Eine Komödie von deutscher Seele von Thomas Bernhard · 16+
Reutlinger General-Anzeiger, 14. April 2025
Abgründe hinter schwarzem Humor
(von Jörg Riedlbauer)
Eine Theaterproduktion, wie sie in einer Zeit, in der erschreckend autoritäre Staatenlenker von Mehrheiten bewundert und Rechtsaußen-Positionen wieder gesellschaftsfähig geworden sind, nicht besser passen könnte.
cul-tu-re.de, 13. April 2025
„Vor dem Ruhestand“ – Himmlers Geburtstag
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt inszeniert Thorsten Weckherlin Thomas Bernhards bedrückend grandiose Farce über alte Nazis und die „deutsche Seele“
Irgendwann Ende der Siebziger. Thomas Bernhard (1931 bis 1989) spürte, dass er nicht mehr allzu lang zu leben hatte, und schrieb schon wie wild. In Stuttgart führte Claus Peymann sein Stück „Vor dem Ruhestand“ auf, eine „Komödie von deutscher Seele“, wie der Österreicher seine Suada in drei Akten nannte. Der Ministerpräsident und furchtbare Marinerichter Hans Filbinger war dort ein Jahr zuvor zurückgetreten.
Nicht nur in der aufgeputzten guten Stube der Geschwister Höller, wo man am 7. Oktober den Geburtstag Heinrich Himmlers, des seligen Reichsführers SS, festlich begehen will, wimmelt es von alten Nazis. Was man damals „Ewiggestrige“ nannte, besetzte Gerichte und Vorstands-Etagen, Lehrerzimmer und Amtsstuben, leitete Seminare, führte das große Wort in Werkhallen, an Kantinen-Tischen oder in Handwerkskammern – und hatte oft die Lufthoheit über den Stammtischen.
Am Samstagabend war Premiere in der Tübinger LTT-Werkstatt. Es lohnt sich, das Bühnenbild etwas genauer anzuschauen, das Vinzenz Hagemann seinem Intendanten und Regisseur Thorsten Weckherlin da im gutbürgerlichen Spießerstil jener Jahre zusammengebaut hat. Nicht nur die zahllosen Nazi-Symbole sind es, die dort zur Feier des Tages im zweiten Teil den Raum schmücken. (Die „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ wie der SS dürfen hier unter dem Schutz von Grundgesetz und Kunstfreiheit angstfrei hemmungslos verwendet werden. Und das ist auch gut so.)
Im ersten Teil – die Schwestern warten zum Feierabend auf den Bruder, Gerichtspräsidenten und Hausherrn Rudolf Höller – ist alles sowieso noch beklemmend harmlos, auch der giftig schwärende Hass zwischen den Geschwistern. Immerhin: Das eine Fenster zeigt vielleicht Tübinger Dächer, das andere den unverstellten Blick auf die unzerstört romantische Natur und die Kulturlandschaft unter der Wurmlinger Kapelle. Irgendwann fangen die im Publikum verteilten Chorstatisten an, unsterbliche Melodien zu singen wie „Im schönsten Wiesengrunde“. Später erklingen die Durchhaltelieder der Nazis oder die Kasernen-Laternen-Hymne „Lili Marleen“.
Die Porträts im zweiten Teil könnten neben Himmler, Hitler und dem Hausherrn auch den schwäbischen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger in fiktiver Uniform darstellen, vordem höherer Beamter im Außenministerium als Verbindungsmann zu Propagandaminister Joseph Goebbels. Oder Leute wie einen Walter Stahlecker, einen Ernst Weinmann, gefallene oder hingerichtete Kriegsverbrecher – oder aber Tübinger Massenmörder in den SS-Einsatzgruppen wie Eugen Steimle oder Martin Sandberger, die – auch mithilfe von Schutz und Fürsprache durch die schwäbische Ehrbarkeit bis hin zu Carlo Schmid – ziemlich ungeschoren davonkamen und schnell wieder als unbescholtene Bürger galten.
Wie eben bei Thomas Bernhard jener Rudolf Höller, der Gerichtspräsident kurz vor dem Ruhestand. Andreas Guglielmetti stellt ihn sehr stimmig und genau dar: jedenfalls bis auf den – von Thomas Bernhard eben genau so gewollten Showdown im Sektrausch – nicht schrill überzeichnet.
Seine Schwester Vera (Katja Uffelmann), mit der ihn neben der offenbar unausrottbaren Nazi-Gesinnung (in der Variante mit aufsetzbarem blonden Jungmädel-Zopf) ein inzestuöses Verhältnis von sexueller Geschwisterliebe verbindet, schien ihn zehn Jahre lang versteckt zu haben nach seiner Kriegszeit als „jüngster Richter an der Ostfront“ und als stellvertretender Lager-Kommandant eines KZ. Dann lief alles flott und wie geschmiert, zumal auch der Vater schon hoher Jurist war, während die Mutter sich wohl leider das Leben genommen hatte.
Das eigenartige Geschwistertrio vervollständigt im Rollstuhl die querschnittsgelähmte Clara (Susanne Weckerle), der als „Opfer des amerikanischen Bombenterrors“ in den letzten Kriegstagen ein Dachbalken das Rückgrat zertrümmert hatte. Sie ist für ihre Geschwister ein wenig von linken Lesefrüchten vergiftet und von Undank geprägt und zieht so schon viel unterschwelligen Hass oder auch mal offene Ausbrüche – sehr präzise kalkuliert vom Autor – auf sich. Sie kann aber auch ganz gut zurückgeben. So, wie man sie damals gewiss nicht als lebensunwertes Leben und unnütze Esserin ins Gas geschickt hätte, weist man im ehrenwerten Geschwisterhaus nun weit von sich, ihrer alltäglichen Last auch nur im Sanatorium entledigen zu wollen.
Seltsam in Thomas Bernhards Text, dass er die taubstumme und analphabetische Haushaltshilfe vom Land ganz aus den sonst so scharfsichtigen Autorenaugen verliert. Ansonsten spitzt sich das Geschehen in dieser – bei aller beiläufigen Ungeheuerlichkeit des Gesagten – so unglaublich melodischen, musikalischen, mit Pausen, Crescendi und diesem repetitiven Parlando strukturierten Sprache ganz allmählich zu, wenngleich diese finale Katastrophe im Suff schon für die Schauspieler – Betrunkene spielen sich nur für Laien leicht, die Profis müssen sich um der Ernsthaftigkeit willen selbst in der Komödie ganz weit zurücknehmen – vielleicht nicht zu den besten Ideen in Bernhards Bühnenstücken gehört.
Das Trio ist großartig. Abstufungen wären auch subjektiv. Wie da an dieser unvergleichlichen Sprache geformt, gemeißelt, konturiert und facettiert wird, das ist trotz des Themas ein Hochgenuss an Schauspielkunst, auch an Rezitation. Denn es sind eben vorwiegend Monologe, Thomas Bernhards so unglaublich suggestive Wortkaskaden. Jeder Folgesatz hat scheinbar genauso zu kommen.
Katja Uffelmann hat dabei den größten Brocken zu bewältigen, muss aber im Gegensatz zu Andreas Guglielmetti nicht so sehr darauf achten, den Charakter und vor allem den Typus nicht zur klamaukenden Karikatur werden zu lassen. Susanne Weckerle, zunächst eher subtil im Rollstuhl am Rande des Bühnengeschehens abgestellt, verdichtet ihre Außenseiterrolle immer mehr – bis zum sprechenden Schweigen des Schlussaktes. Sie hat da nur einen Satz, ein Wort zu sagen.
Schon Thomas Bernhard klagte damals nicht plakativ an (wie etwa Rolf Hochhuth), sondern gründelte wie ein Putzfisch im Aquarium der dauerhaft naziverseuchten deutschen Seele seiner Zeit. Dass Himmler wie Hitler Vegetarier, Antialkoholiker, Tabakfeinde und Tier- und Naturverehrer waren, dass ihre vernichtende Blut- und Boden-Ideologie in neuer Gestalt neben dröhnender Nazi-Nostalgie, auch als harmlose Gesundheits- und Naturidylle einer höheren Reinheit irgendwie weiterblühte, das war einem wie ihm nicht entgangen. Sein Rudolf verhindert ein Chemiewerk vor der empfindlichen Nase, stoppt den jüdischen Kapitalismus und dessen verdorbene Presse und rettet Natur, rettet Landschaft samt seinem privaten Ausblick auf Uhlands romantisches Idyll.
Genau das leistet auch Thorsten Weckherlins Inszenierung. Die zuweilen hyperventilierende Debatte um echte oder vermeintliche Nazis, diese geschichtsvergessene Inflation des Begriffs und der dahinterstehenden Kräfte, bekommt ein eigenes theatralisches Korrektiv. Der woke, zeitgeistig zugespitzte „Kampf gegen Rechts“, dieses ganz gegenwärtige Polit-Phänomen AfD, immer noch mit dicken Backen immer hilfloser aufgeblasen von so vielen opportunistischen oder korrupten Journalisten, sie sind nicht einmal mehr einer Anspielung wert. Da ist die ganze heiße Luft ja nun auch so langsam raus.
Denn damals, noch nicht gar so lang ist’s her, waren wirkliche Nazis zugange, oft einflussreich und mächtig. Sie konnten Kanzler, Grundgesetz-Kommentatoren, Bank-Magnaten und Industrie-Kapitäne werden oder einsetzen. Auch tatsächliche Massenmörder darunter, rauschhaft schießwütig wie in Babyn Jar und anderswo, kalte Vollstrecker mit seltenen sadistisch-exzessiven Anfällen wie in Auschwitz, Treblinka oder Stutthof. Unbehelligt, am Ende als kulturbeflissene Greise im noblen Stuttgarter „Augustinum“-Stift, oder für den Rest des tätigen Lebens als ehrbare Lehrkräfte an oberschwäbisch-evangelischen Internaten, genossen sie ihr ungestörtes Nachleben als längst wohlhabende und angesehene Bürger, all diese einst hohen SS-Chargen und brutalen Nazi-Mörder. Sie hatten ja nur Befehle befolgt. Und ihre Pflicht getan. Mitten unter uns.
Nachtkritik.de, 13. April 2025
Davon geht die Welt nicht unter
(von Verena Großkreutz)
Die drei Geschwister aus Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand" feiern ihn immer noch: Himmlers Geburtstag. Thorsten Weckherlin hat das familiäre Gesinnungsstück in Tübingen inszeniert, mit einem Bürger:innen-Chor. Aber so einfach lassen sich damit keine Bezüge zu heute knüpfen.