Eine Komödie von deutscher Seele von Thomas Bernhard · 16+
Schwäbisches Tagblatt, 17. April 2025
Nazis in Staubschleiern, bizarre Rituale
(von Dorothee Hermann)
Das Landestheater Tübingen verhebt sich an einem Remake von Thomas Bernhards Dreipersonenstück „Vor dem Ruhestand".
Reutlinger General-Anzeiger, 14. April 2025
Abgründe hinter schwarzem Humor
(von Jörg Riedlbauer)
Eine Theaterproduktion, wie sie in einer Zeit, in der erschreckend autoritäre Staatenlenker von Mehrheiten bewundert und Rechtsaußen-Positionen wieder gesellschaftsfähig geworden sind, nicht besser passen könnte.
cul-tu-re.de, 13. April 2025
„Vor dem Ruhestand“ – Himmlers Geburtstag
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt inszeniert Thorsten Weckherlin Thomas Bernhards bedrückend grandiose Farce über alte Nazis und die „deutsche Seele“
Nachtkritik.de, 13. April 2025
Davon geht die Welt nicht unter
(von Verena Großkreutz)
Die drei Geschwister aus Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand" feiern ihn immer noch: Himmlers Geburtstag. Thorsten Weckherlin hat das familiäre Gesinnungsstück in Tübingen inszeniert, mit einem Bürger:innen-Chor. Aber so einfach lassen sich damit keine Bezüge zu heute knüpfen.
Kathartisch, dieser Augenblick: Als der Nazi-Ekel Höller kurz vor Schluss endlich seinem Herztod entgegenröchelt, tut er das umringt vom Chor, der sanft säuselnd singt: "Davon geht die Welt nicht unter!" Lustig, befreiend. Die Idee mit dem "Chor aus Tübinger Bürgerinnen und Bürgern" ist eigentlich eine gute. Als Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand" begann, hatte die Musik noch aus dem Röhrenradio getönt: Volkslieder, alte Schlager. Dann irgendwann – Überraschung – summten Leute, verteilt im Publikum, "Lili Marleen", als habe sich die Musik aus dem Radio verselbständigt, Körper gefunden.
Später formieren sich die Singenden zum Chor und marschieren auf die Bühne. Mal intonieren sie den Frühlingskanon "Es tönen die Lieder", mal gucken sie von hinten durch die Fenster ins Höller'sche Wohnzimmer. Ein netter Verfremdungseffekt, dessen Sinn sich freilich nicht ganz erschließen will im Rahmen von Bernhards familiärem Horrordrama um drei einander ausgelieferte Hass-Geschwister.
Thorsten Weckherlin, Intendant des Tübinger Landestheaters, hat das Stück um den ehemaligen SS-Offizier und KZ-Kommandanten Höller, der im Nachkriegsdeutschland unbehelligt Karriere als Gerichtspräsident machen konnte, auf der Werkstattbühne seines Hauses inszeniert. Vinzenz Hegemann hat dafür ein naturalistisches Bühnenbild gebaut: Die jährliche Geburtstagsfeier für Höllers Idol Himmler findet in einem biederen Wohnzimmer der 1970er statt – mit Röhrenradio, dunkler Holzvertäfelung, Hammond-Orgel, Filbinger-Porträt an der Wand, später folgen Himmler und Kiesinger.
Weckherlin setzt in seiner Inszenierung auf oft klamottige Übertreibung, weniger auf Zwischentöne. Sein Zugriff erinnert ein bisschen an den 1970er-TV-Hit "Ein Herz und eine Seele": Höller (Andreas Guglielmetti) und seine ihm im Inzest und in der Gesinnung verbundene Schwester Vera (Katja Uffelmann) haben etwas vom Ekel Alfred und seinem Hausmütterchen Else. Uffelmann spielt Vera im Küchenkittel, hin und her flitzend, bedienend, vor allem aber in gleicher Höhenlage und Einfalt wie ihrerzeit Elisabeth Wiedemann die Else Tetzlaff – sieht man einmal ab von der erotischen Komponente: Vera umzirzt ihren Bruder gerne überdreht wie ein Backfisch, und dauernd macht sie gute Laune zum bösen Spiel.
Die Figur des Höller, der seiner nationalsozialistischen Gesinnung treu geblieben ist, seine Schwestern in die klaustrophobe Abschottung zwingt, wird auf diese Weise zur Witzfigur. Ist das angemessen, auch angesichts der ständigen unerträglichen antisemitischen Ausfälle Höllers? Die recht präzise umgesetzte Tragödie der Schwester Clara (Susanne Weckerle), Sozialistin, an den Rollstuhl gefesselt und wehrloses Opfer der Demütigungen und menschenverachtenden Fantasien ihrer Geschwister, kann dem inhaltlich nicht genügend entgegensetzen.
Das alles will nicht recht zusammenpassen, bleibt an der Oberfläche des Stücks. Spürbar vor allem im letzten Akt, wenn Vera und Höller, mittlerweile völlig betrunken, ihrem rituellen Anschauen des Höller'schen Fotoalbums frönen, in dem Familienfotos ("Guck ma, Clara als Nackedei!") neben KZ-Ansichten ("Was für ein schöner Baum") und Ablichtungen von toten Häftlingen, die Höller persönlich hingerichtet hat, kleben. Dann wird das grausige Geschwätz in derart langatmig minuziös ausgedehntem Normalo-Modus gespielt, dass die Worte bald wie von selbst zur Sprachmusik verschwimmen.
So inszeniert, wirkt "Vor dem Ruhestand" wie aus der Zeit gefallen: als bloßes Zeitdokument, von Bernhard 1979 als Reflektion auf die Filbinger-Affäre geschrieben, ohne direkten Bezug zum heute. Unsere Gesellschaft hat sich grundlegend verändert. Unser Parlament auch. Die alten Höllers, die Mörder ohne Reue, die hinter verschlossenen Rollläden ihre alten Riten pflegten – sie sind ausgestorben. Heute sitzen die Faschos im Bundestag, mit eigenen Plänen im Kopf, und sorgen dafür, dass sagbar wird, was einst tabu war.
An diesem Abend möchte man andauernd die Stopptaste drücken, kommentieren, Bezüge zu heute finden. Wäre vielleicht eine Idee gewesen: kürzend verknappen, immer wieder unterbrechen, eine Gruppe heutiger Menschen kommentieren lassen. Dann hätte das Stück so vielleicht funktioniert.