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Schauspiel nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij, für die Bühne bearbeitet von Gernot Grünewald und Kerstin Grübmeyer, Deutsch von Swetlana Geier
Reutlinger Nachrichten, 8. März 2016
Alles erschien ihm wie ein Traum
(von Otto-Paul Burkhardt)
Ein armer Schlucker hält sich für ein Genie und ermordet "nutzlose" Menschen. Davon erzählt Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne" (1866). Das LTT bringt ihn als Traumspiel in Stummfilm-Art auf die Bühne.
(...)
Ein Zimmerchen mit Tisch und Glühbirne. Ein Menschenkäfig, dessen beklemmende Trostlosigkeit uns suggerieren soll, dass dieser reale, kerkerhafte Winz-Raum Raskolnikows auch gleichzeitig der ähnlich beengte, gefängniszellenartige Fantasie-Raum eines von Entrechtungs- und Allmachts-Obsessionen geplagten Wirrkopfs ist (Bühne: Michael Köpke). Denn Raskolnikow leitet aus erdrückender ökonomischer Ungerechtigkeit für sich ein "Recht auf Verbrechen" ab, das Recht, eine seiner Meinung nach parasitäre "Laus" wie die alte Wucherin und Pfandleiherin zu töten. So ist Raskolnikows Holzkate auch eine Art Wahnsinns- und Terror-Zelle, die völlig isoliert von der Umgebung ständig um sich selbst kreist. Drumherum ist nichts, nur eine dunkle Schotterwüste, nur schwarze Leere. Wenn dieses Zimmer, das ja auch als Elternhaus oder Polizeistation herhalten muss (also für sich auch eine Art kleine Guckkastenbühne ist), wenn dieses Zimmer so gedreht ist, dass es vom Publikum uneinsehbar ist, macht die Regie das Geschehen im Inneren nach Castorf-Art per Filmprojektion live sichtbar.
Die fiebrige Drehbühnen-Hektik, das Springen zwischen Lesen und Spielen, die flimmernden Schwarz-Weiß-Videosequenzen und dann noch die mal treibende, mal plätschernde "Tonspur" mit Klaviermusik - mit all dem schafft die Regie so etwas wie Stummfilm-Atmosphäre.
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Die Inszenierung schafft eine eigenwillig gruselige, kipplige Atmosphäre - hier die Panik der immer schneller rotierenden Raskolnikow-Obsessionen, dort die lähmende Statik der reglosen Masken, die allen angerissenen Romanszenen etwas Grotesk-Gespenstisches verleihen. Und: Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen - der Perspektivwechsel ist permanent. Ist alles ein großer, enden wollender Alptraum? Stark der Einstieg: Raskolnikows Traum von einem Pferd, das von besoffenen Bauern zu Tode geprügelt wird. Michael Ruchter, der einzige Darsteller, der nur eine Rolle - die Hauptrolle - verkörpert, outet sich hier als Mit-Leidender, der den blutigen Pferdekadaver umarmt, sich gleichsam solidarisch mit der gequälten Kreatur einen abgerissenen Menschenkopf aufsetzt und sich nun künftig dahinter verbirgt.
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Ruchter zeichnet diesen Raskolnikow (russisch: der Abgespaltene) recht eindrücklich, soweit es die fixe Maske erlaubt, als zutiefst bedrückte, unsichere, überforderte, hoffnungslose Existenz - und als unselig in sich verkantete Monstermischung aus Opfer und Täter. Dieser Raskolnikow ist Mit-Leidender und kalter Killer, Moralist und Nihilist, gezielter Rächer und wahlloser Totschläger, Angstbesessener und Möchtegern-Übermensch.
Das Gezeigte illustriert bei Grünewald meist nur das Gelesene. Manchmal auch nicht. Doch dieses Fass an Möglichkeiten, womöglich spielerische Kontrapunkte zum Text zu setzen, wollte die Regie nicht aufmachen. Die Masken, sicher, machen es schwer, zu orten, wer da gerade spricht. So kommt Grünewalds Regie oft als Romanlesung mit quasi-pantomimischen Szenen daher - mit hinter starren Masken verborgenen Live-Sprechakten sozusagen. Zudem machen diese großkopfeten Masken noch anderweitig Effekt, weil sie aufgebläht sind, weil sie auch als Horrorgesichter, als geistige Gefängnisse, als Gespenster oder als Schwellköpfe wahrnehmbar sind - äußerlich gefroren, während im brodelnden Inneren alles zerfällt: das Ich, die Moral, die Welt.
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Doch Grünewalds Sicht auf Dostojewkis "Schuld und Sühne" bietet in den besten Momenten eine fesselnde Lesart und wirkt ohne den geringsten Verweis auf heute hoch aktuell. Ein schwer verkopfter Alptraum. Ein Fieber-Szenario zwischen Angstfantasie, Größenwahn und Mord. Ein bedrückendes Traumspiel.
Die Erlösung nach Raskolnikows Verurteilung und achtjähriger Strafe, sie kommt am LTT angenehm unaufgeregt daher: als Läuterung durch Liebe und Geliebtwerden. Raskolnikow und Sonja können endlich ohne Masken, ohne Hirngefängnisse leben. Frei. Doch drumherum liegen sie alle noch: ein Friedhof mit rumpflosen, umgekippten, teils abgerissen wirkenden Kunst-Köpfen - als mahnendes Bild für den überwundenen Horror.
Esslinger Zeitung, 2. März 2016
(von Elisabeth Maier)
Wie einen Horrorfilm aus der Stummfilmzeit hat der Regisseur Gernot Grünewald Fjodor M. Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ am Landestheater Tübingen (LTT) in Szene gesetzt.
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Gernot Grünewalds Ästhetik der Angstträume kommt in der Inszenierung schön zum Tragen. Klug verbindet der Regisseur, der 2015 mit seiner Tübinger Stückentwicklung „Helmut Palmer - Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland“ für den Faust-Theaterpreis nominiert war, Dostojewskis schwer greifbare Gedankenspiele mit einem Thriller, dessen Intensität fasziniert. Mit starken Bildern bricht er das Meisterwerk auf die ebenso berührende wie aktuelle Geschichte eines gebrochen Menschen herunter. Hoch aktuell sind Dostojewskis Aussagen über die Schuld, die Menschen im Lauf ihres Lebens auf sich laden. Die ungerechten ökonomischen Systeme, die jeden zum Verbrecher machen, prangerte der Russe im 19. Jahrhundert ebenso an wie die persönliche Schuld, die der Protagonist Raskolnikow auf sich lädt. Das mag den Dostojewski-Boom erklären, der an deutschen Bühnen zu beobachten ist.
Im Holzverschlag, der Michael Köpkes Bühne prägt, spiegelt die LTT-Inszenierung die Geschichte in einem Maskenspiel, das die Psyche des Mörders nach außen kehrt. Im ersten Bild liegt der abgerissene Kopf eines Mannes auf dem geschotterten Boden. Stürmisch drehen die Schauspieler das leicht gezimmerte Bretterhaus, wenn die Bilder wechseln. Wie in einem Alptraum fängt die Videokamera die brutalen Szenen ein. Das erinnert an die verblichene Ästhetik von Stummfilmen. Da schlägt das Beil auf den Kopf der Pfandleiherin, die zu Boden fällt. Dominik Dittrich unterlegt die Szenen mit Klaviermusik. Langsam steigert die plätschernde Komposition die Emotionen ins Unerträgliche. Gefährlich nahe schrammt Grünewalds insgesamt starke Arbeit am nostalgischen Kitsch vorbei. Mit kühler Distanz lösen die Schauspieler diesen Konflikt aber am Ende auf.
Wie Figuren aus Raskolnikows fiebrigen Fantasien wirken die übergroßen Masken aus Judith Mählers Werkstatt. Mit staunenden Augen blickt der Student, der zum Mörder wird, in eine Welt, die für Genies keinen Platz hat. Energisch lässt Michael Ruchter seine Figur an die Grenzen des engen Bretterverschlags stoßen. Durch die Morde verschafft er sich Freiheit. Dennoch kann er nicht verhindern, dass sich seine Schwester Dunja, die Carolin Schupa bewusst grob in eine Opferrolle zwängt, an reiche Männer verkaufen muss. Als sie der Gutsbesitzer Swidrigajlow, den Daniel Tille in seiner ganzen Kälte zeigt, fast vergewaltigt, wird der Schmerz ihres Lebens in Armut offenbar. Die Lust eines Kriminalisten, Raskolnikows Beweggründe zu entlarven, kitzelt Raphael Westermeier aus der platt überzogenen Rolle heraus. Immer wieder nehmen die Schauspieler die Masken ab, sie zweifeln und zaudern. Das gilt besonders für Franziska Beyers zerbrechliche Hure Sonja, mit der Raskolnikow in Gefangenschaft die Liebe findet. Da spürt er zum ersten Mal, wie sein Herz schmerzt.
Tiefe Momente wie diesen hat der Abend immer wieder. Das Maskenspiel, mit dem sich die Schauspieler sehr bewusst auseinandersetzen, ermöglicht es ihnen, Distanz zu den Figuren zu beziehen. Dadurch bekommt der Abend eine beklemmende Aktualität und ermöglicht ein Nachdenken über Dostojewskis Thesen über einen Menschen, der zum Mörder wird.
Allgäuer Zeitung, 1. März 2016
(von Harald Holstein)
Tübinger Ensemble verwandelt Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ in ein starkes, fesselndes Bühnenstück
Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ ist ein gigantischer Monolith in der Geschichte der Literatur. Kann man so ein riesiges Erzählwerk auf die Bühne bringen? Regisseur Gernot Grünewald zeigt, wie es geht, und schafft mit dem Ensemble des Landestheaters Tübingen auch noch ein großartiges Theatererlebnis – wie jetzt im Theater in Kempten zu sehen war. Zusammen mit Kerstin Grübmeyer hat Grünewald die detaillierte Studie über den verarmten Studenten Raskolnikow, der mal eben so als Experiment einen Mord begeht, zu einer griffigen Parabel zusammengeschmolzen. Raskolnikow will nur testen, ob er ein außergewöhnlicher Mensch ist, der Hindernisse aus dem Weg räumen kann, um Bedeutendes und Großes zu schaffen. Für die Übertragung auf die Bühne benutzt Grünewald essenzielle Theatermittel, welche die Fülle und den Reichtum des Romans eindrucksvoll erhalten. Für seine Inszenierung braucht er nur fünf Schauspieler. Sie treten als Erzähler auf und verwandeln sich mit Hilfe von überlebensgroßen Maskenköpfen in etwa 20 Figuren des Romans. Die naturalistischen Porträts geben dem Raskolnikow (Michael Ruchter), seiner opferbereiten Schwester Dunja (Carolin Schupa), dem erpresserischen Swidrigajlow (Daniel Tille), dem intuitiven Staatsanwalt Porfirij (Raphael Westermeier) und der bedingungslos liebenden Prostituierten Sonja (Franziska Beyer) ein konkretes, individuelles Gesicht. Die jungen Schauspieler ergänzen die Masken hervorragend mit Stimme, Körper und Gesten zu ausdrucksstraken Figuren von mythischer Größe.
Zentrum der sonst leeren Bühne ist ein würfelartiger Bretterverschlag, der enge Kammer, Wirtsstube oder Büro des Staatsanwaltes ist. In atemberaubendem Tempo halten die Schauspieler den Würfel in Bewegung und verwandeln ihn zu den verschiedensten Außen- und Innenräumen. Immer wieder setzen sie die Masken ab, zeigen als Erzähler ihr eigenes Gesicht und schaffen Distanz und Raum zur Beurteilung des Geschehens. Zugleich versteht es Grünewald, die Zuschauer ganz in die Welt des Raskolnikow hineinzuziehen.
Eigens komponierte Musik von Dominik Dittrich – mal minimalistisch treibend, mal romantisch-erdig – und vielfältige Lichtstimmungen schaffen eine Magie, der man sich nicht entziehen kann. Geschickt und sparsam eingesetzte Liveprojektionen mit Videokameras rücken den Betrachter noch näher an die Figuren heran. Vor allem die entscheidenden Aktionen des Raskolnikow sehen die Zuschauer mit seinen Augen. Eine am Bauch angebrachte Kamera zeigt den Mord und Fieberträume aus seiner subjektiven Sicht. Grünewald und den Tübinger Schauspielern ist eine konsequente und stringente Inszenierung gelungen, die über zwei Stunden lang durchgehend fesselt, hypnotisiert und stark berührt. Lang anhaltender und kräftiger Applaus für einen bilderstarken Abend, der noch lange nachwirkt.
Reutlinger Generalanzeiger, 23. Februar 2016
(von Thomas Morawitzky)
Auf »Schuld und Sühne« wird man sich einlassen müssen: Gernot Grünewald inszeniert Dostojewskij am LTT gegen den Strich – und dies mit letztlich beeindruckendem Erfolg. Die Welt im Kopf des Raskolnikow stülpt sich nach außen, wird zum Erzähltheater, zum lebensgroßen Puppenspiel.
Grünewald lässt die Geschichte von Rodion Raskolnikow tatsächlich erzählen, auf der Bühne. Fünf Schauspieler wirken mit an seiner Inszenierung: Michael Ruchter, Franziska Beyer, Carolin Schupa, Daniel Tille, Raphael Westermeier. Sie verteilen sich an den Seiten und sprechen im Wechsel, manchmal zugleich, Zeilen aus Dostojewskijs Roman. Werden sie auch zu Spielern, treten in die Mitte, dann sind sie nicht mehr kenntlich: Sie setzen sich überlebensgroße Masken auf, grotesker Ausdruck von Gefühl und Persönlichkeit, geschaffen für diese Inszenierung von Judith Mähler.
(...)
Das Bühnenbild, das Michael Köpke entwickelte, besteht aus einem Bretterverschlag, nach einer Seite hin offen – er wird zur Behausung des Mörders, zur Wohnung der Pfandleiherin, zum Polizeipräsidium, zur Kneipe. Der Verschlag dreht sich, oft ist das Geschehen den Blicken der Zuschauer verborgen – dann wird es von Kameras aufgenommen und übergroß außen auf die Lattenkonstruktion projiziert.
Eine Kamera kann in Bewegung oder auf ein Stativ montiert sein, eine Kamera befindet sich auf der Brust des Mörders – die radikal subjektive Perspektive. All das erinnert in Konzeption und Ausführung stark an Frank Castorfs Stuttgarter Platonow-Inszenierung und schafft eine ähnliche Dynamik. Am überzeugendsten dann, wenn Raskolnikow träumt, wenn die wackelnden Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Innern seines Verschlags zum quälenden, zitternden Horror werden.
Oft stellt sich, vor allem in der ersten Hälfte des Stücks, das Gefühl ein, dass die Inszenierung den Bildern, die sie so schafft, nicht genügend vertraut – dass zu viel gesprochen, zu viel erzählt, erklärt wird. Über die Dauer von mehr als 130 Minuten hinweg entwickelt »Schuld und Sühne« jedoch beträchtliche Kraft. Immer öfter tritt die suggestive Klaviermusik von Dominik Dittrich an die Stelle der Worte. Und zuletzt wird das verzerrte, geradezu expressionistische, für Augenblicke grotesk komische Bild, das Gernot Grünewald zeichnet, seiner Vorlage auf erstaunliche Weise eben doch gerecht.
Schwarzwälder Bote, 23. Februar 2016
Intensives Maskenspiel voller innerer Dynamik
(von Christoph Holbein)
Inszenierung am LTT Tübingen geht der Frage nach „Schuld und Sühne“ nach
Fünf Schauspieler, aber 18 Figuren: Wie lässt sich das fassen, um der Komplexität des Romans »Schuld und Sühne« von Fjodor Dostojewskij in einem Schauspiel auf der Theaterbühne gerecht zu werden? Regisseur Gernot Grünewald setzt bei seiner Inszenierung des Werks, das er zusammen mit Kerstin Grübmeyer für die Bühne bearbeitet hat, am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) ein originelles Mittel ein: Er steckt seine Schauspieler in ganzköpfige Masken, die Maskenbauerin Judith Mähler mit einer skurrilen Charakteristik versehen hat.
In einem Bretterverschlag, den Michael Köpke als drehbare Guckkastenbühne konzipiert hat und damit den Raum für rasche Szenenwechsel eröffnet, entwickelt sich untermalt von Klaviermusik, für die Dominik Dittrich verantwortlich zeichnet, ein Maskenspiel voller Dynamik, stark inszeniert und dicht dramatisiert mit Live-Videoprojektionen, die projiziert auf Bretterwand und Gardinenvorhang für brachial-intensive Bilderkompositionen sorgen.
Es entsteht damit eine eindringlich-eindrückliche Atmosphäre, die mit der düsteren Thematik des Romans von Dostojewskij korrespondiert: Armut und Tod, Individuum und Gesellschaft, Schuld und Liebe. Die charakteristisch gestalteten Masken erwecken auf den Köpfen ihrer Protagonisten immer neue Figuren zum Leben. Alle fünf Schauspieler – Michael Ruchter, Franziska Beyer, Carolin Schupa, Daniel Tille und Raphael Westermeier – spielen mit hoher Intensität und Glaubwürdigkeit, wobei auch ein gewisser Slapstick nicht fehlt, im flotten Wechsel der Rollen und Szenen. Kraftvoll und mit fein erarbeiteter Körperlichkeit, die Grundlage für eine pointierte Gestik ist, hauchen sie den Gesichtern der Masken trotz deren unbeweglicher Mimik plastisches Leben ein. Dadurch verstärkt sich die Charakteristik der Figuren, was kommuniziert mit der sprachlichen Ausdrucksstärke des Ensembles.
Somit lotet die Inszenierung Grenzen aus, getreu der Hauptfigur, des Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow: »Wenn man eine Grenze erreicht und sie nicht überschreiten kann, wird man unglücklich, wenn man sie überschreitet, vielleicht noch unglücklicher.« In der Dramatik des »Blutvergießens aus Gewissen« ist der Roman faszinierend auf der Bühne umgesetzt und in Bewegung übersetzt – mitunter mit leiser Ironie und mit stillem Witz, sprachlich von den Schauspielern stark interpretiert und in der Maskenführung technisch bestens und entlang der Kompliziertheit der Abläufe absolut sicher verwirklicht. Damit sind die Stimmungen in die Dichte des Spiels verwoben.
Das Tempo der Bewegungen in den Masken ist punktgenau synchronisiert mit den Charakteren der Figuren und der Geschwindigkeit der Szenen. Grünewald hat das konsequent durchdacht, schafft damit stilistisch passende und treffende Bilder, schön getimt, voller erschreckender Poesie und doch etwas Hoffnung: „An die Stelle der Dialektik war das Leben getreten.“
Schwäbisches Tagblatt, 22. Februar 2016
(von Wilhelm Triebold)
Das LTT nimmt sich Hesse und Dostojewski zur Brust: Eine Reise zu den lichten Höhen und in die Abgründe des Erzähl-Theaters
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Regisseur Gernot Grünewald, der im LTT beim Political „Palmer – zur Liebe verdammt fürs Schwabenland“ bereits die Puppen tanzen ließ, hat sich für den Dostojewski-Roman jetzt wiederum ein düsteres Puppenspiel einfallen lassen. Und Grünewald mag es, wenn „Schauspieler Erzähler von Geschichten sind und weniger eine geschlossene Figur einen ganzen Theaterabend behaupten müssen,“
An solch mangelndem Behauptungswillen und Stehvermögen krankt dann auch dieser ganze Abend. Die Kopfgeburt, den Schauspielern (die im Idealfall selbst „Gefäß“ der Theater-Übereinkunft sein dürfen) überlebensgroße Maskenschädel aufzubürden und sie ihnen wie einen Nachttopf überzustülpen, ist erstmal ein Hingucker, trägt aber nicht besonders. Ein Kunstkniff, der zur Erstarrung, nicht zur weiteren Erkenntnis führt.
Außerdem wird doppelt gemoppelt. Das Geschehen rund um die Bretter(dreh)bühne verhält sich wie ein Echtzeitecho zu dem Bericht, der unter die übrigen Schauspielern verteilt wird: Kaum erzählen sie von dem Beil, das der Möchtegernmörder Raskolnikow gleich ergreift, nimmt er es prompt in die Hand. Kaum kündigen sie an, der Arzt werde jetzt im Guckkasten-Verschlag den Puls fühlen, sucht der sogleich nach dem passenden Handgelenk.
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Für Abwechslung sorgen immerhin gelegentliche Perspektivwechsel, erzeugt per wackelig-grieseliger Kameraführung, deren Angstbilder dann dekorativ an die Bretterwand projiziert werden.
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Nachtkritik.de, 21. Februar 2016
(von Elisabeth Maier)
Gernot Grünewald inszeniert Dostojewskijs Roman am LTT Tübingen als Maskenspiel
(...) Fünf Spieler verkörpern 20 Rollen. An Mikrofonen sprechen sie Passagen des Klassikers, der im Jahr 1866 erschienen ist. Düster und schwer klingt die epische Sprache des Russen, die der Regisseur und seine Dramaturgin Kerstin Grübmeyer in ihrer pointierten Fassung auf die inneren Konflikte des Mörders reduzieren. Kollektives Erzählen ermöglicht einen distanzierten Blick auf die Handlung, die ab und an doch etwas antiquiert wirkt.
Hochaktuell sind jedoch Dostojewskijs Aussagen über die Schuld, die Menschen im Lauf ihres Lebens auf sich laden. Die ungerechten ökonomischen Systeme, die jeden zum Verbrecher machen, prangerte der Russe im 19. Jahrhundert ebenso an wie die persönliche Schuld, die sich mit Raskolnikow, dem Protagonisten des Romans, verbindet. (...)
Im engen Holzverschlag, der Michael Köpkes Bühne prägt, spiegelt sich die Geschichte in einem Maskenspiel, das die Psyche des Mörders nach außen kehrt. Im ersten Bild liegt der abgerissene Kopf eines Mannes auf dem geschotterten Boden. Stürmisch drehen die Schauspieler das leicht gezimmerte Bretterhaus, wenn die Bilder wechseln. Wie in einem Alptraum fängt die Videokamera die brutalen Szenen ein, was zuweilen an die verblichene Ästhetik von Stummfilmen erinnert. Da schlägt das Beil auf den Kopf der Pfandleiherin, die zu Boden fällt. Dominik Dittrich unterlegt die Szenen mit plätschender Klaviermusik, die die Emotionen langsam ins Unerträgliche steigert. Gefährlich nah schrammt Grünewalds insgesamt starke Arbeit am nostalgischen Kitsch vorbei. Mit kühler Distanz lösen die Schauspieler diesen Konflikt aber am Ende auf.
Wie Figuren aus Raskolnikows fiebrigen Fantasien wirken die übergroßen Masken aus Judith Mahlers Werkstatt. Ernüchtert blickt der Student, der zum Mörder wird, in eine Welt, die für Genies keinen Platz hat. Energisch lässt Michael Ruchter seine Figur an die Grenzen des engen Bretterverschlags stoßen. Durch die Morde an der Pfandleiherin und ihrer Schwester versucht er, sich Freiheit zu verschaffen. Dennoch kann er nicht verhindern, dass sich seine Schwester Dunja, die Carolin Schupa bewusst grob in eine Opferrolle zwängt, an reiche Männer verkaufen muss. Als sie vom Gutsbesitzer Swidrigajlow, den Daniel Tille in seiner ganzen Kälte zeigt, fast vergewaltigt wird, offenbart sich der ganze Schmerz ihres Lebens in Armut. Die Lust eines Kriminalisten, Raskolnikows Beweggründe zu entlarven, kitzelt Raphael Westermeier aus der platt überzogenen Rolle heraus. Immer wieder nehmen die Schauspieler die Masken ab, sie zweifeln und zaudern. Das gilt besonders für Franziska Beyers zerbrechliche Hure Sonja, mit der Raskolnikow in Gefangenschaft die Liebe findet. Da spürt er zum ersten Mal, wie sein Herz schmerzt.
Gernot Grünewalds Ästhetik der Angstträume kommt in der Inszenierung schön zum Tragen. Klug verbindet der Regisseur, der 2015 mit seiner Tübinger Stückentwicklung Palmer – Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland für den Faust-Theaterpreis nominiert war, Dostojewskijs schwer greifbare Gedankenspiele mit einem Psychothriller, dessen Intensität berührt. Mit starken Bildern bricht er das intellektuelle Meisterwerk auf die ebenso berührende wie aktuelle Geschichte eines gebrochenen Menschen herunter.