheaterbühne verwandelte mit übers Obst und Gemüse hinausschießenden Wutmonologen, dem Regisseur war nie ein Fax mit Palmers zornesschräger Handschrift - Verteiler: an alle! – ins Büro gerattert. Sie alle: Leute aus einer anderen Generation. Aus Berlin zugewandert, aus Hamburg. Vielleicht ist genau das die allerbeste Startposition für so ein Projekt: Was sehen Menschen, ungeplagt von altem Brass, aber auch ohne Hang zur Verklärung, die sich diesem einzigartigen Charakterschädel erstmals nähern und noch ganz unbefangen staunen können?
Es begann damit, dass einer die Tübinger Theatermacher fragte: Wusstet ihr eigentlich, dass der Vater von eurem OB mal im Knast saß? Wussten sie nicht. Aber als sie sich umhörten, stellten sie fest: „Frappierend – jeder, wirklich jeder hat eine Begegnung, eine Anekdote mit Palmer zu erzählen“, vom Uni-Professor über die Marktfrau bis zum Bühnentechniker.
Sie begannen sich einzulesen, Bücher über, Bücher von Palmer. Regisseur Gernot Grünewald musste bei der Lektüre manchmal „nur lachen, dass sich jemand so echauffieren kann. Ganz ehrlich, am Anfang hatte ich extrem stark das Gefühl, da ist ein solcher Narzisst am Werk, dass er mir zutiefst unsympathisch ist.“ Und welch eine „wahnsinnige Hybris“ blies sich da bisweilen auf – „wie kann jemand so Sätze sagen wie: Alles wäre vermeidbar gewesen, wenn nur alle nach meinen Ideen gehandelt hätten!“ Aber hatte diese Figur nicht auch „tragisches Potenzial“? Da war einer, der immer wieder „extrem gute, kluge Ansätze“ fand – und es ebenso regelmäßig schaffte, durch „cholerische Anfälle“ selbst Wohlgesonnene zu vergraulen.
Er war, findet Dramaturgin Kerstin Grübmeyer, „der erste Wutbürger, bevor es den Begriff überhaupt gab“. Diese „wahnsinnige Energie, dieses Widerständige finde ich sehr spannend“ – zugleich kann „man auch die Kehrseite erkennen, wozu so eine Verhärtung führt“. Ähnlich zwiegesichtig empfindet sie Palmers „Einzelgängertum“. Da stand sich einer selbst im Weg, weil er partout keine taktischen Allianzen schmieden konnte und jeden Kompromiss als faul empfand. Andererseits: „Kein Mitläufer!“ Grübmeyer bewundert diesen „Mut, die Unbeugsamkeit“: Palmer brauchte nie den sumpfig warmen Sog der Masse, in dem sich’s mitschwimmen, mitschreien und leicht stark sein lässt. Er hätte sich so einer „grässlichen Pegida-Demonstration“ mitten in den Weg gestellt, „mit angepapptem Judenstern, und hätte sie angeschimpft!“
Wie bändigt man diesen überbordenden Stoff? Einen Schauspieler den Palmer geben lassen, wie er von Lebens- zu Lebensstation eilt? Das wäre inszenatorisch so altbacken wie kurzatmig; und so fleißig sich ein Bühnen-Palmer auch imitativ abrackerte, das Publikum würde ja doch nur sagen: „Ich hab ihn gekannt – er war ganz anders.“
Verschiedene Personen auftreten und erzählen, den Ächter tadeln, den Verehrer loben lassen, wie Palmer war, ordentlich aufgeräumt, historisch gerecht? Ein „biederer Erklärabend“ käme heraus. Dabei hatte Palmer doch solch „theatralische“ Kraft – Grünewald erschaudert schwärmerisch: „Ich schultere ein Holzkreuz und laufe auf den Hohenasperg! Ich stelle mich mit einer Trommel auf den Marktplatz in KZ-Kleidung! So aktionskünstlermäßig!“
Als Palmers markantesten Zug empfanden die Theaterleute seine „Art, immer reden zu müssen“. Ob im Wahlkampf, auf dem Markt oder vor Gericht: Überall schäumte „sein unfassbares Bedürfnis, sich zu äußern“ – also beschlossen sie: Wir benutzen nur Texte von ihm selber und montieren sie zu einem „Lebensmonolog“.
Dabei müsste aber das Übergischtende dieses Charakters spürbar werden, „wild, anarchisch“ müsste es zugehen, nach dem Motto: von allem „zu viel und immer ein bisschen zu laut“. Wie kriegt man das hin? Wir nehmen, beschlossen die Tübinger, keinen Schauspieler – wir nehmen eine Puppe. Eine Puppe, die genau aussieht wie Palmer!
Denn eine Puppe wirkt stimmig auch an Stellen, bei denen man einem Schauspieler sagen müsste, jetzt trag doch bitte nicht so unglaubwürdig dick auf: Sie darf „unglaublich frech sein“, auch „penetrant“ und bisweilen „extrem pathetisch“.
Und Achtung, die Puppe redet nicht nur – sie singt auch! Das lädt selbst Passagen, die im Original „latent banal“ sind, mit absurder Kraft auf, betont die „groteske Qualität“ dieser Texte. Man hört sie wie neu.
Und Moment. Nicht eine Puppe. Vier! Vier Helmut Palmers, meist gleichzeitig auf der Bühne, miteinander singend, bisweilen gegeneinander kämpfend – denn dieser Mensch verkörperte fast so etwas wie ein „multiples Prinzip“: Er war ein lebenslang Gekränkter, gequält von vermeintlichem und wirklichem Antisemitismus, er war ein lebenslang Begeisterter, immer getrieben von einer „ganz großen Idee, einer Mission“, er konnte „manisch und auch wahnhaft“ wirken und in der Natur, bei den Bäumen, zu beseelter Ruhe finden.
Mag sein, dass Palmer selig das alles so nicht recht gefallen hätte. Vielleicht hätte er gesagt: Diese Theaterleute sind das Anbrunzen nicht wert. Womöglich aber hätte er auch erkannt: Ein stinknormales Stück würde ihm doch nie gerecht.