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Abenteuerstück nach dem Roman von Jack London · Bühnenfassung von Annette Müller
Uraufführung
10+
Reutlinger Nachrichten, 7. Juni 2017
(von Kathrin Kipp)
Das Junge Landestheater Tübingen bringt Jack Londons Roman „Ruf der Wildnis“ auf die Bühne. Regisseurin Annette Müller inszeniert das Ganze als eine Art Hundegeschichte.
Das Junge LTT lockt in die Wildnis: Nach dem Roman von Jack London (1876 bis 1916) bringt Regisseurin Annette Müller eine vielschichtige Hundegeschichte über den Natur-Kultur-Komplex auf die Bühne.
Der Mischlingshund Buck wird 1897 als Arbeitstier nach Alaska verschleppt, wo er sich der Gewalt der brutalen Menschen und der anderen Schlittenhunde beugen muss. Aber was nicht tötet, härtet bekanntlich ab. Und so durchläuft er zwischen Schinderei, blutigen Rangfolgekämpfen und unter wechselnden Herren eine erfolgreiche Karriere vom Schlittensklaven und Mitläuferhund zum Leithund. Als solcher gerät er in eine Katastrophe, wird von John Thornton gerettet und erfährt zum ersten Mal in seinem Hundeleben wahre Liebe. Gleichzeitig verspürt er aber den „Ruf der Wildnis“: ein Leben als unverbogenes, unzivilisiertes und atavistisches Naturwesen. Und so schließt er sich letztendlich einem Wolfsrudel an, wo er absolute Freiheit und „authentisches“ Hundsein leben kann – was auch immer das bedeuten mag.
Wir sollten „die Natur respektieren. Sonst wird sie sich rächen“, heißt es am Ende der LTT-Inszenierung. Das kann natürlich jeder unterschreiben. Aber dann flüstert Andreas Laufer als Erzähler ein gruseliges und provozierendes „Wir sollten nicht versuchen, das Wilde zu zerstören“ und: „Wir alle sind Tiere“ ins Mikro. So mündet die Geschichte in eine recht sozialdarwinistisch-biologistische These. Wo man sich ja schon vorher nicht ganz sicher war, wie man Bucks Entwicklung und Identitätsfindung zu deuten und zu bewerten hat. Und so lässt einen das Stück mit vielen Fragen zurück. Sind wir Menschen denn nicht sowieso schon viel zu wild? Denn als Satire auf den Raubtierkapitalismus mit Umweltzerstörung, blutigen Macht- und Revierkriegen, Hass und Ausbeutung taugt die Story allemal.
Annette Müller (Regie), Oliver Kostecka (Ausstattung), Michael Lohmann (Musik) und Susanne Schmitt (Dramaturgie) haben jedenfalls mit vielen tollen Ideen ein sehenswertes und trotz aller Gewalt und Dramatik auch lustiges und selbstironisches Erzähltheaterstück kreiert: eine gehaltvolle Natur-Kultur-Diskussionsgrundlage für Schüler ab zehn Jahren. Die steile „Wir sind alle Tiere“-These wird auch sofort wieder unterlaufen, indem Rupert Hausner als indianischer Wolf und Henry Braun als renaturierter Buck in ihrem multifunktionellen, gläsernen Drehkasten sitzen und als archaisches Wolfsrudel anfangen, Höhlenmalerei zu betreiben – und damit eben jenen Übergang zwischen Natur und Kultur zu markieren, den die Menschheit in ihrer Entwicklung vorgenommen hat, auch wenn sie immer wieder böse Rückfälle in zerstörerische unzivilisierte Zustände erleidet. Und am Ende sich vermutlich selbst ausrottet. Aber sei‘s drum.
Die drei Schauspieler wechseln sich ab mit Erzählen und spielen mal mit, mal ohne Masken sehr wütende und aggressive, aber auch lebenslustige und gütige Hunde und Männer. Andreas Laufer zeigt sich als brutaler Leithund Spitz „falsch, durchtrieben und hinterlistig“, Henry Braun spielt mit kindlichem Enthusiasmus den schlauen und zähen Buck, der beschließt, sich den grenzwertigen Gegebenheiten anzupassen, weil ansonsten der eisige Tod droht. Und wird dadurch selbst ein doofer Leithund.
Die Devise heißt: Unterordnen, Hass und Demütigung aushalten, Kraft demonstrieren, Koalitionen bilden, unterschwellige Revolten und Intrigen anzetteln, die Solidarität im Hunde-Team auflösen. Es kommt zu Leistungsdruck und Erschöpfung bis zum Burnout: Zustände also wie in fast jedem normalen Arbeits-Team im menschlichen Universum. Das Junge LTT bebildert dieses Treiben kreativ und abwechslungsreich mit Schnee, atmosphärischen Filmprojektionen, lustigen Choreographien und antiken Requisiten vor schwarz-weißer Bühnenoptik. Zu aggressiver Punkmusik kommt es mit viel Fingerfarbenblut zu blutigen Kämpfen, es wird gebellt, gebissen, geknurrt, gerauft, geschwitzt, gehungert und geknuddelt. Und wenn sich das Leben mal von seiner lieblichen Seite zeigt, steuert Rupert Hausner sanfte Gitarren-Klänge bei. Als besserwisserischer Südstaatler „Hell“ – „I‘m from heaven“ – liefert er außerdem eine Parodie auf Donald Trump ab – „Ich glaube nicht an Klimaerwärmung“ –, der ohne Sinn und Verstand durchs schmelzende Eis will – ein Himmelfahrtskommando. Naja, wenn man sich das so anschaut: Vielleicht sind wir ja doch alle Tiere.
Schwäbisches Tagblatt, 15. Mai 2017
"Wir Menschen wissen nicht viel vom Wesen der Dinge"
(von Madeleine Wegner)
Mit "Ruf der Wildnis" bringt das Junge LTT ein Abenteuerstück nach dem Klassiker von Jack London auf die Bühne.
Hunde lesen keine Zeitung. Aber Buck ist ein zivilisierter Hund. Auf dem Sofa liegt er lesend in ein Buch vertieft. Ein Hund? Nun, halb Mensch, halb Tier vielleicht. Buck hat es bequem - zumindest bis er unerwartet aus diesem leichten Leben herausgerissen wird und seine Verwandlung einsetzt.
Das Abenteuerstück "Der Ruf der Wildnis" feierte am Samstag im Landestheater Uraufführung und Premiere. Annette Müller hat mit ihrer Bühnenfassung des Romans von Jack London einen Stoff bearbeitet, der heute als der meistgelesene amerikanische Klassiker gilt. Keine leichte Aufgabe, doch ist es durchaus gelungen. Auch dank der drei Schauspieler Henry Braun, der den Hund Buck spielt, sowie Rupert Hausner und Andreas Laufer, die im Laufe des Stücks in zahlreiche Rollen schlüpfen.
Punk-Musik, Popcorn und Pogo machen deutlich: Buck ist in der Welt der Anarchie, dem Herzen der Zivilisation entrissen im Chaos gelandet, vom sonnigen Kalifornien an die Küste Alaskas verschleppt. Hier gilt das Faustrecht, das Recht des Stärkeren - das wird Buck von Anfang an eingebläut. Denn die Machtverhältnisse - ob zwischen Herr und Hund oder unter den Tieren - werden hier mit Schlagstöcken und Zähnen deutlich gemacht. Hier in einer eisigen Welt zwischen Zivilisation und ursprünglicher Wildnis kehren langsam Bucks Urinstinkte zurück. Und er lernt schnell: "Moral muss man sich leisten können."
Hinweise mit moralischem Zeigefinger, die im Stück unerwartet auftauchen - "Der Mensch ist wichtig, aber er ist nicht dazu da, andere Kreaturen zu misshandeln" - sind hingegen unnötig und verschleiern, worum es geht. Jack Londons Roman tastet an der dünnen Schicht zwischen Zivilisation und Natur, zwischen Moral und Gewalt, zwischen Kultur und animalischen Instinkten, zwischen Freiheit und Sicherheit. Der Text rührt mit eindringlicher Kraft an wesentliche Fragen des Lebens. Das Stück greift einige davon auch in Form von Dialogen auf. "Wer bist du?" - "Ich weiß es nicht." "Warum machen wir das?" - "Weil wir Hunde sind und unsere Arbeit lieben." "Sind wir Sklaven?" - "Nein! Arbeitnehmer." Zu hämmernden Hip-Hop-Beats laufen die Schlittenhunde Seite an Seite im Gleichschritt.
Das Stück ist auch eine Metapher auf eine (selbst-)ausbeuterische Arbeitswelt, in der "I love my job" für so manchen armen Hund zum tödlichen Mantra wird. Obwohl der Roman 1903 erschienen ist und in Zeiten des Goldrausches spielt, hat er im Kern nichts an Aktualität verloren.
Die schwarz-weiß gehaltene Bühne, karg wie eine Welt aus Eis und Schnee, kommt ohne viel Schnickschnack aus. Doch es gibt einen begehbaren Schaukasten, der mal Projektionsfläche, mal Begegnungsstätte oder Transportmittel ist (Bühne und Kostüme: Oliver Kostecka). Mit Hundemaske wie auch ohne gelingt den drei Darstellern der Spagat, sodass sich der Zuschauer zu Recht fragen mag: Beobachten wir hier wirklich Tiere mit ihrem arteigenen Verhalten oder sind es nicht vielmehr Hunde wie du und ich, die sich unter Extrembedingungen das Recht des Stärkeren zu eigen machen? "Wir Menschen wissen nicht viel vom Wesen der Dinge", heißt es schließlich.
Doch Bucks Entwicklung geht weiter. Er erfährt zum ersten Mal, was es bedeutet, bedingungslos zu lieben ("Ich will deine Füße lecken. Ich will das Wasser aus deinem Klo saufen."). Beim gewaltsamen Tod seines geliebten Gefährten stellt er fest: "Die Welt der Menschen ist noch grausamer als die der Tiere."
Letztlich ist es der immer lauter werdende "Ruf der Wildnis", der ihn in den Wald lockt, zurück zu seinen Wurzeln, zu einem Rudel von Wölfen, dessen Anführer er wird. Bucks Geschichte strotzt vor Kraft, Willen, Selbstvertrauen und Brutalität. Ob Hund, Herr, Mensch oder Wolf - am Ende folgt zu Recht der Satz: "Wir alle sind Tiere."
Unterm Strich
"Der Ruf der Wildnis" rührt an wesentliche Fragen des Menschseins. Den drei Darstellern gelingt in ihrem Spiel der Spagat zwischen Mensch und Tier. Brutalität und Gewalt des Ausgangsstoffes sind auf der Bühne umsichtig umgesetzt und nicht zuletzt durch humorvolle Szenen und Details abgefedert. Das Abenteuerstück ist für ältere Kinder spannend, aber auch für Erwachsene.
Reutlinger General-Anzeiger, 15. Mai 2017
Welt der Menschen, Welt der Hunde
(von Thomas Morawitzky)
Jack Londons Roman »Ruf der Wildnis« über die Odyssee eines Vierbeiners in Alaska am Jungen LTT
[...] Das Landestheater Tübingen hat dieses Stück nun auf die Bühne gebracht: Dort, im oberen Saal des Theaters, erblickt das Publikum zuerst die Couch, auf der einer liegt und liest; daneben ein großer Kasten mit transparenter Front, der ein Fernsehgerät sein könnte, in den manchmal die Schauspieler hineintreten, um sich zu schlagen, in dem andere Male die verschneiten Landschaften leuchten, durch die die Schlittenhunde ziehen. Der Akt des Lesens auf der Couch scheint eine Verwandlung zu bewirken - denn plötzlich richtet der Leser sich auf und sagt: »Ich bin Buck! Ich bin ein Hund!« Henry Braun, der hier zum Hund wird, wiederholt sein Mantra mehrmals an diesem Abend. Couch und Fernsehkiste wurden von Oliver Kostecka als Antithese der Wildnis in einem Bühnenbild platziert, das eingeschlossen ist von einer chaotischen Einöde aus breiten weißen Pinselschlägen, die sich vor der schwarzen Nacht auftürmen. Wenige Utensilien liegen nahebei - Seile vor allem, und eine Kiste, in die, ganz zu Beginn, der verkaufte Hund hinein gezwungen wird. Annette Müller zeigt in ihrer Inszenierung für das Junge LTT raue Natur und menschliche Zivilisation durchaus nicht als einfache Gegensätze - sie durchdringen sich, und Härte, Grausamkeit gibt es hier wie dort. Jener Moment, in dem Buck in die Kiste gepfercht wird und sich entsetzt wehrt, geht jedoch unter die Haut: »Ein Mann mit einem Knüppel ist das Gesetz« - das muss der Hund lernen. [...]
Schwäbisches Tagblatt, 12. Mai 2017
Es gilt als Gesetz nur das Recht des Stärkeren
(von Susanne Schmitt (LTT-Vorbericht))
Jack Londons "Ruf der Wildnis" hat am morgigen Samstag in der Bühnenversion am Jungen LTT Premiere
Am morgigen Samstag steht die nächste Uraufführung des Jungen LTT auf dem Spielplan: "Ruf der Wildnis", ein Abenteuerstück nach dem Roman von Jack London für junge Menschen ab 10 Jahren. Dramaturgin Susanne Schmitt sprach mit Annette Müller, die das Stück in ihrer eigenen Bearbeitung auf die Bühne bringt. Die in Essen geborene Schauspielerin leitet derzeit das Junge Theater am Hessischen Landestheater Marburg. "Ruf der Wildnis" ist ihre erste Inszenierung am LTT.
Susanne Schmitt: Wie würden Sie Ihre Arbeitsweise bei dieser Produktion beschreiben?
Annette Müller: "Ruf der Wildnis" ist ein Roman, der sehr ausufernd daherkommt. Da muss man sich natürlich entscheiden, welche Aspekte der Geschichte man selbst überhaupt erzählen kann und will. Bereits in diesem Schritt binde ich die Schauspieler mit ein. Wir lesen zu Beginn gemeinsam das ganze Kapitel und sprechen dann darüber: Was ist bei uns hängen geblieben? Welche Themen und Situationen interessieren uns davon? Was hat das mit uns zu tun? Dafür versuche ich, szenische Übersetzungen zu finden. Ich mache ein inhaltliches Angebot und darauf basierend lasse ich die Schauspieler erst mal improvisieren. Die meisten meiner Arbeiten beruhen stark auf Improvisationen. Ich versuche immer, die Spieler in den Prozess mit einzubeziehen, denn schlussendlich müssen sie genau wissen, warum sie was auf der Bühne tun. Dadurch ist die Probenarbeit ein sehr bewegliches Gebilde, auf das ich als Regisseurin dann schnell reagieren muss. Ehrlich gesagt ist das der anstrengendste Teil der Arbeit, weil ich sehr wach sein und genau spüren muss, wohin uns der eingeschlagene Weg führt. Manchmal entstehen plötzlich ganz tolle Dinge, auf die ich dann reagieren kann. Aber ich muss es natürlich auch manchmal aushalten, wenn nichts passiert. Das ist ein ganz wichtiger und normaler Teil meiner kreativen Arbeit.
Das Stück handelt von einem Hund namens Buck, der zur Zeit des Goldrausches in Amerika als Schlittenhund nach Alaska verschleppt wird. Wie geht Buck mit dieser unerwarteten Situation um?
Buck ist ein junger, unerfahrener Hund und anfangs total schockiert über die herrschenden Zustände in Alaska. Das einzige Gesetz, was dort zu gelten scheint, ist das Recht des Stärkeren. Zu Hause gab es immer genug zu fressen, er musste nicht arbeiten und alle haben ihn respektvoll behandelt. In Alaska ist das anders. Aber Buck nimmt sich vor, sich nicht einschüchtern zu lassen und das Überleben schnellstmöglich zu lernen. Er hat keine Ahnung, wie das gehen soll, aber er versucht, sich durch Lernen und genaues Beobachten so gut es geht anzupassen. Vor allem den Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, finde ich bemerkenswert.
Nach und nach erwachen in Buck längst verschüttete Instinkte und er findet zu seiner ursprünglichen, wilden Natur zurück. Wofür steht der "Ruf", dem Buck folgt?
Für mich persönlich symbolisiert der Ruf so etwas wie eine innere Stimme. Anders ausgedrückt vielleicht Intuition, Selbsterfahrung oder auch eine gewisse Form von Spiritualität. Herausfinden, wer man selbst ist, was man vom Leben möchte, wie man sein will. Sich nicht für andere verbiegen. Sich selbst vertrauen, wenn man spürt, dass einem etwas nicht gut tut. Und dann auf die innere Stimme hören und den Mut haben, diese Dinge zu ändern, oder aus den Strukturen, die einem nicht gut tun, auszubrechen. Ich glaube, das ist ein ganz normaler Prozess, den man in seiner Entwicklung mehr oder weniger durchläuft. Aber wie oft hören wir nicht auf unser Bauchgefühl und leben ein Leben, was wir gerne ändern würden? Ich denke, dem Ruf zu folgen, bedeutet im Idealfall, sich selbst zu finden.
Die Geschichte spielt zum größten Teil in eisigen Schneelandschaften. Was werden wir davon im Theater sehen?
Nun ja, der Bühnenraum ist zuallererst schon ein weißer Raum - könnte durchaus eine eingeschneite Landschaft sein. Es liegt jedoch auch ein besonderer Schwerpunkt auf den Innenräumen unseres Protagonisten Buck, deswegen wird der Raum auch manchmal anders überschrieben und genutzt als reine Schneelandschaft. Aber es wird auf jeden Fall schneien! Mehr mag ich nicht verraten, denn bis zur Premiere kann sich auch noch einiges ändern. Spannend wird es in jedem Fall.