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Eine Erkundung zu Demenz und Gesellschaft am Fall Walter J. von Jörn Klare
Uraufführung
Schwarzwälder Bote, 12. Dezember 2022
Demenz: Wenn der Dreißigjährige Krieg im Gehirn wütet
(von Christoph Holbein)
Uraufführung - Eindrücklich und eindringlich: »Vom Wert des Leberkäsweckles« überzeugt
Lässt sich »Vergessen« spielen? Nach der Uraufführung des Stückes von Jörn Klare: »Vom Wert des Leberkäsweckles – eine Erkundung zu Demenz und Gesellschaft am Fall Walter J.« am Landestheater Württemberg Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) lässt sich diese Frage mit einem eindeutigen »Ja« beantworten. Unter der Regie von Sascha Flocken gestaltet sich die Inszenierung in der LTT-Werkstatt zu einem intensiven, eindrücklichen, vielschichtigen und zum Nachdenken animierenden Theaterabend, an dem das Ensemble bestens aufgelegt das Thema und den Text von Jörn Klare treffsicher interpretiert.
Es ist eine intensive und tiefgründige Auseinandersetzung über den Umgang mit Alter, Demenz und assistiertem Suizid. Die gesellschaftlichen Tabus bei diesen Themen beleuchtet der Autor am Beispiel des Tübinger Intellektuellen Walter Jens und seiner Frau Inge. Dazu hat Paula Mierzowsky ein vielsagendes Bühnenbild geschaffen mit antiken Säulen und einem riesigen aufklappbaren Philosophenkopf. In diesem Ambiente entwickelt sich mit Pantomime, mit Sprechen im Chor und fröhlichem Singen ein fein komponiertes Spiel mit viel Tiefgang, ernst und dennoch mit leiser Komik.
Es ist die grausame und erschreckende Realität, dass der Geist schwindet, der Mensch immer hilfloser wird, dass die Gedanken nur noch geschredderte Papierstreifen sind, dass die Erinnerungen verblassen, weniger werden, sich schließlich ganz ins Nichts auflösen. Das übersetzt Regisseur Sascha Flocken in viele aussagekräftige Bilder und lässt zwischendurch immer wieder die Protagonisten Walter und Inge Jens in originalen Tonaufnahmen zu Wort kommen als Playback für die lippenbewegenden Schauspieler. Ein bisschen Theaterpädagogik ist da untergerührt, gewürzt mit so mancher komödiantischen Idee und angereichert mit plastischen Verdeutlichungen, etwa wenn die Erinnerungen als Ausdrucke auf die durch den Raum mehrfach gespannte und verwobene Schnur, was die Verknüpfungen im Gehirn symbolisieren soll, aufgehängt werden oder im Reißwolf enden. »Wir sind das, was wir erinnern«: Interessant erklärt die Inszenierung das Gedächtnis und dessen Speichervorgänge.
Biografische Notizen zum Leben von Walter Jens und seiner Frau sind eingesprengselt – auch mit kritischem Unterton, etwa zur Mitgliedschaft von Jens in der NSDAP oder der Weigerung von Inge Jens, ihrem Mann beim gewollten Sterben, beim selbstbestimmten Tod – wie versprochen – zu Diensten zu sein. Das ist alles gut gespielt, sprachlich schön konstruiert und nimmt das Publikum mit: Hat denn nicht jeder schon mal seine Erinnerungen geschönt oder verdrängt? Zitate von Jens werden eingeworfen, am Ende die Schnur durchschnitten, die Windmaschine weht die Gedankenblätter weg: Die Demenz fordert ihren Tribut, der »Dreißigjährige Krieg im Gehirn« wütet, alle Sicherheit löst sich auf und zerbröselt.
Es ist eine glaubhafte Inszenierung, mal tänzerisch, mal statisch. Und am Ende essen die Akteure das Leberkäsweckle, dessen Rezeptur sie zu Beginn des Stücks zelebriert haben und an dem sich Walter Jens zuletzt so erfreut hat, denn vielleicht kann Vergessen auch etwas Schönes sein, Angenehmes, ein »ozeanisches Gefühl«, einfach nur zu sein im Hier und Jetzt.
Südwest-Presse, 9. Dezember 2022
(von Wilhelm Triebold)
Ebenso nachdenklicher wie unterhaltsamer Annäherungsversuch an das, was Identität ausmachen soll.
Im kommenden Jahr gibt es den hundertsten Geburtstag von Walter Jens zu feiern. Es ist zudem 2023 zehn Jahre her, dass der „einzige intellektuelle Zehnkämpfer der Bundesrepublik“, wie ihn der „Spiegel“ nannte, gestorben ist: In einem Dämmerzustand geistigen Totalverlusts, was gerade in diesem Fall der Familie Jens bis heute mit der Wucht einer attischen Tragödie gleichgesetzt wird.
Der Mann, der scheinbar alles wusste, der sich vor nichts mehr fürchtete als davor, nicht mehr rhetorisch glänzen oder schreiben zu können: hilflos im Dauermodus des Vergessens und Verdrängens verstrickt. Als junger Altphilologe und Kritiker, noch in der Hoffnung, auch als Literat in der Gruppe 47 bestehen zu können, hat Walter Jens das Thema schon früh gestreift, in Romanen wie „Der Mann, der nicht alt werden wollte“ und vor allem „Vergessene Gesichter“. Dort lässt der gerade mal 29-Jährige im Altersheim greise Mimen der Vergänglichkeit anheimfallen. „Madeleine begann zu vergessen“, heißt es etwa über einen verblichenen Schauspieler-Star: „Sie dachte nicht mehr an ihre großen Rollen, sie vergaß die Texte, und wenn sie die Bilder ansah, geschah es ihr manchmal, dass sie ins Leere blickte.“
Demenz war damals noch terra incognita. Zwar schilderte Alois Alzheimer 1906 in Tübingen, der späteren Wirkungsstätte von Walter Jens, den Krankheitsverlauf erstmals auf einer Wissenschaftstagung, was weitgehend unbeachtet blieb. Man wusste erst wenig, und weil Literatur auch ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände ist, beschäftigt sie sich erst seit den 1990er Jahren genauer mit dem altersbedingten Zerbröseln des Verstands und des Gedächtnisses, oft genug aus persönlichem Antrieb. Romane wie Arno Geigers Vater-Hommage „Der alte König in seinem Exil“ oder zuletzt David Wagners „Der hilflose Riese“ stehen dafür. Mit Peter Turrrinis „Gemeinsam ist Alzheimer schöner“ schaffte es das Sujet sogar auf die Bühne, konnte aber an vergangene Erfolge des einstigen Skandalautors nicht anschließen.
Bleibt der Fall Walter J.: Bereits 2010, also noch zu Jens‘ Lebzeiten, verknüpfte der gelernte Anglist Joachim Zelter am Tübinger Zimmertheater die Professorendämmerung im Hause Jens mit einer anderen, viel älteren Geschichte der Verstörung, mit Shakespeares „König Lear“. Eine Demenz-Dramödie mit Thomas-Bernhard-Suaden und Situationskomik, die Shakespeares Tragödie vom Unglückskönig geschickt in ein heutiges Leben einfallen ließ, wie es von chronischem Gedächtnis- und Persönlichkeitsverlust gezeichnet wird.
Wohl nicht ganz zufällig ist nun im Herbst auch die Roman-Version von Zelters „Professor Lear“ im Kröner Verlag erschienen. Und an der anderen Tübinger Bühne, dem LTT, kommt mit „Vom Wert des Leberkäsweckles“ ein Auftragsstück heraus, das Demenz und Gesellschaft an diesem Modell-Fall erkunden möchte. Regisseur Sascha Flocken schickt dazu ein Schauspiel-Kleeblatt zwischen antike Trümmer, verhüllte Möbel und verstaubte Bücherregale, zu einer Art Geisterbeschwörung der Dekonstruktion zwischen geschredderten Zitatschnipseln, zeitdokumentarischen O-Tönen und biografischem Treibgut.
Der Autor Jörn Klare hat emsig recherchiert und sich, ebenfalls familiär belastet, tüchtig in die Materie reingebimst. Es wird sogar ein roter Faden gespannt in diesem ebenso nachdenklichen wie unterhaltsamen Annäherungsversuch an das, was Identität ausmachen soll.
Denn es bleibt ein Elefant im Raum: Was macht den Menschen erst zur Persönlichkeit, zur einzigartigen Einheit aus Wissen und Vergessen, der sein Gehirn stündlich, täglich erst vermüllt und dann wieder säubert? Auch wenn Identität mittlerweile zum ideologischen Kampfbegriff zu werden scheint: Nirgends lässt sich ihr besser nachspüren als auf der Bühne, auf der Akteure und Akteurinnen gedankenvoll ihr Rollenspiel reflektieren. Es geht ansonsten um Sterbehilfe, um Lebensrecht, um Widerspruch und Überlebenswillen. Mitunter auch etwas flapsig, wenn es heißt: „Tschüss Geist! Hallo Windel!“
Leider hat Walter Jens nie seine Memoiren verfasst, sodass nicht zu ermessen ist, ob er ursprünglich dem Schokokuss (wie bei Zelter) oder besagtem Leberkäsweckle größeren Wert beimaß. Das letzte Wort auf der Bühne gebührt jedenfalls ihm: „Man stirbt, und draußen machen die Leute Urlaubspläne“, tönt es im typischen Jens-Sound aus dem Off. „Und es geht weiter und es geht weiter, und du bist nicht mehr dabei.“
Schwäbisches Tagblatt, 6. Dezember 2022
(von Justine Konradt)
Szenen, die zu Herzen gehen und überzeugen
Stellen Sie sich vor, Sie hätten vergessen, mit wem Sie Ihren ersten Zungenkuss hatten; wie Sie hergekommen sind; wie Sie hier wieder rauskommen! Stellen Sie sich vor, Sie hätten vergessen, wer Sie sind!“ Die LTT-Schauspieler Justin Hibbeler, Hannah Jaitner, Insa Jebens und Lucas Riedle stehen in einer Reihe vor dem Publikum. Jetzt wenden sie sich ab, betreten das Bühnenbild: das Rund eines Amphitheaters. Sie beginnen, weiße Decken von Möbeln zu ziehen. Zum Vorschein kommen: ein volles Bücherregal, ein alter Fernseher, ein Sessel. Interessiert stellen die vier den überdimensional großen Kopf einer antiken Statue auf, er wird geöffnet: lautes Rauschen und geschredderte Papierfetzen. Justin Hibbeler schaut seine Kollegen an – die staubigen, weißen Tücher werden hineingeworfen. Jetzt ist er wieder zu, der Kopf.
Dass es in diesem Stück um Walter Jens geht, ist kein Geheimnis. Autor Jörn Klare versucht nicht subtil, Jens’ Geschichte in das Thema Demenz hineinzuweben – nein, der Philologe und Rhetoriker ist an diesem Abend allgegenwärtig. Genau wie seine Frau Inge. Schon durch das Bühnenbild und die Requisiten kann man Kontakt zu dem intellektuellen Paar aufnehmen: die Referenzen auf die Antike, die vielen Bücher, Rodins „Der Denker“ in Miniaturformat. Aber auch persönlich sind sie vor Ort, zumindest fühlt es sich oft so an. Immer wieder werden Interviewsequenzen der beiden abgespielt. Und wenn sie nicht zu hören sind, dann werden sie beeindruckend von Insa Jebens und Justin Hibbeler verkörpert. Ansonsten sind da noch die Erinnerungen von Walter Jens (gespielt von Hannah Jaitner, Lucas Riedle und Insa Jebens). Sie helfen ihm immer wieder auf die Sprünge, tragen ihm seine Biografie vor. Auch biologisches Wissen haben sie zum Thema Gehirn und allem, was so dazu gehört. Damit belehren sie in regelmäßigen Abständen das Publikum: „Ein Fötus im Mutterleib bildet pro Minute bis zu 250 000 neue Nervenzellen.“ Gerade noch haben die Erinnerungen rote Fäden, Nervenzellen, quer durch das Bühnenbild gespannt, jetzt erklären sie das Prinzip von Lang- und Kurzzeitgedächtnis. Was unwichtig ist, landet im Kurzzeitgedächtnis und wird buchstäblich geschreddert, was wichtig ist, wird liebevoll auf die Nervenzellen des Langzeitgedächtnisses gehängt. Wichtig: das Lächeln des Einlasspersonals, unwichtig: der Geruch des WC-Reinigers auf der Toilette.
Die Erinnerungen können aber auch ganz schön konfrontativ sein, stellt man fest. So kann sich Walter Jens nicht daran erinnern, in der NSDAP gewesen zu sein, er streitet es gar ab – Hitlerjugend ja, Mitglied der NSDAP auf gar keinen Fall. Tatsächlich war er aber mal Teil der NSDAP. Und schon stellen sich ganz grundsätzliche metaphysische Fragen: Verlieren wir mit unseren Erinnerungen wirklich unsere Identität? Blenden wir nicht auch viele Erinnerungen bewusst aus? Und sind dann die präsenten Erinnerungen nicht eine Art der Selbstinszenierung und geben somit kein authentisches Bild von uns ab?
Es sind Fragen, die das Stück nur streifen kann – ganz klar! Sie werden allerdings auch im Verlauf des Abends überrollt von weiteren Themenblöcken. Einmal verkörpert Lucas Riedle Autor Jörn Klare und erzählt dessen Geschichte von der Demenz seiner Mutter. Dann wieder ist es die hitzige Debatte um Sterbehilfe und die Rolle von Inge Jens, die im Mittelpunkt steht. Hier steigen die Schauspieler und Schauspielerinnen aus ihren Rollen und spiegeln in einem konfliktgeladenen Gespräch die Stimmen der Bevölkerung zum Thema „Verrat an Walter Jens“. In Kombination mit Musik- und Gesangseinlagen ist der Zuschauer doch manches Mal ein wenig reizüberflutet. Die großen Themen Sterbehilfe und Demenz, dazu das Schicksal von Walter Jens – all dies machte den Abend zu einem ziemlich strammen. Dabei sind es gerade die minimalistischen, ruhigen und inhaltlich reduzierten Szenen, die zu Herzen gehen und überzeugen. So wie das zarte Duett von Jebens und Hibbeler, als sie einen Dialog zwischen Inge und Walter Jens spielen, in dem Inge Jens versucht, ihren schon schwer dementen Mann ganz zärtlich davon zu überzeugen, dass sie seine Frau ist. Es gibt den kurzen Moment der Wiedererinnerung seinerseits, er hält ihre Hand – in der nächsten Sekunde die Frage:
Zum Schluss bleibt das Leberkäsweckle, das Walter Jens am Ende seines Lebens solche Freude brachte. Zu viert sitzen sie da, die Schauspieler, und verspeisen ihre Weckle, während im Hintergrund Jens’ Stimme ertönt: „Ich stelle mir den Augenblick so vor: Man stirbt und draußen machen Leute Urlaubspläne und es geht weiter, und es geht weiter. Und du bist nicht mehr dabei.“
Unterm Strich
„Vom Wert des Leberkäsweckles“ ist ein Stück, dem es gelingt, den schweren Themen Demenz und Sterbehilfe eine Prise Humor und Leichtigkeit beizugeben. Gepunktet wird mit großer schauspielerischer Qualität und einem vielseitigen Bühnenbild.
Reutlinger General-Anzeiger, 5. Dezember 2022
(von Thomas Morawitzky)
Jörn Klare bringt dem Gelehrten, der wieder Kind wurde, viel Gefühl entgegen, und Sascha Flocken inszeniert das Spiel klar, respektvoll und mit leisem Humor
Wie mag das sein, ein großer Geist gewesen zu sein, und plötzlich keiner mehr? Erst eine Koryphäe des Weltwissens, dann ein kindliches Gemüt? Demenz ist ein Thema, dem in Tübingen besonderes Gewicht zukommen mag, denn Walter Jens ist unvergessen dort, der große Rhetoriker, Altphilologe, und, in den letzten Jahren seines Lebens, Opfer einer Krankheit, die all dies auslöschte. Aber Demenz – oder: das Alter, das schwindende Gedächtnis, das brüchige Sein – trifft irgendwie alle Menschen gleichermaßen, denn: Wer weiß schon, wie er sein Leben beenden wird? Besitzt es noch einen Wert, wenn Erinnerung und Identität verloren sind? Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Das Landestheater Tübingen schlägt den Bogen sehr weise und gelungen. »Vom Wert des Leberkäsweckles. Eine Erkundung zu Demenz und Gesellschaft am Fall Walter J.« erlebt dort am Samstagabend seine Uraufführung; Autor Jörn Klare ist zugegen. Klare, Journalist und Dramatiker aus Berlin, beschäftigte sich zuvor schon mit dem Thema. Sein Buch »Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand« erregte vor zehn Jahren Aufsehen, beschäftigte sich mit ähnlichen Fragen wie nun sein Stück über Walter Jens. Der Autor selbst wird, dargestellt von Lucas Riedle, einen Auftritt im Stück haben.
Walter Jens indes wird gespielt von Justin Hibbeler, der dem Gelehrten ein jugendlich frisches Gesicht gibt, das in plötzlichem Gegensatz steht zur kraus gezogenen Stirn, mit der er seinen Erinnerungen lauscht, die ihn verlassen haben. Lucas Riedle nämlich, Hannah Jaitner und Insa Jebens spielen personifizierte Vergangenheitsfragmente, gehen umher und erklären Walter Jens, was er alles nicht mehr weiß.
Paula Mierzowsky hat die Schauspieler eingekleidet in eine Mode vergangener Zeiten, pastellfarben, hat die Bühne eingerichtet als ein Arbeitszimmer – ein Sessel, Regale voller Bücher. Zu Beginn entfernen die Darsteller die Tücher, mit denen die Möbel verhängt sind; später wird Walter Jens einige Bücher aufschlagen und darin geschredderte Seiten finden, eigene Erinnerungen durch den Schredder jagen. Der übergroße Kopf einer antiken Statue liegt auf dieser Bühne, zur Seite gestürzt – diesen Kopf wieder zurechtzurücken, gehört zur Aufgabe der Schauspieler. Es gibt, weit hinten, gebrochene Säulen und einen Vorhang, halbundurchsichtig, hinter dem man Walter Jens einmal tanzen sieht, mit seiner Frau, die er bald nicht mehr erkennt. Ein Spiel findet statt, das wortlos beginnt, in dem dann mehr und mehr Fragen gestellt werden, zusehends dringlicher – denn schließlich geht es auch darum, ob Walter Jens sein Leben noch als lebenswert empfunden hätte, so wie er es zuletzt führen musste. Es geht um Leben und Tod.
Man hört O-Töne aus Interviews, in denen Jens von seinen Vorbildern spricht, von Lessing und Fontane, davon, dass er der 68er-Generation als »Scheißliberaler« galt. Manchmal mimt Justin Hibbeler das Sprechen dieser Zitate, manchmal tritt Insa Jebens auf als Inge Jens. Und sie, verstorben erst im Dezember 2021, erzählt von den letzten Jahren ihres Mannes, von ihrer Entscheidung, ihn nicht, so wie er es zu Zeiten klaren Bewusstseins gewünscht hatte, zu töten.
Auch eine Zubereitungsanleitung zum Leberkäse wird hier auf der Bühne verlesen, nebst medizinischen Informationen zur Funktion des Gehirns, des Erinnerungsvermögens, zur Demenzerkrankung. Fragen gehen an die Zuschauer: »Stellen sie sich vor, Sie hätten vergessen, wer in der ersten Klasse neben Ihnen saß. Wann Sie zum ersten Mal von einem Dreimeterbrett gesprungen sind. Welches der schönste Moment in ihrem Leben war.« Man hört weißes Rauschen, die Schauspieler singen »La Paloma«, ein Lied aus der Jugend des gebürtigen Hamburgers Walter Jens.
Dass der Pazifist Walter Jens der NSDAP angehört hatte, als junger Mensch auch eine Rede über »entartete Literatur« hielt, was er später energisch bestritt – das Stück greift es auf als eine Frage, die ein neckisches Doch-noch-Erinnern dem stoischen Nicht-mehr-wissen-Wollen stellt. Walter Jens windet sich und steigt umher, im roten Faden, den er durch sein Arbeitszimmer gespannt hat.
Doch dieses Stück will keine Abrechnung sein. Jörn Klare bringt dem Gelehrten, der wieder Kind wurde, viel Gefühl entgegen, und Sascha Flocken inszeniert das Spiel klar, respektvoll und mit leisem Humor. Jenem Walter Jens, der über den Selbstmord schrieb und ein Leben verwarf, in dem er nicht mehr in der Lage wäre, weiterzuschreiben, widersprechen sie mit leiser Eindringlichkeit. Nur die Tübinger Stadtgesellschaft, die sich empörte, als Inge Jens ihren Mann mit einer Pflegerin in der Stadt herumgehen ließ – die kommt schlecht davon.
Walter Jens konnte den Tacitus schließlich nicht mehr lesen; seine Krankheit machte sich zuerst bemerkbar, als Inge Jens ihn vorfand, mit einem Buch, das er verkehrt herum hielt. Aber er begann den Geschmack von warmem Leberkäse zu lieben.
Zu Beginn des Stückes öffnen die Schauspieler den großen antiken Kopf auf der Bühne und finden darin nur das geschredderte Papier; zuletzt öffnen sie ihn noch einmal und finden duftende Leberkäsebrötchen. Sie setzen sich und beißen herzhaft zu.
Die Deutsche Bühne - Online, 4. Dezember 2022
Vom Entschwinden der Erinnerung
(von Manfred Jahnke)
Mit der Betonung des Komödiantischen erhält diese Inszenierung eine Leichtigkeit, die die „Schwere“ des Inhalts nicht entschwinden lässt
„Demenz“ als die Gesellschaft bedrängendes Thema ist auch auf der Bühne zu einem gewichtigen Sujet geworden. Der Verlust der Erinnerungen, zunächst schmerzhaft erlitten, verschwimmt in einer Gegenwärtigkeit, die keine Vergangenheit und Zukunft mehr kennt. Was aber ist, wenn einer – noch im Besitz all seiner Geisteskräfte – öffentlich verkündet, dass er im Falle einer Demenz sterben möchte – wenn es sein muss, mit Hilfe seiner Frau? Diese Frau aber, als sie sieht, wie ihr Mann in ganz neue Wirklichkeiten eintaucht – wie der liebevollen Betrachtung von jungen Welpen oder dem Essen von Leberkäsweckles – entschließt sich, die versprochene Mithilfe zu verweigern. Ein heftiges moralisches Problem wird aufgegriffen und die Akteure haben illustre Namen: Walter Jens (1923 – 2013), dement seit 2003, einst als Tübinger Professor für Rhetorik eine moralische Instanz in der alten Bundesrepublik, und seine Frau Inge Jens (1927 – 2021). In der Tradition von Lessing und Fontane verstand er sich als Radikalaufklärer und fand für seine Stimme viele mediale Wege.
Für das LTT Tübingen hat Jörn Klare, der 2012 in „Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens mit Demenz“ die Erfahrungen mit der Demenz seiner Mutter veröffentlichte, die Beziehung von Inge und Walter Jens in „Vom Wert des Leberkäsweckles“ zum Thema gemacht. Mit Originaltonelementen rekonstruiert er die Geschichte von Walter J. Dabei bleibt er eng am historischen Geschehen haften. Dass er dabei die Tatsache, dass Walter Jens 1942 als Mitglied der NSDAP aufgenommen wurde und dessen Unfähigkeit, sich dieser Mitgliedschaft zu erinnern, von Klare nun als (Vor-?)Form der Demenz begriffen wird, erscheint problematisch. Fasziniert vom Fall eines berühmten Professors in das Stadium eines freundlichen Altherren, der lächelnd im Supermarkt den Einkaufswagen vor sich hinschiebt, bleibt der Autor sehr nahe an der Biografie. Einerseits.
Andererseits ist Klare klug genug zu sehen, dass er über das Subjektive hinaus die objektive Seite des Problems herausarbeiten muss. Schon anfangs, nachdem das Ensemble die Rezeptur eines Leberkäs vorgestellt hat, beginnt das direkte Anspiel des Publikums, indem dessen Erfahrungen zum Thema des Vergessens herausgefordert werden, zudem eingebunden in die Grundfrage: „Wie spielt man Vergessen?“. Erst dann wird auf den „Fall Walter Jens“ eingegangen und immer mehr die moralische Grundfrage dieses Stücks herausdifferenziert: Wie soll man beim „Langsamen Entschwinden“ – so der Titel der 2016 erschienenen Rechtfertigungsschrift von Inge Jens – mit dem Jahre zuvor formulierten Credo des Sterbenwollens bei Demenz umgehen? Lässt sich eine solche Haltung mit Menschenwürde vereinbaren? Denn auch der Mensch, der die Geschichte seines Lebens vergisst, bleibt ein Mensch! Weil diese ethische Frage letztlich individuell in der Situation entschieden werden muss, kann es keine generellen Handlungsanweisungen geben.
In seiner Uraufführungsinszenierung hebt Sacha Flocken auf einen abstrakten Kunst-Denk-Raum ab, um die Vorgänge des Vergessens spielerisch leicht im mentalen Bereich zu verorten. Schon das Bühnenbild von Paula Mierzowsky, in der alles geheimnisvoll mit Leintüchern eingehüllt ist, zwei Säulen ragen aus dieser Landschaft hervor, verweist darauf, wer Walter Jens einmal war: Seine Antike-Interpretationen wirken bis heute nach. Von daher macht das Bühnenbild Sinn. Wenn dann die Leinwände abgezogen werden, dann sieht man überdimensional groß den Kopf eines Jünglings, dessen tote Augen auch aufleuchten können, oder einen Teil einer Bibliothek. Eine der stärksten Szenen der Inszenierung von Sascha Flocken zeigt denn auch, wie Walter J. inmitten der von den Regalen hinunter gerissenen Büchern hockt und er mit diesen nichts mehr anzufangen weiß.
Ansonsten gibt es einen Sessel, einen Fernseher, einen Aktenvernichter, der weißes Papier in Streifen schneidet, die wiederum Teil des Spieles werden, wie auch ein roter Faden, ein Ariadnefaden, Abbild des chaotischen Gedächtnisses, der kreuz und quer über die Bühne gespannt wird. Auch die Kostüme von Paula Mierzowsky mit ihren Aquarellfarben verdeutlichen die Künstlichkeit des Spiels. Es beginnt damit, dass Lucas Riedle vor dem Bodenkreis, der den Handlungsraum von Jens andeutet, vier Mikrofone auf der Bühne aufstellt und dann als Entertainer zwischen Bühne und Zuschauerraum vermittelt. Die vier Schauspieler:innen treten als Kollektiv auf, dem Publikum dabei stets zugewandt.
Dennoch kristallisieren sich im Verlaufe des Spiels Rollenzuweisungen heraus: Insa Jebens wird zur Inge Jens und Justin Hibbeler überzeugend zu Walter Jens. Voller sympathisierender Empathie führen sie die Höhen und Tiefen der Beziehung vor, wobei der Autor sich allerdings dazu entschieden hat, die Tiefen des Zustands des Vergessens eher zu unterschlagen. Hannah Jaitner wird wunderbar komödiantisch wie Lucas Riedle eher zur Mittlerin zwischen „historischer“ Handlung und dem gegenwärtigen Publikum. Mit der Betonung des Komödiantischen erhält diese Inszenierung eine Leichtigkeit, die die „Schwere“ des Inhalts nicht entschwinden lässt, sondern mich als Zuschauer zur Empathie zwingt. Dabei entwickelt Sascha Flocken zur leitmotivischen Musik von Jan Paul Werge, der in Anspielung auf die Herkunft von Jens ein Hamburger Lied verwendet, eine vor Einfällen überbordende Inszenierung von hohem ästhetischem Reiz.