Abonnieren Sie unseren WhatsApp Newsletter!
Um zu starten, müssen Sie nur die Nummer +49 1579 2381622 in Ihrem Handy abspeichern und diesem neuen Kontakt eine WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Start" schicken.
Eine ernste Science-Fiction Komödie von Sibylle Berg · 14+
Schwarzwälder Bote, 11. Dezember 2024
„Es braucht den Menschen nicht mehr“
(von Christoph Holbein)
In der Welt der Künstlichen Intelligenz (KI) haben Roboter das Sagen. Eindrücklich und intensiv bringt das Regisseur Sascha Flocken in der Werkstatt des Landestheaters Tübingen (LTT) auf die Bühne.
„Wonderland Avenue“ ist ein spezieller Ort, eine Mischung aus Gefängnis, Wellnesshotel und Freizeitanlage: Diese räumliche Enge unterstreicht Lara Schiek, die auch die passend-charakteristischen Kostüme kreiert hat, mit ihrem Bühnenbild, das in seinem Gardinen-Halbrund der Protagonistin keine Fluchtmöglichkeit lässt. Untermalt mit Musik und Sound – dafür ist Jan Paul Werge verantwortlich – schöpft die Inszenierung mit Video-Einspielungen – aufbereitet von Finn Bühr - theatertechnisch aus dem Vollen. Die Maschinen – sie haben die Macht übernommen – agieren im Chor: Insa Jebens, Lucas Riedle und ganz besonders stark in ihrer Interpretation Rosalba Salomon spielen bestens synchron mit aussagekräftiger Mimik und Gestik und einer authentischen Körperlichkeit. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas – das jetzt ausgesonderte und wertlose „Humankapital“ ist an dem Ort kaserniert und wird voll betreut und von Automaten penibel überwacht – entbehrt das Stück in der LTT-Aufführung nicht eines gewissen leisen Humors, etwa, wenn der Stuhlgang der Probandin genaustens geprüft wird.
Gut artikuliert seitens der Protagonisten und dynamisch in der Gestaltung offenbart die Tübinger Inszenierung einen „heiter-melancholischen Abgesang“ auf die gegenwärtige Lebens- und Arbeitswelt und warnt vor den Gefahren einer entfesselten KI. Diese Aussichtslosigkeit und das Eingesperrt sein zelebriert Sabine Weithöner voller Energie und fein ziselierter Dramatik in ihrer Rolle als Person. Total überwacht – Kalorienzahl, Schlafdauer – alles ist geregelt in der „Wonderland Avenue“ - und begleitet vom Grimassen artigen Dauerlächeln der Maschinen bleibt dem Menschen - über seine Wünsche sinnierend und in Grundsatzfragen vor sich hin philosophierend – nur, sich dem Gefangensein zu ergeben.
Regisseur Flocken packt das in starke Bilder und gibt dabei auch stillen Szenen innerer Verzweiflung Raum, die Sabine Weithöner intensiv ausspielt, emotional glaubwürdig und immer wieder konterkariert durch den kongenial agierenden Maschinen-Chor in seiner punktgenauen Choreografie. Das Ensemble offeriert dabei eine adäquate unterschiedliche Tonalität und absolut souveräne Darstellung – unterstützt vom aussagekräftigen Text der Science-Fiction-Komödie. Hineingeschickt in die sinnfreien Wettbewerbe der Personen gegeneinander kristallisiert sich das Fazit dieser schönen neuen Welt heraus: „Es braucht den Menschen nicht mehr.“ Der darf hinüber wandeln in den „perfekten Zustand“, das „perfekte Dasein“, was das auch immer in seiner Ungewissheit bedeuten soll: eine erschreckende Vision - dargeboten in einer überzeugenden und energiegeladenen glaubwürdigen Inszenierung.
Reutlinger General-Anzeiger, 3. Dezember 2024
(von Christoph B. Ströhle)
Bitterböser und komischer Abgesang: Sibylle Bergs Dystopie »Wonderland Ave.« am Landestheater Tübingen
Ein wunderbar pointiertes, lebendiges Zusammenspiel
Ja, eine echte Maschine kommt in »Wonderland Ave.« am Landestheater Tübingen auch zum Einsatz. Und es hat nichts Gutes zu bedeuten, wenn am Ende von Sascha Flockens Inszenierung ein Staubsauger-Roboter über die Bühne fährt.
Das Stück von Sibylle Berg führt vor Augen, wie sich der Mensch in einer nicht allzu fernen Zukunft selbst überflüssig gemacht hat. Indem er die Tech-Konzerne ins Unermessliche hat wachsen lassen und künstliche Intelligenzen (KI) erschaffen und mit einem Effizienz- und Nützlichkeitsdenken gefüttert hat, das ihn als relevante Größe nicht mehr vorsieht. In Verwahranstalten, die konzeptuell irgendwo zwischen Gefängnis, Selbstoptimierungsinstitut und Wettkampfarena angesiedelt sind, sind diese widersprüchlichen, sentimentalen, fehlerbehafteten Wesen eingebunden in hohle Rituale, deren Takt die KI vorgibt.
Ein dreiköpfiger Maschinen-Chor, am Landestheater Tübingen, wo Sibylle Bergs Dystopie jetzt Premiere gefeiert hat, dargestellt von Insa Jebens, Lucas Riedle und Rosalba Salomon, konfrontiert eine von Sabine Weithöner gespielte Person immer wieder mit ihrer Fehlerhaftigkeit. Da fallen dann Sätze wie: »Sie sind ein Mensch, die tun nur so, als hätten sie die Dinge im Griff.«
Man sieht sie anfangs im Bett liegen, genervt von den »Kack-Automaten«, die an ihr ihre Humor-Funktion trainieren. »Es schläft«, »es weint«, »es lamentiert« – so redet die KI über sie. Doch sind die Maschinen andererseits auch immer wieder mit motivierenden Sprüchen, aufmunternden Liedern oder als Hund zum Knuddeln zur Stelle und verweisen darauf, dass die Räume in der »Wonderland Avenue« in stimmungsaufhellenden Farben gestrichen sind.
Die »Person« fügt sich immer wieder in das Programm, das Wellness und Trainingseinheiten für sie vorsieht. Und einen unter anderem mit Boxhandschuhen ausgetragenen Wettkampf, bei dem es Punkte zu gewinnen gibt und an dessen Ende der »perfekte Zustand« für sie winkt, wie die Maschinen andeuten.
Vom Kinderschlafanzug in die Sportfunktionskleidung wechselnd, erinnert sich der Mensch, den wir auf der Bühne sehen, an früher. Wie es war, Sex zu haben und überhaupt in Kontakt mit anderen Menschen zu sein. Wie es war, Sehnsüchte zu entwickeln, Ziele zu verfolgen. Wie es sich anfühlte, einer Arbeit nachzugehen oder zu shoppen. Dabei klingt auch an, wie sich die Sozialkontakte immer mehr reduzierten, weil alles sich bequem über Endgeräte erledigen ließ. Wie eine diffuse Angst und auch Wut über alles und jeden zunahmen. »Wir sind Ihr emotionales Zuhause«, erklären dem namenlos gewordenen Individuum, das sich nach einer Verankerung in der wahren Welt sehnt, jetzt die Maschinen. Heimat? »Ich fühle das nicht«, antwortet Sabine Weithöner, die der Figur sarkastischen Witz, Hilflosigkeit und Tiefe gibt.
Das alles könnte düster und unheimlich traurig sein, gäbe es nicht Szenen und Situationen, die einen herzlich lachen lassen. Was an Sibylle Bergs Text liegt, aber auch an der Inszenierung, an den Schauspielerinnen und dem Schauspieler. Die die Welle zwischen realitätsnah und grotesk virtuos reiten. Ein wunderbar pointiertes, lebendiges Zusammenspiel, das nie vergessen lässt, dass da Mensch und Maschine einander gegenüberstehen. In dem die Maschinen sich harmlos, freundlich oder fordernd geben und – im Wissen um die menschlichen Schwächen?– mit kaltem Herzen manipulieren.
Lara Schieks Bühnenbild und Kostüme sind fantastisch. Die Androiden tragen steife Kragen, pastellfarbene Oberteile, weiße Hosen und sind an den Oberarmen mit bunten Bällen gepolstert, die sich auch in einer Art Schwimmring finden, den sie um die Hüfte tragen. Ihre Lippen und Augenhöhlen sind weiß geschminkt, ihre angedeuteten roboterhaften Bewegungen wirken spielerisch. So, als seien sie lediglich ein Zitat dessen, wie sich Menschen Androiden vorstellen. Musik und Sound von Jan Paul Werge und die Video-Einspieler von Finn Bühr unterstreichen die futuristische Ambivalenz, die stylishe Leichtigkeit dieses bitterbösen und ebenso komischen Abgesangs auf die Welt, wie wir sie kennen.
Schwäbisches Tagblatt, 3. Dezember 2024
Der Horror in der Wellness-Oase
(von Dorothee Hermann)
Mit „Wonderland Ave.“ von Sibylle Berg gelingt dem Landestheater Tübingen eine zugleich absurd komische und beklemmende Expedition zu den Abgründen und Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Roboter.
Auf der scheinbar leeren Bühne steht eine Art eleganter Schragen, recht hoch, weiß verhängt, mit Kopfkissen und Decke. Das Möbel ist irgendwas zwischen Bett (asketisch schmal) und auf elegant gestylter Massageliege. Ein offenes Halbrund raumhoher, weißer Vorhänge, über die Lichter, Zeichen und Farben flimmern, rahmt das Schneewittchen-Setting.
Es schafft einen Raum im Raum auf der Werkstattbühne des Landestheaters Tübingen, eine vergleichsweise beengte Fläche für Sibylle Bergs Sci-Fi-Groteske „Wonderland Ave.“ Die flimmernden Signale könnten die bekannte Konsumglitzerwelt darstellen oder die dynamischen Zahlen- und Zeichenkolonnen von Rechnerfunktionen (Video: Finn Bühr). Der elektronische Klimper-Klimper-Sound passt genau zum diffusen Konsum-Ambiente, das auch etwas heftig Klaustrophobisches hat.
Zunächst sieht das Ganze so sehr nach Deko und kommerzieller Bespaßung aus, dass man es kaum für möglich hält, in einer solchen Kulisse einen leibhaftigen Menschen zu Gesicht zu bekommen (Bühne und Kostüme: Lara Schiek). Doch die aufgekratzt blinkende und zugleich sedierende Anordnung ist der letzte Ort, der der namenlos bleibenden Protagonistin (großartig: Sabine Weithöner) geblieben ist. Deren Erleichterung, an einen scheinbar geschützten Ort gelangt zu sein, währt nicht lange.
Die vermeintliche Wellness-Oase mit Rundumbetreuung hat es in sich: Mit dem morgendlichen Wecken setzt die Zwangsinteraktion mit drei der Maschinenwesen ein, die in einer nahen Zukunft etwaige verbliebene Menschen überwachen. „Heute ist Dienstag! Und wir sind Ihr emotionales Zuhause!“, verkünden sie triumphierend wie aus einem Mund.
In der Folge geben sie wie der Chor in einer antiken Tragödie ihre eigenen Ansichten über die Menschen zum Besten. Schließlich haben diese auf der Erde genug Schaden angerichtet. Weitere Zerstörungen haben die Roboter selbst verursacht, wo immer organische Materie Fehlfunktionen bei ihnen auslöste. Nun ist es höchste Zeit für eine endgültige Abrechnung, scheint das Maschinen-Trio (Insa Jebens, Lucas Riedle, Rosalba Salomon) zu denken. Als leicht dämonische Dreifaltigkeit sind sie der ihnen ausgelieferten Protagonistin schon zahlenmäßig überlegen.
Ihr Schützling wider Willen trägt einen blauen Kinderschlafanzug mit goldenen Sternchen und bunten Fischchen. Elternähnlich kontrolliert das Roboter-Trio Körperfunktionen und Körperpflege. Sogar das Frühstück, das je nach Perspektive nach nichts beziehungsweise ein bisschen eklig aussieht, ist angeblich nach objektiven Erkenntnissen optimiert.
Wem vor so viel Dauerbeobachtung und engmaschiger Herumschurigelei ganz anders wird, gelangt vielleicht dazu, sich nicht nur mit den alltäglichen Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz auseinanderzusetzen, sondern auch mit scheinbar selbstverständlichen Behaglichkeiten, die darum kreisen, zu kaufen, zu streamen oder etwas Gutes zu essen.
Die unglaublich zähe Protagonistin jedenfalls klammert sich an die Parole: „Wenn ich lange genug durchhalte, wird mein Leben wieder so, wie ich es mir vorgestellt habe.“ Auf jeden Fall gelingt ihr eine großartige Balance: Einerseits erscheint sie als fragwürdige Figur, die es nicht besser verdient hat, andererseits löst sie Mitgefühl aus, auch durch starke Wiedererkennungseffekte. Um der bizarren Kur-Anstalt wieder zu entkommen und in ihr altes Leben zurückzukehren, wäre sie – typisch Mensch! - zu allem bereit, doch die Maschinenwesen haben dazu ihre eigenen Vorstellungen.
Cul-Tu-Re.de, 1. Dezember 2024
(von Martin Bernklau)
Rauschender Beifall und zahllose Vorhänge bei der Premiere. Das Stück lohnt sich.
Die wunderbare Sibylle Berg aus Zürich, 1962 in Weimar geboren, gilt zwar vielleicht nicht unbedingt als genialste Erzählerin oder bedeutendste Dramatikerin der Zeit, aber die Doppelstaatlerin zählt gewiss zu dem wichtigsten und produktivsten Intellektuellen deutscher Zunge und ist auch als Kolumnistin bekannt. Schon vor sechs Jahren hat sie das Stück „Wonderland Ave.“ verfasst, in dem sie – mit dem unaufhaltsamen Vormarsch der KI/AI brisanter denn je – in digital entmenschte Höllen vorausleuchtet. Sascha Flocken hat das essayistische Drama in der Tübinger LTT-Werkstatt als großartiges Solo für die wunderbare Sabine Weithöner inszeniert, ästhetisch geschlossen und stimmig, fast ganz in Weiß, der Farbe von Tod und klinischer Sterilität. Am Samstag war die ausverkaufte Premiere.
„Die Person“ erwacht unter ihrem Leichentuch schon auf einer Art Bahre. Sie wird sogleich von einem Trio (Insa Jebens, Lucas Riedle, Rosalba Salomon) umsorgt, das als „Maschinen-Chor“ auch per Video-Einspieler seine unmissverständlichen Anweisungen gibt. Die Person lebt da in einer Art Gated Community unter völliger Bevormundung. Ihre eigene Mutter, einzige und letzte lebende Bezugsperson, ist längst in ein Altenheim abgeschoben, bevorzugt altmodische SMS in der verbliebenen Endgeräte-Kommunikation.
„Ich hatte noch ein Leben, das von Emotionen geprägt war.“ Sie sehnt sich nach Austausch, Zärtlichkeit, Nähe, auch Sex. Was die rest-rebellische Person als „schlecht programmierte Transistorradios“ verhöhnt, dient ihr aber nur einen Wettbewerb, einen harten Konkurrenzkampf unter den Mit-Insassen der Anstalt an, als dessen Hauptpreis „ein selbstbestimmtes Leben“ winkt. Da muss dann ernährungs- und entleerungstechnisch, aber vor allem sportlich richtig rangeklotzt werden, zum Beispiel mit einem veritablen Boxkampf mit einer der Maschinen, den sie gewinnt.
„Nie war es einfacher einen Gegner zu erkennen“, lässt Sibylle Berg, die bei allen ihren zeitkritischen Analysen ihre marxistisch linken Wurzeln und den Klassenkampf gegen Kapital und Konzerne nie ganz vergessen oder gar verleugnet hat, ihre Person verlautbaren. Alles ist Fake, Attrappe, technische Illusion. „Die Maschinen müssen weg!“, verkündet sie. Als die Person schreiend gegen „dieses Rumgestochere in meinen Nerven“ Widerstand leisten will und die digitale Zerstörungskraft und Entmenschlichung anklagt, wird das durchgängig fast reinweiße Ambiente auch mal schlagartig rot.
Jan Paul Werge hat „Wonderland Ave.“! (für Avenue) mit viel suggestiv bedrohlichem Computersound unterlegt. Das Trio darf aber gemeinsam mit Sabine Weithöners Person auch mal ein choreografiertes Lied in englischer Sprache und irischem Folkstil geben, dessen dramaturgische Funktion jedoch nicht ganz klar wird. Reminiszenz für die Person oder Flucht in Sang, Gesang und Tanz auch mal für die Maschinen? Von Lara Schiek stammen die Kostüme und das Bühnenbild einer auch ästhetisch sehr starken und geschlossenen Inszenierung.
Allerdings fehlt Sibylle Bergs Thesen-Theater bei ihren hellsichtigen Beschreibungen und Analysen der Zeitläufte gegenüber dem Brecht’schen Vorbild ein wenig an echten Geschichten und spannenden Konflikten. Aber wie Sabine Weithöner diese etwas blutleere und fleischlose „Person“ doch zu einer Figur zu machen versteht, zu einem richtigen Menschen voll Zorn, Gefühl und Sehnsucht, das ist schon sehenswert. Großartig ihre Stimme und Sprache, verständlich und plastisch vom Flüstern bis zur kreischenden Wut-Suada.
Nach einer Video-Traumsequenz von lauter Natur, Garten, Tieren und Sonnenuntergangs-Romantik (aber keinen Menschen) lässt die Ringkomposition die Person gemäß den Anweisungen ihres Maschinen-Chors wieder zum Todesschlaf unter dem weißen Laken verschwinden.
Rauschenden Beifall und zahllose Vorhänge gab es danach bei der Premiere. Trotz dieser gewissen Gedankenlastigkeit und nur wenig wirklichen, echten theatralisch-szenischen Entfaltungsmöglichkeiten: Das Stück lohnt sich.
Sibylle Berg übrigens, die so scharfe Analytikerin und ungeheuer produktive polemische Autorin, hat eine weiteres Feld gefunden: Seit der Europawahl vom vergangenen Juni bildet sie im Straßburger und Brüsseler Parlament gemeinsam mit dem großartigen Martin Sonneborn, bisher fraktionsloser, aber fleißiger, wichtiger und verdienstvoller Einzelkämpfer, für „Die Partei“ ein wunderbares Doppel.
Die Deutsche Bühne, 1. Dezember 2024
(von Manfred Jahnke)
Sascha Flocken inszeniert am Landestheater Tübingen eine Dystopie mit bedrohlichem Maschinenchor und verliert trotz düsterer Materie nicht die Leichtigkeit.
In „Wonderland Ave.“ von Sybille Berg, 2018 in Köln uraufgeführt, steht eine „Person“ im Mittelpunkt, die sich in einem Nirgendwo wiederfindet – ohne soziale Beziehungen, allein auf Wettbewerb und Selbstoptimierung getrimmt. Was Berg zeichnet, ist eine Welt, die von Computern und KI gesteuert wird. In seiner Konzeption für das Landestheater Tübingen lässt der Regisseur Sascha Flocken eine Frau und einen dreiköpfigen Maschinenchor gegeneinander antreten. Ein aufgebocktes Bett markiert die Mitte der Bühne, die von einem weißen Horizont nach hinten abgeschlossen wird, an zwei Stellen lässt sich ein Durchgang hochziehen, verbunden mit grellem Licht (Bühnenbild: Lara Schiek).
Zu Beginn erscheint der Maschinenchor nur schemenhaft hinter dem Vorhang, dafür mit überlebensgroßen Gesichtern als Avatare der Maschinenmenschen auf den Vorhang projiziert (Finn Bühr hat starke Videos gemacht). Ihre Stimmen sind technisch verzerrt: Eine Maschine versucht, eine widerstrebende müde Frau zu wecken, damit sie zum Wettkampf antreten kann. Der Preis ist das perfekte Leben. Sabine Weithöner spielt diese Frau in einem blauen Schlafanzug mit Fischen und Delfinen (Kostüme ebenfalls Lara Schiek), genervt, um sich dann doch den Einflüsterungen des Chores zu ergeben und mitzutun.
Übernahme der Maschinen
Flocken entwickelt in seiner Inszenierung Dynamik, die daraus entsteht, dass die „Person“ Rückfälle hat. Sie erinnert sich, dass einmal eine andere Welt gewesen ist, bevor die Maschinen kamen und Arbeit und Lohn verschwand. Es gab Freunde, die nach „Afrika“ verschwanden und von denen nie wieder etwas zu hören war. Es gab eine Mutter, die sich nicht mehr meldet. Mit jeder Erinnerung erzwingt die „Person“ eine Gegenreaktion des Chores, der sie auf ein Stück grünen Kunstrasen zum Laufen schickt, ihr schließlich Boxhandschuhe anzieht und sie in einem erbitterten Kampf auf ihr altes Imago eindrischt. Selbst nach dem Hilferuf einer direkten Ansprache an das Publikum wird sie vom Chor, der ihr nun körperlich sehr nahekommt, wieder in die Gegenwart einer Preisverleihung zurückgeholt.
Weithöner spielt das Erwachen aus der anfänglichen Lethargie hin zum Wutausbruch groß aus. Sie schaut sich dabei selbst staunend zu. Diese Dynamik zeichnet sich auch in den Kostümen ab: Vom blauen Schlafanzug geht es über einen engen Sportdress hin zu einem langen weißen Schlafkleid (oder Totenkleid). Der Chor – Insa Jebens, Lucas Riedle und Rosalba Salomon – trägt weiße Hosen und gerippte Hemden aus Schaumstoff in dezenten Pastelltönen wie Orange, Lila oder Türkis. Die Ärmel sind ebenso wie ein Schlauch um den Bauch mit vielen bunten Kugeln gefüllt: Das gibt ihnen einen fröhlich schimmernden Touch, verstärkt noch dadurch, dass sie, sobald die Bühne betreten, ihren natürlichen Ton wieder gewinnen. Ihr Auftreten wirkt gefährlich, indem ihr Spiel etwas Aasiges anhaftet, unterstützt durch eine aggressive Händegestik: gefährliche Manipulatoren, die sich anschicken, die Welt von den Menschen zu säubern.
Leichtigkeit und Dystopie
Vom Verschwinden der Menschheit zu berichten, wirkt dystopisch. Die Inszenierung von Sascha Flocken mit ihrer genauen Choreografie zeichnet sich hingegen durch Leichtigkeit aus. Fein arbeitet er die dem Text von Sybille Berg immanente Komik heraus. Zusammen mit den eher pastellfarbenen Projektionen von Wassertropfen und Landschaften von Finn Bühr, sowie den von Jan Paul Werge geschaffenen Sounds ist eine Aufführung entstanden, die so spannend wie unterhaltsam ist. Und dabei genau in ihren kleinen Anspielungen auf die Geschichte des Computers ist. So wird eindrücklich leise „Daisy Bell“ gesungen, 1892 entstanden, 1961 als erstes Lied in einem Computer gespeichert und 2001 in Stanley Kubriks Busterfilm „Odyssee im Weltraum“ benutzt, Spielsituation und Geschichte des KI auf unterhaltsame Weise zusammengebracht.