Abonnieren Sie unseren WhatsApp Newsletter!
Um zu starten, müssen Sie nur die Nummer +49 1579 2381622 in Ihrem Handy abspeichern und diesem neuen Kontakt eine WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Start" schicken.
Schauspiel von Henrik Ibsen, Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Schwäbisches Tagblatt, 7. Dezember 2015
(von Wilhelm Triebold)
Die zweitkürzeste "Nora" aller Zeiten: Hüseyin Michael Cirpici inszenierte Ibsens Selbstbefreiungsdrama am Landestheater
(...)
Zuerst einmal lieferten sich Tübingen und Berlin am vergangenen Freitagpremierenabend ein Fernduell um die kürzeste "Nora" aller Zeiten. Schlussendlich hat Regisseur Stefan Pucher am Deutschen Theater die Nase vorn, weil ihm Stuttgarts Schauspiel-Hansdampf Armin Petras einen auf 80 Minuten herunter geschnodderten Instant-Ibsen lieferte. Das LTT wird mit der schnörkel- und schlackelosen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel knapper zweiter Sieger: Nach nicht mal anderthalb Stunden (inklusive gewohntem Werbe-Vorspiel auf das Theater durch Intendant und Freundeskreisvorsitzenden) ist der ganze Spuk bald auch wieder vorbei.
Ein kurzes Vergnügen, nicht mal die reine Spieldauer eines Fußballabends. Offenkundig taugen solch bürgerliche Selbstbestimmungsdramen an manchen Theatern nur mehr als Steinbruch. Noras Lernprozess, der im Befreiungsschlag mündet, bleibt da letztlich auf der Strecke. Wie sie sich verstrickt in Abhängigkeit, zugewiesener Luxusweibchenrolle mit Lizenz zum Shoppen, selbstverschuldeter, fremdversorgter Unmündigkeit, aufopfernder Hilfsbereitschaft oder -bedürftigkeit, Schuldgefühlen, Schulden und Intrigen - das alles wird kaum entwirrt, eher noch mehr zusammengezurrt. Bis sich Cirpicis Regiekonzept, wenn er denn eins hatte, erkennbar entfalten darf, ist' s schon wieder vorbei.
So blicken wir in einen unwirtlich-unterirdischen Bühnenraum mit dem Charme von Herzog Blaubarts Kellerleichenhalle samt den sieben (Treppen)-Ausgängen (Ausstattung: Julia Scholz). Hier sieht niemand eine Sonne. Ein Ort für bleiche Gespenster, zu denen im dämonischen Unterlicht manche Protagonisten zwischendurch auch werden. Erpresser Krogstadt, mit allen Mitteln um seine gescheiterte Existenz kämpfend, ist bei Rolf Kindermann ein düster-verzweifelt böser Geist, während Sabine Weithöner als gestrauchelte, undurchsichtig agierende Jugendfreundin Kristine sehr beherrscht und zurückhaltend agiert. Und Gotthard Sinns Hausfreund Rank kränkelt freundlich lächelnd Siechtum und Tod entgegen.
Es geht um Schuld und unbeglichene Schulden. Während Torvald Helmer Karrierestufen hochfällt, fügt sich Nora immer widerstrebender in die angestammte Rolle eines Puppenheimchens am Herd. Selbst in dieser "Nora"-Light-Version gelingt es Jennifer Kornprobst sogar noch, ein paar intensivere schauspielerische Ausrufezeichen innerhalb der wegbrechenden Schuldscheinwelt zu setzen. Die Regie lässt sie hedda-gablermäßig mit dem Revolver fuchteln oder eindrucksvoll "verfickte Scheiße" fluchen. Und als sie als eine Art Traumsequenz einen Veitstanz vollführt, wird sie von dunklen Erinnerungs-Gestalten bedrängt. Erst am Ende, kurz vorm Entschluss, wird sie dann kälter, entschiedener. Trotzdem: zu viel geht verloren (oder besser: wird geopfert) von dem, was Nora zu ihrem Schritt treibt.
Der zum Bankdirektor aufgestiegene Torvald Helmer kommt mit Raphael Westermeier wie ein gerade erst der Generation Praktikum entronnener Berufseinsteiger daher: ein zuerst nicht unsympathischer, jugendhafter Mittelschicht-Ager, dem man selbstgerechtes, selbstgefälliges Haustyrannentum nur schwerlich abnähme, sogar nachdem er überholtes Chauvi-Zeugs zum besten geben muss. Letztlich aber überzeugend: ein schwaches Mannsbild.
(...)
Reutlinger Generalanzeiger, 7. Dezember 2015
(von Armin Knauer)
Lieben wir unseren Partner? Oder lieben wir in Wahrheit nur unser Wunschbild vom ihm? Bereits 1879 hat der Norweger Henrik Ibsen das zentrale Dilemma der modernen Paarbeziehung auf den Punkt gebracht. Und der Regisseur Hüseyin Michael Cirpici hat mit der Bühnenbildnerin Julia Scholz seinerseits Ibsen auf den Punkt gebracht mit seiner Inszenierung von »Nora oder Ein Puppenheim«, die im Großen Saal des LTT herauskam.
Cirpici und Scholz verweigern dem Ehedrama die Kulisse des heimeligen Wohnzimmers. Das würde den Grund für Noras und Torvalds Scheitern in die Enge bürgerlicher Moralvorstellungen rücken. Doch ihr Problem ist tiefergehender und heutiger. Daher haben Cirpici und Scholz »Nora« in einen halbrunden Bunker wie aus einem Kafka-Roman gesteckt, von dem aus in alle Richtungen enge Treppen nach oben führen.
(...)
Für Nora ist es erst das Nest, das sie mit den Illusionen ihrer Beziehung auspolstert – versinnbildlicht in einem winzigen Weinachtsbäumchen. Und wird zusehends zur Falle, in der sie eingekesselt wird. Noras Träume spiegeln sich in der Musik von Julia Klomfaß, die leise und suggestiv über der Szene liegt. Und in surrealen Zwischenbildern, in denen etwa Schnee vom Bühnenhimmel mitten in den Raum fällt. Gleichzeitig verklanglicht die Soundkulisse das Wispern des Räderwerks von Erwartungen, das Nora zu zermahlen droht.
In diesem so suggestiven wie nackten Raum vollziehen sich auch die Auftritte wie die Choreografie eines Kesseltreibens mit Nora als Beutetier. Jeder, der eine der Treppen zu ihr hinabsteigt, bringt eine neue Zumutung.
Alles hängt in diesem reduzierten Raum an den Darstellern. Und denen gelingt es mit hoher Intensität, das Ringen der Akteure um ihren Standpunkt glaubhaft zu machen. Allen voran Jennifer Kornprobst als Nora, die zu Beginn ganz in der Freude auf die lange ersehnte finanzielle Unbeschwertheit aufgeht. Eine junge Frau, die romantisch das Wunschbild eines Gatten pflegt, der im Ernstfall alles auf sich nehmen wird – und ihr damit die Gelegenheit gibt, sich mit dem ultimativen Opfer der Selbsttötung zu revanchieren. Fesselnd verdeutlicht Kornprobst das Zusammenstürzen dieser Illusion – und den Kampfgeist einer Frau, die nicht gewillt ist, zu kapitulieren.
Raphael Westermeier ist als Torvald der jung-dynamische Macher-Typ – der gerade deswegen in seinem Rollenbild gefangen ist. Was nicht ins forsche Selbstbild passt, wird ignoriert – vor allem die Tatsache, dass es seine Frau war, die in seiner gesundheitlichen Krise entschlossen handelte und Mut bewies.
Moralisch weiter als der selbstgerechte Torvald sind ausgerechnet die Gescheiterten: die desillusionierte Witwe Kristine Linde und der Erpresser Nils Krogstad, gleichermaßen geradlinig und präzise gezeichnet von Sabine Weithöner und Rolf Kindermann. Mit einem bitteren Lächeln gibt Gotthard Sinn den todkranken Arzt und Familienfreund Dr. Rank. Alle zusammen bieten ein dichtes, sprachlich hochpräzises, fast krimiartig spannendes Kammerspiel. Wie heutig doch Ibsen sein kann!
Reutlinger Nachrichten, 7. Dezember 2015
(von Kathrin Kipp)
Das LTT bringt Ibsens vorgestriges Frauenentwicklungshilfe-Drama "Nora" düster, kalt und kahlgeschlagen auf die Bühne. Hüseyin Michael Cirpici führt Regie. Und die Botschaft lautet: Gut sein bringt nichts.
Das LTT ist derzeit schwer auf Frauen-Befreiungstrip: In "Wie im Himmel" testen die Figuren noch die Kraft der Musik, in "Arsen und Spitzenhäubchen" schon die Wirksamkeit von Gift. Und in Ibsens "Ein Puppenheim", so der Untertitel, geht die Titelfigur Nora den Weg der Spontan-Entpuppung. Sie verlässt Mann und Kinder. Was zur Zeit der Uraufführung 1879 noch spektakulär war, versetzt heute zumindest in Erstaunen: Warum verzichtet sie auf ihre Kinder?
Darauf bietet auch die LTT-Inszenierung keine Antwort. Da geht es vor allem darum, wie und warum jemand mirnixdirnix sein Leben und sich selbst radikal ändert und versucht, plötzlich aus sämtlichen Zwängen, Umständen, Bequemlichkeiten, aber auch Nervigkeiten auszubrechen. Jedenfalls schafft es Regisseur Hüseyin Michael Cirpici mit seinem "Nora"-Konzentrat, dass man sich einmal mehr mit dieser seltsamen Reizfigur auseinandersetzt. Und mit ihrem schrecklichen Umfeld. Das geschmeidig agierende Ensemble führt Figuren vor, die man als Zuschauer mal mehr, mal weniger nachvollziehen kann. Und über die man sich richtig aufregen kann, weil sie schön nervig, zwanghaft hilfsbereit, freundlich böse, krankhaft glücklich oder übelst gut sind. Fast wie im richtigen Leben also!
Dazu hat Cirpici das Stück auf 85 intensive Minuten zusammengeschnitten und in einen - bis auf ein trauriges Weihnachtsbäumchen - ebenfalls kahlgeschlagenen, düsteren, kühlen Bühnenraum (von Julia Scholz) hinein verfrachtet. Mit hohen dunklen Wänden und sieben psychedelisch beleuchteten Treppen, die unter großartigen Lichteffekten und technokratisch gruseliger Musik nach oben ins geheimnisvolle Unsichtbare führen.
(...)
Hin und wieder gönnt sich die Regie einen surrealen Psycho-Flash. Nora, gespielt von Jennifer Kornprobst, steht im Zentrum, Licht und Musik wirken entsprechend außerirdisch, alle andern kommen über-ich-mäßig bedrohlich die Treppen herunter und setzen die arme Nora gewaltig unter Druck.
(...) Jedenfalls bricht auf einen Schlag alles aus ihr heraus. Ihr spontaner Selbstbefreiungsakt findet bei Jennifer Kornprobst in einer interessanten Mischung aus Boxtanz und epileptischem Ausdrucks-Anfall statt.
Interessant zwiespältig ist auch das Nebenpärchen: Kreditgeber Krogstad hat seine Finanzgeschäfte früher ebenfalls eher unkonventionell getätigt und bekommt jetzt die Quittung dafür. Um den existenziellen Absturz zu verhindern, ist ihm jedes Mittel recht. Rolf Kindermann fährt als Krogstad die entsprechend harte Tour, wird aber trotzdem mit einer romantischen Geschichte belohnt, die er mit Noras Freundin Kristine (Sabine Weithöner) hat. Die ihrerseits wiederum alles für Nora entscheidet und regelt, weil sie von vornherein eher weiß, wo's langgeht. Der todgeweihte Dr. Rank (Gotthard Sinn) wiederum führt allen vor Augen: Das Leben ist kurz, mach' was draus. Aber was nur?