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Ein Hörspaziergang
Reutlinger General-Anzeiger, 9. Juni 2020
(von Kathrin Kipp)
Kopfkino – Mit seinem vielstimmigen Audio-Spaziergang »Südstadt-Symphonie« ruft sich das LTT in Erinnerung
Theater während der Coronale, da heißt es, originelle Formen zu finden für eine Kultur ohne Risiko – ein Widerspruch in sich, denn Kultur sollte ja immer ein wenig riskant sein – wenn auch nur für den Geist, versteht sich. Jedenfalls zieht nach dem audiovisuellen Stadtrundgang des Zimmertheaters mit »Freund Hein« jetzt das LTT nach, mit einem akustischen Zug durch die Gemeinde. Genauer gesagt, durch die Tübinger Südstadt.
Der Culture-Fiction-Hörspaziergang »Südstadt-Symphonie« von Laura Guhl und Twyla Zuschneid macht die coronabedingte, sterile Beziehungsarmut in Alltag und Kultur zum Thema: In einer Zukunft nach der sogenannten »Zweiten Aufklärung« haben wir alle gelernt, Abstand voneinander zu nehmen und den keimfreien Alltag zu perfektionieren. Auch in der Umgebung des LTT, das in seiner heutigen Form – wir schreiben das Jahr 2120 – natürlich nicht mehr existiert.
Für Kultur-Nostalgiker gibt es deshalb jetzt einen »Historienrundgang« durch den »Themenpark Southbank« (in Anlehnung ans Londoner Kulturviertel), der akustisch nachvollziehen lässt, wie es war, als im urban-idyllischen Tübinger Vorzeigeparadies noch überall Leben, Begegnung, Geräusch und Musik war.
Der »dreidimensionale« Soundtrack, den die Zuhörer und Theatergänger auf Entzug per MP3-Player auf die Ohren bekommen, wurde designt von Uwe Hinkel. Kaum hat man die Kopfhörer auf, hört man auch schon viele Stimmen, Schritte und Geräusche, die so realistisch wirken, dass man sich ständig umdreht, um zu schauen, ob da auch wirklich keiner ist. Aber es ist kaum ein Mensch zu sehen. Schon gar nicht bei dem Regenwetter der Premiere.
Ungefähr so müssen sich akustische Halluzinationen anfühlen. Und genauso unwirklich kam einem ja auch die Stille in der Welt kurz nach Ausbruch der Pandemie vor. Und vielleicht müssen wir uns ja noch länger auf so ein steriles Leben voller Heim-Kultur und Autokino-Reality einstellen.
Der Hörspiel-Rundgang wurde gesprochen und eingesungen von Florenze Schüssler, Rinaldo Steller, Jens Lamprecht, Elias Popp und Lisan Lantin, die als Kostüm-Ankleiderin Ruth durch den Spaziergang führt und den Zuhörern vor Ohren führt, wie es früher mal war.
Früher waren nicht nur Menschen, sondern sogar Haustiere in der Stadt. Die sind mittlerweile verboten, genauso wie gemeinschaftliche Gesänge: In der menschenleeren Eberhardskirche lauschen wir dem »Donna nobis pacem« – Chorproben waren ja »vor der Zweiten Aufklärung« bekanntlich Superspreader-Ereignisse, ähnlich gefährlich wie das Fußballglotzen in der vollbesetzten Kneipe. Und schon lenkt Ruth den Blick auf den »Pausenhof« am Sternplatz, wo sich beim WM-Finale 2014 nach Mario Götzes entscheidendem Treffer alle selig schwitzend in den Armen lagen. Heute undenkbar. Und so geht es weiter durch die tote Stadt, wo es früher noch Demonstrationen, Biergärten, Lebensmittelläden und Tanzschulen gab, wo man körperliche Nähe noch kultivierte. Der Höhepunkt der Tristesse: der leere Theatersaal. »Warten auf Godot«, sagen die Stimmen.
Nicht erst seit Corona wissen wir: Menschliche Nähe kann gefährlich sein. Kultur auch. Leben sowieso. Der Reiz des Rundgangs mit all seinen banalen Alltagsgeräuschen liegt also eher weniger in der Bewusstmachung, wie anders jetzt alles ist. Dazu braucht’s kein Theater. Der Reiz liegt vielmehr im halluzinatorischen Effekt. In der Verschiebung von Realität. In der Verwirklichung des Unwirklichen. In der akustischen Verfremdung von Alltagsorten: Leere Straßen, die geräuschvoll vermenschlicht werden. Was mal wieder die Frage nach der Echtheit des Ganzen stellt. Wo wir doch sowieso schon alle so verunsichert sind.
Schwäbisches Tagblatt, 7. Juni 2020
Wie ferngesteuert durch die leeren Straßen
(von Dorothee Herrmann)
Mit dem Hörspaziergang „Südstadt-Symphonie“ wagt das Landestheater Tübingen erste Schritte aus dem Corona-Lockdown heraus – und hinein in eine Vergangenheit, in der die körperliche Nähe anderer Menschen noch keine Gefahr war.
Das Solostück ist ja nichts Neues; das Solopublikum umso mehr. In Zeiten des coronabedingten Abstandhaltens schickt das Landestheater Tübingen (LTT) die Zuschauer der ersten Produktion nach dem Lockdown einzeln nacheinander in eine Zukunft, der die Vergangenheit (die pandemiegeschüttelte Gegenwart) unheimlich geworden ist.
Am Samstagnachmittag war Premiere der „Südstadt-Symphonie“, eines fast ausschließlich außerhalb des Theaters erlebbaren Hörstücks, das durch die Straßen und Parks und auch auf Plätze und in sonst öffentlich zugängliche Gebäude der Tübinger Südstadt führte. Vorausgesetzt, man war willens und in der Lage, einen Theaterbesuch unter freiem Himmel und zu Fuß zu absolvieren, und zwar nicht abends, sondern mitten am Nachmittag, sonst Zeit der Vorstellungen für Kinder. Bei kühlem Regenwetter war das gewöhnlich als belebt und bunt bekannte Viertel beinahe so ausgestorben wie in den ersten beiden Lockdown-Wochen ab Mitte März, noch ganz unter dem Eindruck der Merkel-Rede.
Mit Kopfhörern und MP3-Player ausgestattet, trottete man wie ferngesteuert und seltsam abgeschottet durch die Gegend, vor allem wenn man sonst nicht verstöpselt herumläuft. Da half auch die fürsorgliche Stimme nur wenig, die jeden Zuschauer akustisch durch die Route geleitete und beispielsweise vor zugeparkten Ecken oder den neuen lautlosen Fahrzeugen warnte, die in der Zukunft des Stücks üblich sind.
Es handelte sich um Ruth (Lisan Lantin), die sich als ehemalige Ankleiderin vorstellte: „Ich hab’s geliebt, die Arbeit am Theater.“ Auch als sie Reißverschlüsse über schwitzenden Rücken zumachen musste. Solche Formen des Körperkontakts sind ja vorläufig in der realen Welt – es sei denn, man lebt im gleichen Haushalt – nicht zulässig. Im Stück sind sie sogar endgültig vorbei.
Es fühlte sich an, als wäre man Zuschauerin und Darstellerin in einer Person. Letztere manifestierte, dass das Theater im Viertel Spuren hinterlässt, obwohl das Theatergebäude noch fast ganz geschlossen ist. Das reale Stadtquartier schien zum Freilichtmuseum seiner selbst mutiert (Idee, Text und Regie: Laura Guhl).
Im „Themenpark Southbank“ hatte sich das Leben vor Corona abgespielt: „in der Zeit vor der ,Zweiten Aufklärung’, als Menschen leichtfertig ungeheure Infektionsrisiken eingingen“. Sich dort hineinzubegeben, war emotional eine ziemlich ambivalente Erfahrung. Im Hintergrund lauerte nämlich die Unsicherheit, wie lange der Ausnahmezustand in der realen Welt andauern würde, während man gleichzeitig aufmerksam, mitunter sogar angespannt nach vorne spähte: Wo war denn die nächste pinkfarbene Markierung?
Auf regennassem Trottoir oder ebensolcher Fahrbahn war die nicht immer gut zu erkennen. Vor allem, wenn man nicht um 14 Uhr, sondern deutlich später eingestiegen war. Sollte man nun zuhören, auf die Markierungen achten oder die Routenkarte im Programm zu Rate ziehen? Die angekündigte „Alltag-als-Erlebnis-Tour“ war jedenfalls kein leeres Versprechen.
Wie sollte man gleichzeitig mit Maske, Brille, Kopfhörern und Regenschirm hantieren? Fühlte sich so ein Clown oder ein Jongleur, der zu früh in die Manege geschubst worden war? Doch fast wie einst beim HB-Männchen, hielt noch rechtzeitig jemand die Luft an. Vor einem großen Gebäude wurde der mit Maske, Kopfhörern, Brille, Regenschirm, Kugelschreiber und Notizblock kämpfenden Theaterkritikerin (nur zwei Hände) signalisiert, es gehe ohne Maske, man sei ja alleine drinnen. Doch waren einem nun ein paar Wörter oder spezielle Geräusche entgangen?
So konnte trotz der fürsorglichen Anleitung und Begleitung ein gewisses Stresslevel aufkommen – wie sonst auch, wenn man sich in Coronazeiten außerhalb der eigenen Wohnung bewegt und alles mitbedenken muss (wie die Türen aufklinken, wie den Einkauf mit möglichst wenig Maskeneinsätzen absolvieren et cetera).
Und was würde als nächstes kommen? Welche Erleichterung, in einem verlassenen Biergarten hinter ihrer Maske eine LTT-Mitarbeiterin zu erkennen – bevor sich die Ahnung verdichtete, die Tische und Bänke könnten vielleicht doch nicht nur witterungsbedingt unbesetzt sein.
Aber waren die Stimmen im Park real, oder kamen sie aus dem Kopfhörer? Prallten da tatsächlich Bälle gegen den Zaun oder waren das nur die entsprechenden Geräusche? Schon sollte man weitergehen, obwohl die metronomähnlich einem aufs Ohr getaktete Schrittgeschwindigkeit eher gemächlich war. Mehr und mehr konnte man ahnen, wie sich jemand fühlen mag, der Halluzinationen hat (Sound-Design: Uwe Hinkel).
Auch manche Konfrontation im Corona-Alltag spiegelte sich im Theatererlebnis unter Kopfhörern. Etwa wenn es galt, sich an realen Autos vorbeizumanövrieren. Ein fetter, schwarzer SUV mit Esslinger Kennzeichen musste unbedingt durch die Katharinenstraße und dann auch noch ein, freundlich formuliert, Sportfahrer in irgendetwas Weißem, Pseudoschnittigem. Letzterer hasste es offensichtlich, auf verpeilte Fußgänger unter riesigen Kopfhörern achten zu sollen.
So kann jeder Zuschauer den Hörspaziergang noch um eigene Wahrnehmungen unterwegs ergänzen. „Täter prügeln meist daheim. Zuhause bleiben kann tödlich sein“, warnte ein Flugblatt an einem Laternenpfahl am Sternplatz und forderte: „Öffnet die Hotels und die Airbnb-Wohnungen“. Am Rand des Loretto-Viertels erinnerte ein kleines Graffito an „Gugo, die Kultfigur Tübingens in den 2010er Jahren“, in kleiner schwarzer Hängematte dargestellt.
Unterm Strich
Erreicht mit vergleichsweise einfachen Mitteln eine bemerkenswert suggestive Transformation der Gegenwart in eine gespenstische Vergangenheit. Spielt mit dem doppelten Abstand zum Gewohnten, einmal durch Corona, einmal durch die Illusion einer keimfreien Zukunft mit menschenleeren öffentlichen Räumen (auch ohne Haustiere!). Bei schönem Wetter vermutlich weniger spooky.