Supertrumpf

Der Tisch und die Stühle sind so groß wie im Haus eines Riesen. Oder so groß wie ganz nah herangezoomt. Das kommt daher, weil Esszimmermöbel in der Familie der neunjährigen Lou (Stefanie Klimkait) und ihrer älteren Schwester Maya (Magdalena Flade) furchtbar wichtig sind - jedenfalls seit Maya magersüchtig ist. Alle sind darauf fixiert, ob die 14-Jährige überhaupt etwas zu sich nimmt, und wenn ja, was.

In dem Jugendstück "Supertrumpf" von Esther Becker (Regie: Marion Schneider-Bast), das am Samstagabend in der Werkstatt des Landestheaters Tübingen Premiere hatte, ist Maya zunächst noch gar nicht da. Es reicht, dass sie aus der Klinik zurückerwartet wird - schon steht die ganze Familie unter Hochspannung. Das Bühnenbild von Vesna Hiltmann ist jedenfalls erst komplett, als Maya mit an Bord ist. Erst dann geht auch das Licht richtig an.

Sofort wird der Tisch auch zur Bühne, auf der die Schwestern um die Plätze rangeln: Lou würde die ältere am liebsten gleich wieder vertreiben. Und die Rivalität von "Kartenzockern" wie Lou und "Klappergestellen" (wie Maya ihr Patienten-Ich bezeichnet) kann losgehen.

Sogar der liebste Zeitvertreib der Jüngeren verbindet sich für sie nun auch mit der Krankheit der Schwester: Lou spielt nicht nur mit ihren Freunden auf dem Schulhof Quartett, sondern hat sich damit lange Wartestunden in der Klinik verkürzt, in der Maya drei Monate lang behandelt wurde.

"Na, alles wieder normal?" fragen Lous Schulfreunde Robert (Henry Braun) und Jonas (Andreas Laufer) - und verkörpern schon in der nächsten Szene wieder die ahnungslosen Eltern, die ihre Hilflosigkeit und Unsicherheit hinter dröhnender Harmonie verbergen.

Mayas Zimmer ist der Raum unter dem Tisch - als wäre sie auch dort nie der Beobachtung durch die Familie entzogen. Doch die Szenerie rückt auch weg vom Alltagsrealismus. Eine Stimme aus dem Off rezitiert in sich steigerndem Stakkato die Geschichte vom Suppenkasper. In Mayas Erinnerungen an die Zeit in der Klinik materialisieren sich die Pfleger als bedrohliche, schwarz maskierte Figuren. Wie gründlich alles durcheinander ist, symbolisiert der Wald, der verkehrt herum auf der Bühnenrückwand zu sehen ist. Die Figur der 14-jährigen Maya ist das Zentrum des Stücks. Magdalena Flade vom Jungen LTT gibt ihr eine großartige, stille Souveränität - gegen die manchmal etwas mechanische Fröhlichkeit der anderen. Es ist, als würde sie einen Schritt zurücktreten und sich den schnellen Zuschreibungen entziehen - und so die Geschichte komplexer machen.

Unterm Strich

Einfühlsames Jugendstück über Magersucht und eine Familie in Dauerspannung. Manche Details wie die krachfröhlichen, aber überforderten Eltern dürften eher für Erwachsene als für Kinder ab zehn verständlich sein.

Mit den Augen der neunjährigen Lou, prächtig aufgeweckt gespielt von Stefanie Klimkait, blickt der Zuschauer in die Tragödie der 14-jährigen Maya (sanft: Magdalena Flade), die so schwer an Magersucht erkrankt war, dass sie nur ein dreimonatiger Klinik-Aufenthalt retten konnte. Mayas Krankheit beeinträchtigt das gesamte Familienleben, das zuletzt die verunsicherten Eltern bei Tisch gänzlich verstummen lässt. Lou wird dabei zur vernachlässigten Randfigur.

Doch sie wehrt sich – ungezogen und indem sie Mayas Tricks zur Nahrungsverweigerung und deren Sport-Exzesse hinausposaunt oder sie verhöhnt, weil sie die Erbsen auf ihrem Teller zählt. Ihr Glück ist, dass sie zwei tolle Schulfreunde hat, mit denen sie in jeder freien Minute das Kartenspiel Supertrumpf spielt – und darin ganz schön gut ist.

Als die beiden Freunde Robert und Jonas stehen in der Tübinger Produktion Henry Braun und Andreas Laufer auf der Bühne. Laut Esther Beckers Vorlage wären es ein Mädchen und ein Junge, die zugleich auch die Eltern darstellen und ein paar andere Figuren. Im LTT wurden sie zu einer Art Zwillings-Komiker, die im Duett sprechen und synchrone Bewegungen machen, wobei sie gerne Grinsegesichter schneiden.

Geradezu organisch mischen sich die von den Darstellern gesprochenen Inhaltsangaben und Regieanweisungen in die Dialoge. Und erstaunlich gut funktioniert, wenn die Figuren dazu gar nicht das Vorgetragene nachahmen, sondern etwas ganz anderes tun. Das wirkt emanzipiert, im Gegensatz zu den allzu häufigen Wiederholungen bestimmter Aussagen. Mit optischem Witz unterhält das Bühnenbild von Vesna Hiltmann.

Sie hat den Kindertheater-Klassiker der überdimensionalen Möbel aus Kinderperspektive noch übertrieben, sodass die Stühle Klettergerüste werden und die Tischplatte sowohl ein begehbares Spielfeld ist als auch die Decke von Mayas Zimmer. Warum dahinter die Bühnenformat füllende Bildtapete einen Wald zeigt, der auf dem Kopf steht, bleibt rätselhaft.

Lous Geschichte über ihre große Schwester, um die sie Angst hat, aber die sie auch wütend macht, wird mehrfach unterbrochen für ziemlich gruselige »Märchen« über Klappergestelle in einer Klinik, die eher einer sadistischen Erziehungsanstalt gleicht. Diese Storys sind nicht komisch. Das Klappergestell Maya ist ihnen ausgeliefert.

Dabei schafft Maya nach ihrem Klinik-Vierteljahr erste Schritte in die Normalität, die ihr auch die Annäherung an Lou bescheren. Es wäre lohnend gewesen, etwas über Mayas Magersucht-Gründe zu erfahren. So wird »Supertrumpf« bestimmt Diskussionsstoff aus dem Theater hinaustragen.

Susanne Schmitt: Was interessiert Sie am Thema Magersucht?

Marion Schneider-Bast:Es ist ein wahnsinnig wichtiges Thema - nicht nur im Theater, aber auch dort! Wir werden heute übe rWerbung, Fernsehen, Zeitschriften, Castingshows massiv mit einem Körperbild konfrontiert, das keinem realistischen Körperbild entspricht, sondern oft viel zu dünne Models zum Ideal stilisiert. Ausgerechnet junge, heranwachsende Mädchensind die Zielgruppe dieser Castingshows. Nicht selten machen daher völlig normalgewichtige Mädchen schon sehr früh erste Diäten. Häufig gibt es außerdem familiäre Probleme und das Gefühl, wenigstens über den eigenen Körper die Kontrollebehalten zu wollen. Die Magersucht funktioniert letztendlich wie jede andere Sucht: irgendwann übernimmt sie die Kontrolleüber den Körper. Immer häufiger tritt die Magersucht übrigens auch bei Männern auf.

"Supertrumpf" zeigt, wie schwierig die Rückkehr zur Normalität innerhalb einer Familie nach dem Aufenthalt in der Magersuchtsklinik ist. Worin liegen diese Schwierigkeiten?

Wenn ein Todesfall, Zerwürfnisse, eine schwere Krankheit oder andere einschneidende Ereignisse eine Familienstrukturdurcheinanderwerfen und auf den Kopf stellen, muss sich diese Familie neu ordnen und wiederfinden. Das passiert auch derFamilie im Stück, wobei hier der Schwerpunkt auf der Geschwisterbeziehung liegt. Die Magersucht der großen Schwester Maya bringt die Beziehung der Schwestern aus dem Lot. Nicht die große Schwester kümmert sich um die kleine, sondern die kleine fühlt sich verantwortlich für die große.

Und nicht Maya, die an Magersucht erkrankte 14-Jährige, sondern Lou, ihre jüngere, gesunde Schwester, ist die Hauptfigur des Stückes. Was macht den besonderen Reiz dieser Perspektive aus?

Häufig geraten die gesunden Geschwister völlig aus dem Blickfeld. In Angst und Sorgen um die kranke Schwester mischen sich bei ihnen dann oft auch Wut und Eifersucht.

Die Autorin Esther Becker wechselt in ihrem Stück zwischen temporeichen, pointierten Dialogszenen, Erzählpassagen und alptraumhaften Märchenszenen aus der Welt der Klappergestelle. Sind diese Märchen dazu da, den Alltag in der Magersuchtsklinik darzustellen?

Eigentlich muss man diese Szenen als Lous alptraumhafte Sicht auf diese Krankheit lesen. Wir erfahren damit zwar nicht, wie es wirklich in so einer Klinik zugeht, aber wir erfahren etwas darüber, wie Lou die Krankheit ihrer Schwester Maya erlebt hat. Lou hat mit angesehen, wie ihre Schwester sich geweigert hat zu essen - wenn Maya gegessen hat, dann nur "ganz wenig und nach Farben sortiert". Sie hat mitbekommen, wie Maya "wie eine Bekloppte" Sport gemacht hat und immer mehr zum "Klappergestell" wurde, bis sie in die Klinik musste. Durch die Magersucht haben sich auch die beiden Schwestern immer weiter voneinander entfernt. Diese Märchen spiegeln hauptsächlich Lous Ängste und Sorgen wieder.

Warum heißt das Stück eigentlich "Supertrumpf"?

"Supertrumpf" ist das Kartenspiel, das Lou mit ihren beiden Freunden Jonas und Robert immer spielt. Das Spiel heißt auch "Megatrumpf". Oder "Leben und Tod".