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Ein Psychogramm. Nach den Protokollen des Serienmörders Fritz Haarmanns (1924) · 16+
Reutlinger General-Anzeiger, 13. April 2024
Vom Sezieren der bürgerlichen Hülle
(von Armin Knauer)
Das LTT zeigt in der Alten Anatomie »Der Totmacher« über die Befragung des Serienmörders Fritz Haarmann...
Die Situation hat eine makabre Pointe. Man sitzt im Rund des Vorlesungssaals der Alten Anatomie und blickt steil hinunter wie ins Zentrum eines Trichters. Dorthin, wo früher Leichen geöffnet wurden, um Medizinstudenten das Innere des menschlichen Körpers offenzulegen. Genau dort entrollt nun das LTT in der Regie seines Intendanten Thorsten Weckherlin die Befragung des Serienmörders Fritz Haarmann durch den Psychiater Prof. Dr. Ernst Schultze. Und genau dort schildert nun Haarmann detailfreudig und mit unverhohlenem Stolz auf die eigenen Sektionskünste, wie er die Körper seiner Opfer zerteilte.
Schultze soll im Jahr 1924 herausfinden, ob Haarmann, der mindestens 24?junge Männer im Liebesakt totgebissen und anschließend zerstückelt hat, zurechnungsfähig ist. Aus den Protokollen von damals hat Romuald Karmakar bereits 1995 einen viel beachteten Kinofilm gemacht. Nun greift Weckherlin auf dieselbe Quelle zurück und versichert: »Kein Wort des Abends steht nicht in diesen Protokollen.«
Weckherlin und Ausstatterin Lara Schiek haben die Vernehmung nicht aktualisiert, sondern zeigen sie in ihrer Zeit. Ein Tisch, drei Stühle, ein alter Fotoapparat mit Ziehharmonika-Objektiv – der Delinquent muss schließlich auch abgelichtet werden. Eine Gefängniskluft und ein Fäkalieneimer sind noch wichtig. In erstere schlüpft im Laufe des Stücks Haarmann, wandelt sich vom geschniegelten Gesellschaftsmitglied zum Hinrichtungsanwärter. Der Fäkalieneimer verweist auf seine Entsorgung von Leichenteilen; er birgt ihn am Ende in den Armen, als wolle er den finsteren Teil seiner Seele darin beschirmen.
Alles hängt an den Schauspielern – und die machen ihre Sache glänzend. Stephan Weber lässt schaudern als Mörder Haarmann, der sich in all seiner kindlichen Naivität auch nicht so recht erklären kann, wie die Strichjungen, die er mit in sein Bett nahm, zu Tode gekommen sind. Nicht weniger fesselt Rolf Kindermann als Psychiater Schultze, der daran verzweifelt, dass sein joviales Gegenüber so gar kein Bewusstsein vom Entsetzlichen seiner Taten entwickeln will.
Dazu Lucas Riedle als Stenograf, der kein einziges Wort spricht, aber immer wieder zur Zielscheibe von Haarmanns erotischen Gelüsten wird. Und Immanuel Krehl als Strichjunge Kress, der von den sexuellen Praktiken Haarmanns berichtet. Vieles in der Vernehmung entwickelt eine absurde Komik, die daraus entspringt, dass Gutachter wie Mörder sich auf bürgerlichen Anstand berufen und dabei grundverschiedene Welten meinen. Um der Komik nicht die Dominanz zu überlassen, schiebt die Inszenierung in den Szenenwechseln düster-tragische Klavierklänge von René Lozinsky ein; in den Szenen selbst bleibt die Musik still.
So entfaltet sich eine Konstellation, in der absurde Komik und menschliche Tragik zusammenfallen. Haarmann, der von der Gesellschaft von klein auf stigmatisiert wurde, fühlt sich in der Vernehmung endlich als Mensch wahrgenommen – ausgerechnet in einer Situation, die ihn in der psychiatrischen Durchleuchtung zum Objekt macht. Schultze wiederum, der so sehr auf menschliche Werte pocht, kann in gleichgeschlechtlicher Sexualität nichts als eine naturwidrige Abscheulichkeit erkennen. Auf beklemmende Weise macht die Inszenierung klar, dass die Bürgerlichkeit Monströses züchtet, wenn sie ihr Inneres nicht mit Mitgefühl für den anderen Menschen füllt.
Schwäbisches Tagblatt, 12. April 2024
Die Krone der Schöpfung, das Kind, die Bestie
(von Peter Ertle)
Thorsten Weckherlin beschäftigt sich mit einem 100 Jahre alten Faszinosum des Schreckens und seziert den „Totmacher“ Fritz Haarmann in der Alten Anatomie..
cul-tu-re.de, 12. April 2024
„Der Totmacher“ – Warte, warte nur ein Weilchen…
(von Martin Bernklau)
In der Alten Anatomie seziert das LTT den Fall des Massenmörders Fritz Haarmann
Ja, der Fall des Massenmörders Fritz Haarmann ist ein moderner Mythos. Ein unglaublicher Stoff. Unglaublich aber auch, wie wenig es braucht, um tolles Theater zu machen. Und das an dieser Spielstätte, in der Alten Anatomie am Österberg. Eigentlich eine Art steiles Amphitheater zur Vorführung einer wichtigen Wissenschaft, die manchen als ein wenig makaber gilt. Am Donnerstagabend war dort Premiere für den „Totmacher“.
Der LTT-Intendant Thorsten Weckherlin selber hat sich des heuer einhundert Jahre alten Stoffes angenommen, den schon ganz Andere auf je eigene Art ausgeweidet haben: Fritz Lang mit „M“, ein Rainer Werner Fassbinder oder Hollywood mit Jodie Foster, Anthony Hopkins und dem „Schweigen der Lämmer“.
Der Fall des 1924 hingerichteten vielleicht 24-fachen Stricher-Mörders aus dem Bahnhofsviertel von Hannover ist außergewöhnlich gut dokumentiert durch die Vernehmungsprotokolle, bei denen es nicht zuletzt um seine Schuldfähigkeit ging, damals noch ziemlich neu als juristische Kategorie. Das ist der Stoff, der schon damals weit über die zeitkritischen Bezüge – also vor allem das pandemische Trauma des Ersten Weltkrieges – hinausging, auch über das ungelöste Rätsel kindlicher Prägung durch eine bestimmte Kultur und die auf ihr fußende Erziehung.
Alles, wirklich alles lässt die Inszenierung da offen. Und das ist ihre ganz große Stärke. Sie protokolliert nur. Die Anatomie eines unglaublichen, aber eben faktisch wirklichen Verbrechens und seines Verbrechers, eines vielfachen Mordes, der kein Massenmord war im Sinne etwa einer politisch, ideologisch oder religiös motivierten Schandtat, eines Massakers.
So etwas geht auf dem Theater natürlich nur, wenn auf schauspielerische Intensität zurückgegriffen werden kann. Die Nebenrollen sollen nicht kleingeschrieben werden, Lucas Riedle als Protokollant nicht, und auch Immanuel Krehl nicht als Zeuge und Fast-Opfer Kress. Schon Rolf Kindermann als Vernehmer, unaufdringlich gezeichnet, ist wirklich ausgezeichnet. Aber Stephan Weber als Haarmann liefert ein ganz großes Solo ab.
Das Timing wird sich noch perfektionieren. Vielleicht überprüft man auch noch mal die Akustik in dem sehr eigenartigen Anatomie-Hörsaal und nimmt womöglich ein wenig an Lautstärke zurück in den Streitszenen. Aber wo es leise war und so unglaublich eindringlich, da störte schon jedes Rascheln mit dem Taschentuch oder jeder fallende Stift.
Es ist schon kurz nach dem Fall ein gängiger Reim geworden. Die Inszenierung ließ ihn am Ende aus Kindermund einspielen: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu Dir, mit dem kleinen Hackebeilchen…“
(später mehr, oder auch nicht. Es war mir eine Ehre.)