„Tag der Gnade“ wurde ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September geschrieben – was spielt dieses Datum für eine Rolle für die Handlung?
Ulf Goerke: Ich glaube, Neil LaBute wollte einerseits einen Kommentar schreiben, wie die amerikanische Gesellschaft mit dieser Katastrophe umgeht. Und auf der anderen Seite diese Katastrophe dazu benutzen, um etwas über Liebe, Lebensentwürfe und Lebenslügen zu erzählen. Er lässt also dieses Paar aufeinanderprallen, das seit drei Jahren eine heimliche Affäre hat, und überträgt die Endzeitkatastrophe auf die Beziehung. Die Situation ist klar: Wenn wir beide diesen Raum verlassen, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen gemeinsam in eine neue Zukunft, oder wir beenden diese Affäre.
Keine alltägliche Situation in einer Liebesbeziehung – was löst dann den Konflikt zwischen beiden aus?
Ulf Goerke: Der Mann, Ben, wäre eigentlich ein Opfer der Anschläge gewesen, weil er am 11. September im World Trade Center hätte arbeiten sollen - und ist mit dem Leben davongekommen, weil er sich mit seiner Affäre Abby getroffen hat, die zudem seine Chefin ist. Er ist der Katastrophe entgangen und sieht das als Freifahrschein, will mit Abby durchbrennen und ein neues Leben anfangen, das heißt: seine Frau und Kinder denken lassen, er sei tot. Aber Abby sagt: Ich komme mit, aber nur unter der Bedingung, dass du reinen Tisch machst. Du musst mit deinem alten Leben sauber abschließen. Sag deiner Frau die Wahrheit.
Matthias Wulst: Das ist ganz interessant, denn da gibt es ja auch den Konflikt über die Frage: was ist überhaupt eine saubere Lösung? Ben ist der Meinung, als Held gestorben zu sein, also als tot zu gelten, sei die saubere Lösung, während Abby es viel heldenhafter findet, sich der Situation zu stellen. Und endlich die Wahrheit zu sagen, den schweren Weg zu gehen.
Es geht also auch um die Frage, wer oder was eigentlich heldenhaft ist? Wer moralisch Recht hat und diesen Kampf gewinnt?
Ulf Goerke: Genau. Mir ist es allerdings wichtig, dass wir uns der Wertung enthalten, wer in dem Stück der moralische „Sieger“ ist. Wer sagt wirklich die Wahrheit? Ist immer alles aussprechen wahrer, als zu schweigen? Wir wollen, dass das Publikum Anregungen bekommt, diese Themen selber zu durchdenken. Dass die Ambivalenz, die in beiden Figuren ist, transparent bleibt.
Matthias Wulst: LaBute führt ja genau diese Moral von Wahrheit, echtem oder falschem Heldentum, ad absurdum. Wenn zwei gleichberechtigte moralische Systeme aufeinanderprallen, gibt es vor allem viele Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt oder eine gute Lösung. Das ist auch das Spannende daran.
Es ist ein Kammerspiel, mit nur zwei Schauspielern, in einem sehr konzentrierten Raum, dem LTT-Oben. Was ist für Euch die Herausforderung an dieser Form?
Matthias Wulst: Man muss auf den Punkt kommen: Was will ich erzählen, wie kann der Raum dabei helfen? Wir haben uns für eine Bühne entschieden, die den Konflikt vielleicht noch mehr zuspitzt, noch spannender macht. Es ist nicht einfach, aber auch ein Geschenk, sich mit so einem kleinen Raum beschäftigen zu können, mit nur zwei Schauspielern, die auch nicht von der Bühne runter dürfen.
Ulf Goerke: Die Aufgabe für uns ist, dass das, was da verhandelt wird, von den Schauspielern und uns so persönlich genommen wird, dass es den Zuschauer betrifft. Man kann sich nicht verstecken, alles liegt ganz offen zu Tage. Wir machen es uns nicht leicht, denn es gibt bei uns wenig zum Festhalten, Requisiten oder Möbel – es muss alles aus den Schauspielern entstehen. Die sich zudem gerade erst kennenlernen – und wir sie auch. Das ist schon aufregend.
Ihr arbeitet beide zum ersten Mal am LTT – was sind Eure ersten Eindrücke vom Theater und der Stadt? Welches Publikum wird „Tag der Gnade“ ansprechen?
Ulf Goerke: Das ist eine ganz besondere Situation, für uns als Team, bei einem Neustart dabei sein zu können. Das merkt man natürlich vom ersten Tag an, die Begrüßungsrede ist anders, der Intendant ist genauso aufgeregt wie alle 130 Mitarbeiter, die da wie zum ersten Schultag sitzen, das ist ganz besonders. Alle sind neugierig aufeinander, es gibt keine eingefahrenen Strukturen. Man lernt sich kennen, alle haben eine große Offenheit, auch alle Gewerke und Abteilungen. Und für das Stück – ich glaube, wenn es uns gelingt, dann ist es ein Kapital, dass wir in so einem kleinen Raum sind, da können die Schauspieler sehr direkt und intim spielen, und wenn wir es dann schaffen, dass es eine Unmittelbarkeit bekommt, dann bin ich sicher, wird es ein Publikum finden, auch sehr gemischt, von sehr jung bis ganz alt. Das Thema ist ja eines, das alle angeht, die Liebe bzw. der Liebeskrieg.
Matthias Wulst: Ich bin froh, hier zu sein, es macht Riesenspaß, und ich fühle mich sehr gut aufgehoben.