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Nach dem gleichnamigen Film von Andres Veiel · Mitarbeit: Jutta Doberstein
Schwarzwälder Bote, 30. April 2001
Bombardement von Daten, Zahlen und Fakten
(von Christoph Holbein)
Am Ende steht in einem eindringlichen Schlussakkord der Aufführung der engagierte und eindrückliche Appell junger Menschen von Fridays for Future aus Tübingen ans Publikum, dass jeder seinen Teil der Verantwortung trage, Einfluss habe und handeln könne. Mit diesem Aufruf »unternehmt etwas« entlässt Regisseur Gregor Turecek die Zuschauer nachdenklich in den Abend. Zuvor hatte seine Inszenierung des Stückes »Ökozid« nach dem gleichnamigen Film von Andres Veiel – unter Mitarbeit von Jutta Doberstein – am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) in der Szenerie des internationalen Strafgerichtshof mit Informationen auf der Basis von Originaldokumenten und wissenschaftlichen Studien zum Klimawandel »bombardiert«: Dokumentartheater in Reinkultur.
Wir schreiben das Jahr 2034: Dürreperioden und Sturmfluten sind auch in Deutschland an der Tagesordnung. Vor Gericht steht die Klimapolitik und mit ihr die deutsche Regierung, die von Umweltorganisationen und Schwellenländern wegen ihres zögerlichen ökologischen Handelns auf Schadensersatz verklagt wird. Diese statische Gerichtssituation birgt die Gefahr einer wortlastigen, mit Daten, Zahlen und Fakten überfrachteten Aufführung. Regisseur Gregor Turecek versucht dem mit gut artikulierenden Schauspielern und pointiert gezeichneten Figuren zu begegnen. Die Inszenierung – gespickt mit Schlaglichtern auf die aktuelle Situation, etwa den Ukraine-Krieg – balanciert dabei zwischen Ernsthaftigkeit und Satire.
Das treibt zu seinem Höhepunkt, wenn Ex-Kanzlerin Angela Merkel als Zeugin aufritt: dargestellt als Puppe, fein geführt von Julia Staufer mit dem feinsinnigen Gespür für den leisen ironischen Witz. Dennoch, auch mit den echauffierten Ausbrüchen der Protagonisten und intensiven Video-Einspielungen gelingt es dem Regisseur nicht komplett, die doch sehr statische Ausgangslage aufzubrechen. Das Ensemble spielt im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten die Szenen gut aus, auch mit kleinen Begegnungen am Rande der großen Szenerie. Drehbühne und filigrane witzige Details sorgen für eine dramaturgische Belebung. Da kommt es zu ein paar satirisch überhöhten Auftritten, zu ein paar clownesken Einsprengseln, zu Karikaturen.
Das Publikum ist gefordert ob der anspruchsvollen Inhaltsschwere des Stückes, eben weil auch ein wenig die Theatralik und szenische Dramatik fehlen. Turecek macht das Beste daraus, so dass der Abend zwar nicht wirklich kurzweilig ist, aber auch nicht langatmig wird. Das wird dem ernsten Thema gerecht, indem die Inszenierung auf aufgesetzte Gänge und Aktionen verzichtet, sondern vielmehr auf die Dynamik der vorgebrachten Inhalte baut. Diese Gratwanderung gelingt mit winzigen Abstrichen.
Es ist ein eindringlicher Theaterabend, der ein düsteres Bild zeichnet und zum eigenen Handeln auffordert.
Schwäbisches Tagblatt, 30. April 2000
(von Moritz Siebert)
2034 ist es zu spät, nach Jahrzehnten versäumter Klimaziele steht die Welt vor dem Untergang. Mit „Ökozid“ blickt das LTT in die Zukunft – und von dort zurück auf die Gegenwart.
Für einen Moment ist ja wirklich zu befürchten, dass das alles so endet. Mit einem pathetischen Plädoyer für den Klimaschutz, mit etwas Reue und der Einsicht, handeln zu müssen, mischt sich die Altkanzlerin nochmal ein. Und dann kommt es doch noch viel skurriler. Als wolle sie sicherstellen, dass wirklich niemand mehr mit ihrer Zurechnungsfähigkeit rechnen sollte, verlässt sie die Bühne ausgelassen tanzend und singend – mit Nina Hagens „Farbfilm“, dem Song, mit dem sie schonmal die Bühne verlassen hat, damals vor 13 Jahren.
Es ist das Jahr 2034. Die Leichenhallen sind überfüllt, anhaltend herrschen 40 Grad, wichtige Ökosysteme sind nicht mehr zu retten, ganze Völker auf der Flucht: Der Klimawandel ist so offensichtlich, wegleugnen geht nicht mehr. Umweltorganisationen und eine Koalition aus 31 Schwellenländern verklagen Deutschland auf Schadensersatz, weil sich das Land nicht ausreichend um Klimaschutz gekümmert hat. Mit „Ökozid“ (Regie Gregor Turecek) nach dem Film von Andreas Veiel und Jutta Doberstein startet das LTT mit einem fraglos wichtigen Stück in die Saison. Schauplatz ist der Gerichtssaal mit großer Uhr an der Wand. Und nein, es ist nicht fünf vor zwölf, es ist zehn Minuten später.
Schläft Merkel nachts gut?
Mit dem gleichen Repertoire an Figuren orientiert sich das Stück am Film. Die Kläger vertreten Wiebke Kastager (Katja Uffelmann) und ihre jüngere Kollegin Larissa Meybach (Emma Schoepe). Der mehrtägige Prozess, in dem sich Zeugen, vom RWE-Chef bis zum Klimaforscher, die Klinke in die Hand geben, und die Richterin die Parteien streiten lässt, arbeitet die lange Geschichte verfehlter Klimaziele von Kyoto bis Paris auf und beleuchtet ausführlich Hintergründe, vom Emissionshandel bis zur Rolle der Auto-Lobby.
Die Gegenseite vertritt der Anwalt Victor Graf (Dennis Junge), und der argumentiert mit der mittlerweile verheerenden Situation in Deutschland. Ein Landwirt, der keine Rinder mehr halten kann, muss als Zeuge herhalten. Einer der letzten Daimler-Beschäftigten (Tesla hat übernommen) tritt als Zeuge einer blühenden Autoindustrie auf, die die Klimapolitik ruiniert hat.
Zeugenaussagen, Austausch von Argumenten, Vorträge von Fachleuten: Der Kern sind Text, Details, Hintergrund. Das Ensemble beeindruckt mit vielen Mehrfachrollen (Susanne Weckerle, Stephan Weber, Gilbert Mieroph), spielt mit Tempo und viel Emotion, insbesondere die Verteidigerinnen. Bei zweieinhalb Stunden Spielzeit kämpft das Stück dennoch mit Längen. Der Regisseur setzt einen Reigen an komischen (und recht klischeehaften) Figuren dagegen: der Experte als zerstreuter Mahner, der verzweifelte Landwirt, die schmierigen Politiker und Lobbyisten. Die Bühne (Juliette Collas, auch Kostüme) schafft Bewegung mit einem drehenden Podium und Raum für Nebenschauplätze für Besprechungen, heimliche Treffen oder Partys. Und eine multimediale Aufbereitung ermöglicht ständigen Perspektivwechsel: Reporter berichten, Clips von Katastrophen, von Auftritten aus den Amtszeiten Merkel und Schröder werden eingespielt. Und dann agiert im Hintergrund noch Laurenz Opalka (Konrad Mutschler), Mitarbeiter Grafs, der per Social Media versucht, das Volk zum „Krieg gegen den Klimafaschismus“ aufzustacheln. Auch US-Präsident Elon Musk mischt sich ein, als „unrechtmäßiges Tribunal“ beschreibt er den Prozess in einem Tweet. Twittert man im Jahr 2034 noch?
Angela Merkel, die als einzige als Puppe gespielt und gesprochen wird (Julia Staufer), avanciert zur Protagonistin, was auch der Abwesenheit ihres Vorgängers Gerhard Schröder geschuldet ist, der ein wertvoller Zeuge wäre, aus gesundheitlichen Gründen aber nicht erscheint. Ruhig und sachlich agiert Merkel zunächst („Erst das Zukunftskonzept erarbeiten, dann der Kohleausstieg, so war die Prämisse“). Aber schläft sie wirklich gut? Eine eindrückliche Performance beschäftigt sich mit der Frage.
Alles bloß Science-Fiction? Sicher nicht. Die Zuschauer verfolgen zwar einen fiktiven Prozess in der Zukunft, das Stück selber blickt aber immer auch auf deren Gegenwart zurück. Das gelingt durch die Aktualität: Die Auswirkungen des Ukrainekriegs, Putin und die Gaspolitik, die Inflation werden eingeflochten. Und auch der „Sommer der Klimadystopie“ mit Dürre, Waldbränden und Überschwemmungen (gemeint ist 2022) liegt noch nicht lange zurück.
Ein kritischer Blick auf den Stoff mit seiner wesentlich westlichen Sicht auf den Klimawandel, die Frage, welche Rolle der Klimawandel in der Gesellschaft der betroffenen Länder spielt, was konkret es den Klägerländern bringt, würde Deutschland zu Schadensersatz verurteilt werden, bleibt Episode. „Das Urteil wäre eine Geste, aber keine Lösung“, sagt ein Künstler aus Uganda in einem eingespielten Video.
Und jetzt? Vergleich, Urteil, Freispruch? Das lässt das Stück offen und schwenkt in die Vergangenheit, das heißt: zurück in die Gegenwart. Das scheint beim eh schon halbfiktionalen Aufbau naheliegend: Am Ende geht es ja um nichts anderes, als das zu verhindern, was 2034 eingetroffen (und zum Glück noch Fiktion) ist. Und die zwölf Jahre, die dazwischen liegen, sind eben die entscheidenden zehn Minuten. Gute Idee, das Schlusswort Tübinger Fridays for Future-Aktivisten zu lassen.
Unterm Strich
Jahrzehntelang Versäumnisse in der Klimapolitik – und Deutschland muss sich vor Gericht für den Schaden verantworten: „Ökozid“ ist ein Stück mit viel Fläche für Diskussion. Die Adaption des gleichnamigen Films für Theater arbeitet mit multimedialer Ausstattung, Perspektivwechseln und einem Reigen an bunten Figuren gegen Längen, meistens mit Erfolg.
Reutlinger Generalanzeiger, 31. März 2000
(von Kathrin Kipp)
Deutschlands Klimapolitik vor Gericht: Premiere von »Ökozid« nach dem Film von Andres Veiel am LTT
Das LTT startet die neue Spielzeit gleich mal mit einer veritablen Apokalypse: Wir schreiben das Jahr 2034, die fetten Jahre sind vorbei und die Klimakatastrophe kommt gerade so richtig in Schwung mit Millionen von Dürre-, Überschwemmungs- und Hungertoten. Der Globale Süden verklagt Deutschland deshalb auf Schadensersatz wegen unterlassener Klimaschutz-Politik. Ein Präzedenzfall.
Gregor Turecek (Regie) und Thomas Gipfel (Dramaturgie) bringen die Theater-Fassung des gleichnamigen Films von Andres Veiel und Jutta Doberstein von 2020 auf die LTT-Bühne – als spannender Justizthriller, aufklärerische Doku-Fiction und knifflige Zwickmühlensause. Aber »Ökozid« ist auch ein echter Gutelaunekiller, der zeigt, wie Deutschlands Regierungen jede noch so minimale europäische Bemühung um Klimaschutz behindert haben, um den Wirtschaftsstandort zu schützen. Kapitalismus eben.
Der exzessive Austausch von Argumenten findet vor dem »Internationalen Gerichtshof« statt, den man nach Berlin verlegen musste, weil Den Haag längst überflutet ist. Ergänzt wird das LTT-Stück um die aktuelle Zuspitzung mit Ukraine-Krieg, Energiekrise und zweifelhaften Deals mit Diktatoren, die wieder wunderschön vor Augen führen, dass uns jedes Argument recht ist, um den bequemen Status quo zu halten.
Die klagenden Staaten werden vertreten von Wiebke Kastager (Katja Uffelmann) als eher pragmatisch agierende Anwältin und der wesentlich engagierteren Aktivistin Larissa Meybach (Emma Schoepe). Die Gegenseite wird vom skrupellosen, aber trotz Hitzewelle leicht blassen Verteidiger Victor Graf (Dennis Junge) angeführt, der die Argumente der Kläger zu demontieren versucht, indem er unter anderem die Deutschen als die eigentlichen Katastrophen-Opfer inszeniert: Bauer Schwerdtner (Stephan Weber) zeigt (gefälschte) Bilder seiner verbrannten Kühe. Außerdem seien Politiker laut Amtseid dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet, und nicht einer globalen Moral. Und kann man Politikern vorwerfen, dass sie sich um den Wohlstand ihres Landes bemühen?
Aber das eigentliche Verdienst des rhetorischen Schlagabtauschs ist die detaillierte Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Klimaschutzverhinderung, zum Beispiel in Sachen Emissionshandel. Doch kann man eine Regierung für moralisch bedenkliche, aber letztlich legale Entscheidungen verklagen?
Während die Zuschauer noch über das ein oder andere juristische und politische Dilemma nachdenken, hat das Regieteam versucht, das dialektische Textungetüm ansprechend zu bebildern und mit Leben zu füllen: Über die Bühne (von Juliette Collas) spannt sich eine etwas altertümliche, holzverkleidete Gerichts-Arena mit Uhr, die auf Fünf-nach-Zwölf steht. Im Vordergrund wird der scheinheiligen Klimapolitik von Schröder und Merkel der Prozess gemacht, während die juristischen Deals und andere Mauscheleien Backstage stattfinden.
Graf versucht, mit Kastager einen Vergleich auszuhandeln, um weitere Klagen zu verhindern. In der Mitte der Arena treten die Zeugen (Lobbyisten, Experten und Merkel) auf einer kosmischen Drehbühne auf. Die Geschichte dreht sich eben immer weiter. Die Erderwärmung lässt sich nicht aufhalten. Und hinterher ist man immer schlauer, aber eigentlich hätte man es wissen müssen, dass es vielleicht nicht ganz so korrekt ist, wenn Lobbyisten Gesetze ausformulieren.
Schön jedenfalls die filmischen Einspieler auf der Holzwand. Wie Merkel ihren Amtseid ablegt, »zum Wohle des Volkes«. Wie Schröder versucht, die deutsche Braunkohle zu retten. Oder wie ein Autofahrer direkt in eine Überschwemmung hineinfährt. Was für ein Idiot – aber schließlich fahren wir alle den Karren an die Wand. Am Steuer saß jahrelang Angela Merkel, die als eine von Julia Staufer gesteuerte, äußerst wendige Handpuppe auftritt, die am Ende seltsamerweise gar nicht mal so schlecht wegkommt.
Schön auch, wie der Mann fürs Grobe, Laurenz Opalka (Konrad Mutschler), im Hintergrund mit fiesen Tricks die Propaganda steuert. Und so ist das Stück trotz der Textfülle selten langweilig. Ein klein wenig Action gibt’s sogar auch: Das Publikum wird per Bombendrohung in die Pause geschickt. Und am Ende entern noch die echten Tübinger Klimaaktivisten die Bühne. Stimmt ja, das ist ja alles nicht nur Theater!